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Ist Selbstverwirklichung egoistisch? 

 September 15, 2018

 

Om Namah Shivaya. Jeden Tag dasselbe Mantra, fünf Tage lang. An Tag 1 und 2 liebe ich es, an Tag 3 nervt es mich, an Tag 4 hasse ich es, und an Tag 5 liebe ich es wieder.

Unter den 40 SeminarteilnehmerInnen sind NeurologInnen, PsychotherapeutInnen, UnternehmensberaterInnen, KünstlerInnen, und erfolgreiche Wirtschaftstreibende.  Hochkarätige Persönlichkeiten und wertvolle Mitglieder der Gesellschaft igeln sich fünf Tage lang in einem Retreat-Zentrum ein, um seelische Nabelschau zu betreiben. Fünf PsychologInnen begleiten diesen Prozess.

Was für eine Verschwendung.

Was könnten diese 45 Menschen in diesen fünf Tagen alles Gutes bewirken auf dieser Welt? Wie viele Kinder in Afrika könnten ihr Augenlicht wiedergeschenkt bekommen von dem Geld, das bei diesem Seminar umgesetzt wird?

Was für eine Verschwendung.

Während meiner ersten Atem-Session schreie ich meine kindliche Wut auf meine Eltern heraus. Das fühlt sich für einen Moment befreiend an – aber das gute Gefühl verraucht im Nu wieder.

Ist es nicht Zeit, meine Kindheits- und Familienthemen endlich hinter mir zu lassen? Könnte ich meine Zeit nicht viel besser nutzen und Gutes tun, statt wieder und wieder in längst vergangenen Geschichten zu wühlen?

Was für eine Verschwendung.

Während der zweiten Atem-Session schreie ich nicht mehr. Ich erlebe einen inneren Frieden, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Ich erkenne, dass kein Leiden jemals Substanz hat. Ich erlebe grundlose Glückseligkeit. Mein Seminar-Buddy, der neben mir sitzt und auf mich aufpasst, verwandelt sich vor meinem geistigen Auge in den Tod, und ich erkenne, dass der Tod mein Freund ist, mein Liebhaber, mein Gefährte, in dessen Arme ich fallen werde, wenn auch der letzte Tropfen Lebenskraft meinen Organismus verlassen hat.

Die Glückseligkeit hält mehrere Tage an. Und auch das Wissen um die Liebe, die ALLES ist.

Vielleicht doch keine Verschwendung?

Der letzte Seminartag. Gelöste, weiche, friedliche Gesichter, ein Strahlen, ein Leuchten. Menschen, die einander innig umarmen, Menschen, die zurück in ihr Leben gehen und unendlich viel Heilung und Liebe mitnehmen zu ihren Kindern und PartnerInnen, zu ihren KollegInnen und KlientInnen.

Vielleicht doch keine Verschwendung?

Die Erfahrungen vom Holotropen Atmen erinnern mich auch heute – sechs Jahre später – noch daran, dass es Liebe ist, die das Universum zusammenhält. Oft, wenn ich mich alles andere als grundlos glückselig fühle, hole ich mir diese Erinnerung zurück und weiß wieder, dass Freude mein natürlicher Zustand ist,  auch wenn ich es in diesem Moment nicht  spüren kann.

 „Die Wandlung der Gesellschaft ist nicht so wichtig; sie wird sich natürlich und zwangsläufig ergeben, wenn der Mensch die innere Wandlung vollzogen hat.“
~ Jiddu Krishnamurti

 

Obwohl ich weiß, dass die Zeit, die ich meiner inneren Wandlung widme, auch der Wandlung der Gesellschaft zugute kommt, taucht bei jedem Seminar, bei jedem Retreat und bei jeder Ausbildung, die ich besuche, unweigerlich ein Moment des Zweifels auf.

Denn während ich in einem gut geheizten Seminarraum sitze, mich von Räucherstäbchenduft umwabern lasse und nichts anderes zu tun habe als zu schweigen und zu meditieren, stehen andere Menschen im Novembernieselregen auf zugigen Bahnsteigen und nehmen Flüchtlinge in Empfang. Oder sie fliegen als Ärzte ohne Grenzen nach Afrika. Oder sie backen wenigstens Muffins für ihre eigenen Kinder. Oder pflanzen Apfelbäume. Oder retten Regenwürmer.

 

Ist Selbstverwirklichung egoistisch? Kommt ganz darauf an.

 

# 1 Was bedeutet Selbstverwirklichung überhaupt?

Bei Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung geht es nicht um das „kleine Selbst“, sondern um das „höhere Selbst“. DAS gilt es zu erkennen, und nicht das, was wir für unsere Identität halten, für unseren Charakter, unsere Persönlichkeit. Und wenn wir unser höheres Selbst erkennen, verwirklicht sich das kleine Selbst ganz von selbst ?

