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Folge der Stimme der Sehnsucht 

 April 30, 2020

Die Menschen rund um mich lachen und kreischen. Immer, wenn eine Fontäne aus Wasser auf sie spritzt, johlen sie synchron auf. Einige tragen billige Plastik-Regenanzüge.

Die Menschen rund um mich. Kinder und Erwachsene. Sie alle haben Spaß, während ich die Tränen kaum zurückhalten kann.

Fühlen sie nicht diesen Schmerz? Diesen Schmerz, den ich empfinde, während ich Zeugin eines zutiefst entwürdigenden und beschämenden Spektaktels bin?

Ich bin in einem Tierpark, obwohl ich Tierparks hasse.

Ich bin in einem Tierpark, weil es das ist, was Mütter zehnjähriger Söhne tun, wenn sie auf Urlaub sind: Sie gehen in Tierparks.

Die Tierparks, die ich aus Österreich kenne, sind anders. Es gibt nicht nur kleine Käfige, sondern auch große Gehege, Spazierwege und Luft zum Atmen. Immerhin.

Hier im Loro Parque auf Teneriffa treffe ich auf die künstlichste Welt, die ich je erlebt habe. Auf einem Förderband werden die Besucher*innen – ähnlich wie Lebensmittel an der Supermarktkassa – an Pinguinen vorbeimanövriert, die zu Hunderten unter grellem Neonlicht hinter einer Glaswand stehen und mit Kulleraugen auf die vorbeiziehenden Menschen blicken. In winzigen Becken vollführen Seehunde Kunststücke, zu denen Männer und Frauen in Neoprenanzügen sie animieren, während die Besucher gleichgültig klatschen.

Und irgendwann sitze ich bei der Wal-Show auf einer Plastikbank inmitten johlender Tourist*innen.

Schwarz-weiß schimmernde Tiere schwimmen in einem winzigen Pool und spritzen auf Kommando Wasser auf Menschen in seltsamen Plastikverpackungen.

Ich sitze auf meiner Bank und mir schnürt es das Herz zu. Mein Sohn sitzt neben mir und lacht. Ich will am liebsten davonlaufen – aber das ist nicht das, was Mütter tun, die glauben, ihren Kindern unvergessliche Urlaubserlebnisse schuldig zu sein.

Ich sehe eine Wal-Familie vor mir, die in den unendlichen Weiten des Ozeans majestätisch ihre Bahnen zieht. Wal-Gesänge klingen in meinen Ohren – und plötzlich BIN ich einer dieser Wale. Plötzlich bin ICH es, aus deren tiefstem Inneren ein Gesang auftaucht. Ein Gesang der Freude über die eigene Freiheit, über das pure Sein in meinem natürlichen Habitat, über mein wildes, ungezähmtes Wesen.

„Komm, wir gehen“, sage ich zu meinem Sohn, und er blickt mich ungläubig an.

 

Die Stimme der Sehnsucht

Viele Jahre meines Lebens habe ich in einem winzigen Pool verbracht, den ich für das Meer hielt. Die Stimme der Sehnsucht war zu leise, als dass ich sie hören hätte können. Nur manchmal, wenn ich am Abend über meine Physik-Bücher gebeugt am Schreibtisch saß, den Kopf hob und mein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickte, war da ein leises Wispern.

Schnell habe ich dann den Kopf wieder gesenkt.

Doch eines Tages begannen die Wände meines Pools zu beben, und das zuvor so stille Wasser bäumte sich zu hohen Wellen auf. Da wurde die Stimme lauter – und unüberhörbar.

Die nächsten zehn Jahre verbrachte ich damit, mir meine Nase an unsichtbaren Wänden blutig zu stoßen, Fluchtwege zu suchen, an Gitterstäben zu rütteln, alte Gefängnisse zu verlassen, nur um mich in neue zu begeben, neue Auswege zu finden und langsam, langsam mein verstummtes Lied wiederzuentdecken.

Personal growth is misleading,
because it sounds like it’s going to be fun
but if we called it ‚deliberately making yourself
so uncomfortable it’ll feel like you’re dying.‘
nobody would do it.

~ Emily McDowell

Ich dachte, ich sei die einzige mit einem Sehnsuchtslied im Herzen. Aber als ich begann, es zaghaft und leise zu singen,  tauchten rund um mich plötzlich andere Wale auf. Meine Familie hatte mich gehört. Und gefunden.

 

Ich schmecke Salzwasser

Ich bin ziemlich sicher, dass die Gewässer, in denen ich mich heute bewege, nicht das große, weite Meer sind. Aber ich schmecke Salzwasser. Ich rieche Freiheit und Unendlichkeit. Vielleicht schwimme ich in einem Fluss, der bald im Meer münden wird – oder noch nicht ganz so bald.

Ich gehe in keine Tierparks mehr. Ich glaube nicht mehr, dass ich meinem Sohn irgendetwas schuldig bin. Ich beginne langsam zu glauben, dass meine Wa(h)lfamilie mich tatsächlich so liebt, wie ich bin, und ich mich nicht verbiegen, totstellen oder als Goldfisch verkleiden muss, damit sie mich nicht wieder verlässt.

Sehr, sehr oft treffe ich den falschen Ton, und mein Lied klingt nicht authentisch, sondern verzerrt. Sehr, sehr oft will ich noch immer ein imaginäres Publikum für mich gewinnen und im richtigen Moment zum Lachen bringen, damit es nicht das Gefühl hat, die Show wäre den Eintrittspreis nicht wert. Das macht mich unglücklich und manchmal auch verzweifelt.

