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Erzähl mir von dir 

 Jänner 21, 2017

Ein alter Indianer erzählte mir einmal die Geschichte eines kleines Mädchens, das von einer Biene in den Finger gestochen worden war. Das Mädchen weinte und lief von Mensch zu Mensch, hielt jedem ihren kleinen Finger hin und erzählte von dem Bienenstich. Mit jedem Mal Erzählen tat es ein bisschen weniger weh. Irgendwann hatte das Mädchen dann genug. Es vergaß den Bienenstich und hüpfte wieder fröhlich über die Wiese.

Statt den Schmerz in sich selbst zu vergraben, hatte das Mädchen ihn einfach mit-geteilt, und sich damit Stück für Stück geheilt.

Was der alte Indianer mit dieser kleinen Geschichte sagen wollte: Wir brauchen einander. Anderen mit-zu-teilen, wie es uns wirklich geht, ist ein Schritt zur Heilung. Anderen zuzuhören und An-teil zu nehmen, ist ein Schritt zu mehr Ganzheit und Verbundenheit.

Aber, höre ich dich jetzt einwenden, ich will doch nicht jemand anderem meine Sorgen aufhalsen! Andere Menschen als Müllkippe für meinen Seelenschrott missbrauchen, ihnen die Ohren volljammern und sie mit meinen Geschichten „runterziehen“!

Sollst du auch nicht. Du sollst einfach nur erzählen, wie es dir geht. Ohne Maske, ohne Show, ohne Gejammer, ohne Drama.

Als mein Sohn gerade geboren war, steckte ich in einer tiefen Krise. Geburtskomplikationen, Scheidung, Trennung von meinen Stiefkindern, Essstörung, ständig Infekte und was weiß ich noch alles. Es hat mehr als zwei Jahre gedauert, bis ich jemandem – einer Therapeutin – erzählt habe, wie es mir wirklich ging, und noch viel länger, bis ich begonnen habe, auch anderen Menschen gegenüber meine Masken abzulegen. Bis ich zugeben konnte, dass ich überfordert war, dass ich nicht Superwomanpowerfrau war, die alles schafft und auf die Reihe kriegt. Dass ich mein Muttersein nicht als pure Glückseligkeit empfand, sondern von Schuldgefühlen zerfressen und durch den chronischen Schlafmangel zum Nervenbündel mutiert war. Ich schämte mich und wollte alles mit mir allein ausmachen.

Heute weiß ich, dass ich nur dann seelisch gesund bleiben kann, wenn ich mich öffne und zeige. Wenn ich ausdrücke und teile, was mich bewegt. Und genau das tue ich. Immer öfter, immer mutiger und immer aufrichtiger.

Auf diese Weise bin ich auch zu einer guten Zuhörerin geworden. Ich bin zwar absolut allergisch auf Blabla und seichte Geschichten, ich habe null Geduld für Gejammer und Geraunze. Aber wenn jemand mir wirklich von sich erzählt, davon, wie es ihm geht, was ihn beschäftigt, was ihm Sorgen bereitet, Kummer macht oder auch zutiefst berührt oder erfreut, dann ist das ein riesiges Geschenk für mich.

 

Warum fällt es uns so schwer, zu erzählen, wie es uns wirklich geht?

 

Weil wir Angst haben, unser Gesicht zu verlieren.

Ich verrate dir ein Geheimnis: Du KANNST dein Gesicht gar nicht verlieren. Alles, was du verlieren kannst, ist eine Maske.

Bitte versteh mich nicht falsch: Es gibt Situationen, in denen es gesund und sinnvoll ist, eine Maske aufzusetzen. Ich würde dir nicht raten, mitten in einem Bewerbungsgespräch deine tiefsten Gefühle zu offenbaren. Und es gibt durchaus auch Menschen, die mit dem, was man ihnen anvertraut, unachtsam umgehen, die nicht vertrauenswürdig sind oder dich womöglich sogar ausnutzen oder manipulieren wollen. Vor solchen Menschen solltest du dich hüten. Vor solchen Menschen musst du dich schützen.

Aber der einzige Weg, authentisch und frei zu werden und in all deiner vollkommen unvollkommenen Schönheit und Menschlichkeit aufzublühen, ist, deine Masken abzulegen und ECHT zu werden. Aufrichtig mit dir selbst, ehrlich zu anderen. Nur so können wir einander wirklich begegnen. Von Herz zu Herz, von Mensch zu Mensch.

Erforsche: Wer sind die Menschen, die dir wirklich zuhören? Denen du von dir erzählen kannst, ohne dass sie dir sofort ihre eigenen Ideen, Konzepte und Lösungen überstülpen wollen? Menschen, die nicht sofort zu ihren eigenen Geschichten übergehen, und die dich nicht bemitleiden, weil sie wissen, dass ihr Zuhören und ihr Mitgefühl ausreichen?

 

Weil wir nicht jammern wollen.

