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Go beyond: Warum alles gut ist, auch wenn nichts gut ist 

 August 4, 2016

Mir ist übel und durch mein Gesichtsfeld schießen scharfe Blitze. Mein Nacken ist verkrampft, in meiner rechten Schädelseite tobt der Schmerz und in meinem Inneren ein erbitterter Kampf:

Warum hast du die Schokolade gegessen, obwohl du weißt, dass sie dir nicht gut tut? Warum hast du schon wieder zu wenig geschlafen, obwohl du weißt, dass Schlafmangel Migräne auslösen kann? Was bist du für eine unglaubwürdige Yogalehrerin, die ihren SchülerInnen Achtsamkeit predigt und dann so wenig auf sich selbst achtet? Und überhaupt: Wirst du niemals dazulernen? Schriller und schriller wird sie, die Polizistinnenstimme  in meinem Kopf. (1)

Doch plötzlich: tiefer Frieden.

Vor kurzem bin ich Mutter geworden. Auf eine Schwangerschaft voller Angst folgt eine komplikationsreiche Geburt. Beim Kreuzstich wird eine Membran geritzt, Rückenmarksflüssigkeit tritt aus, der Pfropfen Eigenblut, den die Ärzte mir einspritzen, um das Loch zu verschließen, geht wieder ab. Ich darf mich nicht aufsetzen, nicht aufstehen und habe rasende Kopfschmerzen. Und da ist das Neugeborene, das unentwegt schreit. Da ist die Tatsache, dass ich mitten in der Trennung von meinem Mann und meinen Stiefkindern stecke. Aus dem chronischen Schlafmangel wird eine chronische Schlafstörung, zur Schlafstörung gesellt sich eine Essstörung. Abend für Abend, wenn das Baby endlich schläft, stopfe ich abwechselnd Kekse und Kartoffelchips in mich hinein, um die Wogen aus Wut, Überforderung und Schuldgefühlen nicht spüren zu müssen, die über mich hereinbrechen. Und ich schäme mich so sehr. (2)

Doch plötzlich: tiefer Frieden.

Zwei Jahre später hat mein kleiner Sohn einen Fieberkrampf. Der Mann am Rettungstelefon rät mir, mich im Bad einzuschließen und die heiße Dusche laufen zu lassen, bis der Notarzt kommt, weil er einen Pseudokrupp-Anfall vermutet. Während der heiße Wasserdampf sich im winzigen Badezimmer ausbreitet, halte ich den spastisch verkrampften Körper meines bewusstlosen Kindes im Arm. Sein Hals ist überstreckt, aus dem offenen Mund dringt weißer Schleim. Durch den aufsteigenden Nebel begegne ich meinem eigenen Blick im Spiegel. Er sieht aus wie der eines in Panik geratenen Tieres und ist gleichzeitig völlig leer. Ich bin sicher, dass dies der Moment ist, in dem ich mein einziges Kinder verliere. (3)

Und plötzlich: tiefer Frieden.

Manchmal schubst das Leben uns ganz schön unsanft an jenen Ort, an dem es kein Richtig und Falsch mehr gibt. Manchmal katapultiert es uns mit roher Gewalt in jene Dimension, in der jede Bewertung sich auflöst. Manchmal müssen die Verzweiflung ganz groß oder der Selbsthass unerträglich werden, damit es endlich KLICK macht.

Doch dann gibt es nur noch diese tiefe Wissen: Es ist. Und darum ist es gut.

In Momenten wie diesen habe ich das Gefühl, dass das Leben mich umarmt und zärtlich auf die Stirn küsst.

Aber wir müssen nicht auf Extremsituationen warten, um diesen Ort aufzusuchen. Wir müssen nicht darauf warten, dass das Leben uns zwingt, eine höhere Perspektive einzunehmen.

Wir können diesen Schalter, dieses KLICK in unserem Inneren finden. Wir können den Weg zu diesem Ort mit Kieselsteinen auslegen oder mit bunten Luftballons markieren, damit wir immer wieder und immer schneller an ihn gelangen.

