… oder wie ich im Land der Plastiksteine meine Freiheit wiederfand.
Welcher Teufel hat mich geritten? Welche Tarantel mich gestochen? Welcher Vampir mich gebissen? Es ist kalt. Es ist nass. Es ist absurd. Das Schlimme daran: Ich habe diese Hölle selbst gewählt. Das Gute daran: Ich kann mich jederzeit selbst daraus befreien.
Okay, ich befinde mich nicht mitten in einer Naturkatastrophe oder einer Flugzeugentführung. Aber immerhin: Ich stehe mitten im Legoland. Ich habe einen unverschämt hohen Eintrittspreis dafür bezahlt, hier zu unverschämt hohen Preisen Pizza und Cola zu konsumieren und Plastikspielzeug zu kaufen. In meiner naiven Vorstellung war das Legoland ein gemütlicher Spielplatz, auf dem glückliche Kinder mit glücklichen Eltern gemeinsam Kunstwerke bauen.
Niemand hat mich gezwungen, hier her zu fahren. Es hat mich nicht einmal jemand darum gebeten. Ich habe nur deshalb die vierstündige Zugfahrt angetreten, weil ich glaubte, mit meinem Sohn, der schon fast kein Kind mehr ist, einmal etwas Normales unternehmen zu sollen. Etwas, was andere Eltern auch unternehmen. Schon nach wenigen Minuten im Land der Plastiksteine wird mir klar: Das einzige Normale hier bin ich.
Da stehe ich nun also am kältesten Tag, zu dem dieser April fähig ist, und beobachte, wie das Willhaben in den Augen meines Sohnes immer größer wird, nur um schließlich der Enttäuschung darüber zu weichen, dass er nicht alles haben kann. Ich beobachte die Menschen um mich herum, die bereitwillig horrende Eintrittspreise für’s Zahlen bezahlen. Ich bin entrüstet. Ich bin empört. Ich weiß nicht, ob ich schreien oder weinen soll. Sicherheitshalber entscheide ich mich für’s Lachen.
Vor langer Zeit habe ich beschlossen, mich über alles zu freuen, was das Leben mir bringt, und über alles, worüber ich mich nicht freuen kann, zumindest zu lachen. Ja, man kann auch über Schmerzen lachen. Über Enttäuschung. Über Ungerechtigkeit. Über Verzweiflung. Nicht zynisch, sondern liebevoll.
Da alles weiter nichts ist, als es ist, kann man ruhig in Gelächter ausbrechen.
Von welchem Zen-Meister dieses Zitat stammt, weiß ich nicht mehr. Mein Freund A. jedenfalls, der mit dem „Gelächter“ nichts anzufangen wusste, hat es so umformuliert:
Da alles weiter nichts ist, als es ist, kann man ruhig befreit lachen.
Nichts, worüber man lachen kann, kann wirklich schlimm sein.
Und was ist schon wirklich schlimm? Bei eisigem Wind im Legoland zu stehen sicher nicht. Also stelle ich mir die altbewährte Frage: Wofür ist das die Gelegenheit?
Mein mütterlicher Pflichtausflug in eine Welt, die für andere scheinbar ganz normal, für mich aber die Hölle ist, ist eine wunderbare Gelegenheit, um
1) mich daran zu erinnern, dass Schuldgefühle und Pflichtbewusstsein NIEMALS zu liebevollen Handlungen führen. Dass ich niemandem zuliebe etwas tun muss, das sich für mich nicht richtig anfühlt. Nicht einmal meinem Kind zuliebe Schon gar nicht meinem Kind zuliebe. Schließlich soll es von mir lernen. Ich denke an eine Frage, die mir meine kluge Freundin D. vor einigen Jahren gestellt hat: „Can you believe that what is good for you, will be absolutely right for others, too?“ YES, I CAN. Manchmal eben erst im zweiten Anlauf.
2) Achtsamkeit zu praktizieren. Ich lenke meine Wahrnehmung auf meinen Körper. Ich spüre Ärger, Wut und Enttäuschung in meinem Inneren auf- und abwogen und beobachte diese Gefühle so lange, bis sich die stärksten Wogen geglättet haben. Ich versuche, achtsam zu handeln. Ja, man kann achtsam Pizza essen, jeden Bissen bewusst wahrnehmen, ausführlich kauen, dazwischen das Besteck niederlegen … , auch wenn die Pizza so schmeckt, wie es sich für Plastikland gehört. Auch wenn schon drei andere Familien ungeduldig auf unseren Tisch warten. Auch wenn geistlose Musik aus allen Lautsprechern dröhnt. Achtsamkeit geht immer. Und ich gehe davon aus, dass ich nur vor Aufgaben gestellt werde, denen ich auch gewachsen bin.
3) zu wählen. „I’m not playing that game„, sagt Leo Babauta. Er meint damit: Auch wenn alle andere es tun – ICH muss nicht glauben, dass das neue IPhone mich zufriedener, dass Unterwäsche von Victoria’s Secret mich sexier oder die neueste Diät mich schlanker machen wird. Thanks, Leo.
Read my lips, LEGO Group:
Auch wenn alle anderen sich weismachen lassen, dass Konsumieren im Plastiksteineland Kinder glücklich macht: I’M NOT PLAYING THAT GAME!
4) das Beste daraus zu machen. Wir nehmen die Beine in die Hand, ein Taxi zum Bahnhof und den Zug zum Hotel. Plötzlich gibt es nichts mehr zu tun. Plötzlich haben mein Sohn und ich das, was uns im Alltag am Allermeisten fehlt: Zeit. Und wir haben einen … Fernseher!!! (*) Den Rest des Tages verbringen wir damit, Schokokekse zu essen und Serien zu schauen. Mein Sohn kugelt glücklich am Hotelbett herum. „Mit dir alleine zu verreisen ist das Allerschönste“, ruft er, und meint es ernst. Ich bin gerührt. Danke, Legoland!
(*) Vor einiger Zeit kam ein Freund meines Sohnes zu Besuch. Er inspizierte jedes Zimmer unserer Wohnung, um mich dann mit entgeisterter Stimme zu fragen: „Habt ihr WIRKLICH keinen Fernseher?“ Haben wir nicht. I’m not playing that game …
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love it, baby!
schuldbewusstsein und pflichtgefühl führen niemals zu liebevollen handlungen.
vow. so hab ich das noch nie gesehen, diesen gedanken hab ich noch nie gedacht. darüber werde ich jetzt mal lang und gründlich nachspüren…
danke.
glg jaya
wunderbar soooo wunderbar ohhh einfach wie Butter deine Worte und Gedanken 🙂