Jammern sucht immer nach Schuldigen. Jammern verliert sich in Endlosschleifen. Jammern macht dich zum Opfer.

Von dir zu erzählen ist etwas ganz anderes.

Ich bin wütend. Ich habe Angst. Ich fühle mich einsam. Ich empfinde Traurigkeit.

Spürst du den Unterschied? Spürst, du, wie sich diese Gefühle selbst befreien, alleine dadurch, dass sie ausgedrückt werden, ohne Wertung und Urteil, ohne Scham und Schönreden?

Außerdem wollen wir ja immer schön positiv bleiben.  Wenn wir gebetsmühlenartig wiederholen, dass es uns gut geht, dann wird es uns vielleicht irgendwann wirklich gut gehen. Und es stimmt schon: Worte schaffen Wirklichkeit.

Aber Gefühle sind da, ob wir sie nun haben wollen oder nicht. Der Wut in deinem Bauch und dem Kummer in deinem Herzen ist es völlig egal, dass dein Kopf Gute-Laune-Affirmationen vor sich hinbrabbelt. Die Wut, der Kummer, die Sorgen, die Ängste – sie alle wohlen gesehen werden. Sie wollen nicht unterteilt werden in gut und schlecht, positiv und negativ. Sie wollen wahrgenommen werden. Und ausgedrückt.

Und du wirst merken: Je früher und ehrlicher du deine Gefühle beachtest, annimmst und mit-teilst, desto schneller lösen sie sich auf.

 

Weil wir niemanden belasten wollen.

Und das ist auch gut so.

Natürlich, es gibt sie, die notorischen Energievampire, die ungefragt jedem, der ihnen über den Weg läuft, ihre Geschichten erzählen. Es gibt sie, diese Menschen, von denen etwas Toxisches ausgeht, etwas Saugendes, etwas Ungesundes.

Aber ehrlich: Ich habe mich noch niemals davon belastet gefühlt, dass jemand mir erzählt hat, wie es ihm wirklich geht. Mich belastet, wenn jemand mir Zeit und Energie mit Belanglosigkeiten, Allgemeinplätzen und Blabla raubt. Mich belastet, wenn jemand mir weismachen will, dass es ihm gut geht, während ich genau spüre, dass unter der Oberfläche Sorgen, Verzweiflung und Ärger brodeln.  Mich belastet, zu glauben, dass ich die Probleme anderer Menschen lösen müsste, weil sie es selbst nicht können.

Aber seit mir bewusst ist, dass ich niemals wissen kann, was für jemand anderen gut und richtig ist, seit mir bewusst ist, dass jedes Problem seine Lösung in sich trägt und jeder Mensch fähig ist, diese Lösung selbst zu finden, kann mich nichts mehr „hinunterziehen“ – schon gar nicht, dass jemand sich öffnet und etwas Kostbares von sich preisgibt. 

Deshalb: Erzähl mir von dir. Ungeschminkt, aufrichtig, ehrlich. Es ist ein Geschenk – für dich und für mich.

An dieser Stelle möchte ich noch zwei Texte mit dir teilen. Einen – ziemlich bekannten – von Oriah Mountain Dreamer, und einen – weniger bekannten – von Anaïs Nin. Ich lade dich ein: Lass dich im Herzen von ihnen berühren!

Die Einladung

Es interessiert mich nicht, wie du dein Geld verdienst.
Ich will wissen, wonach du dich sehnst, und ob du es wagst davon zu träumen, der Sehnsucht deines Herzens zu begegnen.

Es interessiert mich nicht, wie alt du bist.
Ich will wissen, ob du es riskierst, dich für die Liebe lächerlich zu machen, für deine Träume, für das Abenteuer, lebendig zu sein.

Es interessiert mich nicht, welche Planeten im Quadrat zu deinem Mond stehen.
Ich will wissen, ob du den Kern deines Leidens berührt hast, ob du durch die Enttäuschungen des Lebens geöffnet worden bist, oder zusammengezogen und verschlossen, aus Angst vor weiterem Schmerz.

Ich will wissen, ob du im Schmerz stehen kannst, meinem oder deinem eigenen, ohne etwas zu tun, um ihn zu verstecken, ihn zu verkleinern, oder ihn in Ordnung zu bringen.

Ich will wissen, ob du mit Freude sein kannst, meiner oder deiner eigenen,
ob du mit Wildheit tanzen und dich von Ekstase füllen lassen kannst bis in die Spitzen deiner Finger und Zehen, ohne uns zu ermahnen, vorsichtiger zu sein, realistischer zu sein, oder an die Beschränkungen des Menschseins zu erinnern.

Es interessiert mich nicht, ob die Geschichte, die du mir erzählt hast, wahr ist.
Ich will wissen, ob du einen anderen enttäuschen kannst, um dir selber treu zu bleiben. Ob du den Vorwurf des Verrats ertragen kannst und nicht deine eigene Seele verrätst.