Vielleicht hattest du eine Mutter, einen Vater, eine große Schwester oder eine Kindergärtnerin, die dich in den Armen gewiegt hat, nachdem du dir das Knie aufgeschlagen hast, oder nachdem deine beste Freundin dich verraten hat oder nachdem dein Lieblingsohrring im Gully verschwunden war. Die dir über die Haare gestreichelt und zugeflüstert hat: Alles ist gut, alles ist gut, …

Ich hoffe es für dich. Denn irgendwann war dann dein Schluchzen verebbt und nach einem letzten tiefen Seufzer hast du gespürt: Ja, es stimmt. Hinter all dem Schmerz, unter all dem Zorn, zwischen all der Traurigkeit ist tatsächlich alles gut.

Vielleicht hast du diese Erfahrung aber nie gemacht. Das ist schade, aber kein Weltuntergang, denn du kannst sie nachholen. Nimm dich selbst in den Arm. Oder stell dir vor, wie die „große Mutter“ dich in ihren Armen hält und wiegt (ich nenne sie meine „big mama“, diese universale, weiche, vollbusige, warme kosmische Mutter, den Inbegriff von Geborgenheit und Liebe).

Wichtig!

Die Fähigkeit, diesen Ort bewusst aufzusuchen, hat NICHTS damit zu tun, die rosarote Brille aufzusetzen oder den Kopf in den Sand zu stecken! Es bedeutet NICHT, dumpf, träge oder abgestumpft zu werden angesichts all des Grausamen, das auf dieser Welt passiert. Es bedeutet auch NICHT, dass wir alles hinnehmen müssen oder nicht mehr kämpfen dürfen gegen Ungerechtigkeit und Zerstörung, oder dass du dich nicht entwickeln oder an dir arbeiten sollst.

Aber wahrer Frieden ist nur jenseits davon zu finden.

Wahrer Frieden bedeutet, dass du bewusst zwischen den Dimensionen – zwischen einer absoluten und einer relativen Sichtweise – wechseln kannst. Dass du jederzeit jenen Ort aufsuchen kannst, an dem alles in Ordnung ist, auch wenn nichts in Ordnung ist – weil es dort nämlich eine andere Art von Ordnung gibt, eine, die für unseren Verstand mit seinen Bewertungen nicht erfassbar ist.

Wahrer Frieden bedeutet, dass du entscheiden kannst, welche Perspektive gerade sinnvoll und angemessen ist, anstatt im Schmerz zu versinken oder dich lähmen zu lassen von all den beängstigenden Dinge, die rund um dich und in dir geschehen.

Ich behaupte sogar, dass NUR aus diesem inneren Frieden heraus echte Veränderung möglich ist.

Go beyond.

Go beyond fixing.

Finde den Ort in dir, an dem nur noch DAS zählt.

Und dann: Geh gestärkt wieder in die Welt hinaus! Kämpfe, wofür es sich zu kämpfen lohnt, arbeite an dir, mach die Welt zu einem besseren Planeten.

Become a peaceful warrior. Yeah!


Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.
~ Rumi

 

There is no suffer as an essence. 
~ Karmapa Thaye Dorje

 

Alles ist fantastisch, bloß weil es geschieht. (4)
~ Buddhistische Belehrung


(1) Durch die jahrelange Yoga-, Meditations- und Achtsamkeitspraxis sind meine Migräneanfälle seltener und leichter geworden. Und doch scheine ich sie noch zu brauchen. Wenn ich nämlich für ein paar Stunden – manchmal auch Tage – außer Gefecht gesetzt bin, fährt mein System völlig herunter. Shut down. Reset. Reboot. Danach bin ich jedes Mal ein neuer Mensch, und mein Gehirn ist irgendwie neu verdrahtet 🙂 

(2) Kurz darauf habe ich eine wunderbare Therapeutin gefunden, die mich liebevoll auf meinem Weg aus der Essstörung begleitet hat. Heute betrachte ich mich als geheilt, auch wenn ich nach wie vor oft die Tendenz verspüre, gegen Müdigkeit und Stress anzuessen, statt mir ausreichend Schlaf und Ruhe zu gönnen.

(3) Ein Fieberkrampf ist zum Glück nicht so lebensbedrohlich, wie er in der Akutsituation wirkt. Die Spätfolge können epileptische Anfälle sein, davon sind wir aber verschont geblieben, wofür ich dem Leben unendlich dankbar bin.  

(4) Es ist auch fantastisch, wenn einmal nichts geschieht. Das ist für mich persönlich besonders schwer zu akzeptieren 🙂

 

Foto: Shutterstock

 

 

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