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

~ Rainer Maria Rilke

Noch viele Jahrtausende lang werde ich meine Kreise ziehen und nicht wissen, wer ich wirklich bin.

Aber ich weiß, dass jeder Kreis, der sich öffnet und schließt, in sich vollkommen ist, auch wenn ich den letzten nie vollbringen werde. Ich weiß, dass mein Gesang, mit jedem falschen Ton, mit jedem Zittern in der Stimme und jedem Schluchzen, das aus dem Ozean meiner Trauer über das ungelebte Leben an die Oberfläche steigt, zu einer großen Symphonie gehört.  Und ich weiß, dass ich Teil des einen großen Liedes bin – jenes Liedes, das sich selbst aus der Leere erschaffen hat und hineinklingen wird in die Ewigkeit.

  • Liebe Laya,
    Danke für dieses Goldstück!
    Ich hab mich so wieder erkannt in deiner Beschreibung des Tierparkgefühls!
    Vor einem Jahr habe ich ernsthaft überlegt einen Disneyland Urlaub für meine Tochter und mich zu planen (nichts für ungut: Jeder, der dies genießen mag, soll sich frei fühlen! Aber für mich ist dies einer dieser schrecklichen Orte, wo es mir schier den Hals zuschnürt, wenn ich nur daran denke.) Es wäre auch „nur“ aus dem Gefühl heraus gewesen ihr so etwas zu schulden, eine unvergessliche Zauberwelt.
    Stattdessen hab ich mich Gott sei Dank dagegen entschieden, weil meine innere Stimme ganz genau weiß, dass ich ihr eigentlich etwas anderes mitgeben möchte, nämlich das große weite Meer… und sei es in Form des Attersees 🙂

  • Und zuschchch! wieder mal mitten in´s Herz getroffen, wieder einmal sitze ich hier und füge meinem Sonntags-Müsli eine kleine Prise Tränensalz hinzu. Vielleicht die entscheidende Prise Salz, die dafür sorgt, dass das Leben rund schmeckt…
    Danke!

  • Liebste Laya, deine Worte berühren mich bis tief in den dunkelsten Winkel meines Herzens. Einerseits weil mich die Traurigkeit auch immer packt, wenn Menschen Tiere in viel zu enge Lebensräume stecken. Deshalb waren meine Kinder auch selten in Tierparks und nie in einem Zirkus.
    Aber andererseits auch, weil wir uns so oft selber in diesen viel zu engen Käfigen halten. Vielleicht, weil wir es nicht anders gelernt haben, vielleicht, weil wir Angst haben davor, uns zu verlaufen, wenn alles so groß und mächtig ist.
    Aber mein leises Lied, das Lied meiner Sehnsucht, nehme ich auch immer mehr wahr und versuche zumindest, mich immer mehr in diese Richtung zu bewegen, wo mein Lied lauter werden kann.
    Und das auch dank dir
    Dank dir und vielen anderen wundervollen, starken Frauen
    Namaste
    Monika

  • Liebe Laya, dieser Beitrag hat mich tief berührt! Die Tänen fließen.
    Ich höre auch einen Gesang, einen Ruf in mir. Bei mir ist es der Wolf und der Wald der mich ruft.
    Diesen Kloß im Hals und Verzweiflung im Herzen,wenn ich im Tierpark und im Zoo war mit meinem Sohn ,kenne ich nur zu gut! Aber mein Sohn hat wohl auch tief in die Seele der Tiere blicken können, und kann es immer noch. Er stand vor einem Affengehege und war ganz verzweifelt: der Affe weint, der Affe weint. Er wollte nur weg. Da war er sieben Jahre alt. Er hat bis heute keinen Zoo oder Tierpark mehr betreten. Er ist jetzt achtunddreißig. Der Affe ist uns in seinem Gefängnis , so weit es möglich war, hinterher gegangen.
    Es ist so schön zu wissen dass es noch andere Menschen gibt, die eine alte, animalische Seele haben. Und die den Ruf ihrer Herde oder ihres Rudels noch hören. Ich war seit diesem Erlebnis auch nicht mehr in einem dieser fragwürdigen Einrichtungen.
    NAMASTE

  • Liebe Laya!!!

    Danke!!! Danke, dass du das genau so in Worte fasst, was ich fühle! Auch meine Augen füllten sich mit erleichternden Tränen des Mitgefühls für alle Wesen.

    Kennt ihr das Video des Delphins in einem italienischen Hafen, das kurz nach dem Corona-Lockdown aufgenommen wurde? Ich habe so geweint, als ich es gesehen habe!

    Was wird den Tieren sogar in ihrem eigenen freien Lebensraum angetan? Wie versöhnlich sie sind! Wie sehr wird ihre Gutmütigkeit und Unbefangenheit wieder enttäuscht werden, wenn die Krise vorbei ist?

    Wir haben letztes Jahr ein heruntergefallenes Vogelnest gefunden, in dem ein Plastiknetz verarbeitet wurde. Der Anblick hat mir einen Stich ins Herz versetzt.

    Es tut mir so weh, dass das Milieu der natürlichen Freiheit, der natürlichen Kreisläufe, unser Nährmedium in dem wir uns entwickeln so schlecht geworden ist.

    Ich hoffen so sehr, dass jede Stein, den wir aus unseren Mauern brechen, jeder Käfig der geöffnet wird, jeder Schleier, der gelüftet wird, dazu beiträgt, dass die Luft wieder zirkulieren kann, die Intuition wieder wirken kann und jedes Wesen seiner wahren Bestimmung folgen darf und damit auch in Frieden ist!

    Alles Liebe!!
    Lis Beth

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