Ich will wissen, ob du die Schönheit sehen kannst, auch wenn es nicht jeden Tag schön ist,
und ob du dein Leben aus SEINER Gegenwart entspringen lassen kannst.

Ich will wissen, ob du mit Versagen leben kannst, deinem und meinem, und trotzdem am Ufer eines Sees stehen kannst, um zum silbernen Vollmond zu rufen: „Ja“.

Es interessiert mich nicht zu wissen, wo du lebst, und wieviel Geld du hast.
Ich will wissen, ob du nach einer Nacht der Trauer und Verzweiflung aufstehen kannst, müde und zerschlagen, um dich um deine Kinder zu kümmern.

Es interessiert mich nicht zu wissen, wer du bist, und wie es kommt, dass du hier bist.
Ich will wissen, ob du in der Mitte des Feuers mit mir stehst, ohne zurückzuweichen.

Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem du studiert hast.
Ich will wissen, was dich von innen trägt, wenn alles andere wegfällt.
Ich will wissen, ob du alleine mit dir sein kannst, und ob du deine Gesellschaft in den leeren Momenten wirklich magst.

 ~ Oriah Mountain Dreamer

 

 

Es war genau das geschehen, was Ira Progroff in einer Methapher ausdrückt: Wir müssen in einen Brunnen hinabsteigen und tiefer und tiefer graben, um die tiefsten Schichten unseres Selbst zu finden. Denn wenn wir tief genug graben, sagt er, erreichen wir das Wasser, das alle sich teilen, das universale Wasser, das kollektive Unbewusste. Wir erreichen die Flüsse, die die Brunnen speisen. Es gibt eine Beziehung in den Tiefen, eine Art von Beziehung, die man niemals erreicht, wenn man mit anderen oberflächlich verkehrt. Darum war es mein Wunsch, mein tiefstes Selbst zu finden, mein echtes Selbst, das die Verantwortung trug.

Auch R.D. Laing beschrieb das, als er sagte, dass wir nur echte Begegnungen haben können, wenn wir unaufhörlich übernommenes Verhalten abstreifen, das, was uns beigebracht worden ist, die Rolle, die wir uns als Persönlichkeit zugelegt haben, das falsche Gesicht, das wir der Welt zeigen in dem Bemühen, uns selbst zu schützen. Um uns vor Leid zu schützen, bauen wir eine Festung, und in dieser Festung verwelken wir und sterben; wir sterben vor Einsamkeit […]. Indem wir uns schützen wollen, begraben wir uns oft. […]

So entdeckte ich, dass das ganze Geheimnis der menschlichen Beziehungen darin besteht, dass man sein tiefstes Selbst offenbart, denn nur dann wir einem das tiefste Selbst der anderen gegeben.

~ Anaïs Nin

  • Liebe Laya!
    Ich denke auch oft: „Ich will den anderen nicht zur Last fallen und selbst ein Energievampir sein“. Auf der anderen Seite steckt in mir auch so ein kleines Indianermädchen und es tut so unendlich gut sein Herz auszuschütten. Diese kleine Geschichte hat mir einen neuen Blickwinkel eröffnet und ich kann zu deinen Gedanken im Artikel nur sagen ja, ja, ja, genau, so empfinde ich das auch.
    Wie du es jedesmal so wunderschön und auf den Punkt in Worte fassen kannst, bewundere ich an dir.
    Mit der Frühgeburt meiner Zwillinge haben mich Verzweiflung, Wut, Panikattacken und Depression im Griff gehabt. Schritt für Schritt bin ich in meine Aufgabe reingewachsen und werde es wohl weiter tun ;-).Ich lerne immer mehr zu vertrauen und die schönen Gefühle und Momente zu genießen. Alltagshilfe anzunehmen war und ist für mich eine große Herausforderung. Mittlerweile schätze ich meine Haushaltshilfe die zum Putzen kommt und finde es toll wenn Oma und Opa sich um meine 2 Sternchen liebevoll kümmern, während ich, ohne schlechtes Gewissen, in der Yogalounge bin 🙂
    Alles Liebe, Karin

    • Liebes Indianermädchen 🙂
      Danke für deine Offenheit!
      Gerade junge Mütter sind oft unter Druck. Statt im Mutterglück aufzugehen, landen sie nach der Geburt oft erstmal in einem tiefen schwarzen Loch, und dann kommen womöglich noch Schuldgefühle dazu … wo man doch so dankbar und glücklich sein sollte! Da ist es dann schon verdammt schwierig, sich zu öffnen und zuzugeben, dass nicht immer alles rosig und schön ist.
      Ich freue mich mit dir, dass du gelernt hast, Hilfe anzunehmen. Das macht alles um sooo viel leichter! Ich wüsste gar nicht, was ich ohne meine gute Reinigungsfee tun würde 🙂
      Herzlich
      Laya

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