„Die Welt zu verändern ist nicht dein Auftrag.

Dich selbst zu ändern ist nicht deine Aufgabe.

Zu deiner wahren Natur zu erwachen ist deine Möglichkeit.“ 

~ Mooji

 

Um unser höheres Selbst zu erkennen, müssen wir uns immer wieder aus unserem gewohnten Umfeld herausnehmen. Denn dieses Umfeld betoniert unsere Persönlichkeit ein, es definiert unsere Rollen als Mütter, Partnerinnen, Berufstätige, Töchter, Ehrenamtliche, Sportskanonen, Couchpotatoes, …

Diese Identifkationen sind durchaus sinnvoll, damit wir gut durch unseren Alltag navigieren können. Sie können aber auch zu einem Gefängnis werden, ohne dass wir es merken.

Allein zu verreisen, eine Zeitlang zu schweigen, Seminare zu besuchen oder offline zu sein, hilft uns, diese Identifkationen zu erkennen und uns bewusst zu machen, wer wir jenseits von ihnen wirklich sind.

Bei Selbstverwirklichung geht es nicht um Entspannung oder Wellness. Die dürfen natürlich auch sein – aber die Suche nach uns selbst ist in Wahrheit die Suche nach unserem höheren Selbst und nach dem Auftrag, mit dem es uns in dieses Leben geschickt hat.

Diese Suche ist kein Luxus. Sie kann harte Arbeit, und sie kann verdammt schmerzhaft sein.

„Wahre Spiritualität ist eher ein Prozess des Verlierens, des Loslassens und Sterbens als einer des Hinzugewinnens und des Ansammelns. Manchmal müssen wir auf der Straße des Überflusses reisen, um zum Palast der Weisheit zu gelangen. Aber meistens führt dieser Weg zum Schrottplatz der Ablenkung und Selbstzerstörung.“
~ Abdi Assadi

 

2. Der Weg geht von innen nach außen

 

We can never obtain peace in the outer world

Until we make peace with ourselves.”

~ Dalai Lama

 

Solange wir noch hauptberuflich mit unseren inneren Dämonen und Schatten kämpfen; solange wir krampfhaft versuchen, falsche Identitäten aufrecht zu erhalten und unendlich viel Energie dafür aufbringen müssen, unsere Masken aufrechtzuerhalten; solange wir die Welt durch einen Schleier wahrnehmen, können wir nicht WIRKLICH für andere Menschen heilsam wirken.

Das bedeutet natürlich nicht, dass wir zuerst ALLES in uns selbst geheilt, gelöst und aufgeräumt haben müssen, bevor wir für andere da sein, sie unterstützen und zu ihrer Heilung beitragen können.

Aber ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis, innerer Sicherheit und Souveränität, ein Gefühl für das, was wirklich unsere Aufgaben ist, ein guter Draht zu unserer Intuition (der Stimme unseres höheren Selbst) ist schon notwendig, damit wir tun, was wirklich sinnvoll ist, statt blind durch die Gegend zu laufen und zu tun, was wir gewöhnt sind, was andere von uns erwarten oder was uns keine Angst macht.

„…denn wir verändern ja die Welt von unserem Herzen aus, will dieses nur neu und unermesslich sein, so ist sie sofort wie am Tage ihrer Schöpfung und unendlich.“
~ Rainer Maria Rilke

 

# 3 Kein Entweder-Oder

 

„Es ist eine heilige und anspruchsvolle Kunst, das Gleichgewicht zwischen äußeren und inneren Aufgaben zu halten.“
~ Olga Kharitidi

Sind wir zu sehr in den äußeren Aufgaben gefangen, so verlieren wir den Blick dafür, ob das, was wir tun, überhaupt in Einklang mit unserem Wesen, mit unserem Auftrag ist. Dann tun wir das, was wir tun, ohne VERBINDUNG zu uns selbst, und womöglich tun wir es unachtsam, lieblos und unbewusst.

Sind wir jedoch zu sehr mit seelischer Nabelschau beschäftigt, können wir uns in uns selbst beziehungsweise auf der Suche nach uns selbst verlieren.

Kein Zweifel: Es gibt Phasen, da stehen die inneren Aufgaben im Mittelpunkt, und es ist absolut notwendig, uns ihnen zu widmen, auch wenn die Frist für die Steuererklärung bedrohlich näherrückt oder die Wäscheberge sich bis an die Zimmerdecke türmen.

Doch die inneren Aufgaben werden wohl nie „fertig“ oder abgeschlossen sein. Wichtig ist, zu spüren, wann hier auch mal Pause angesagt ist, anstatt von einem Seminar zum anderen zu galoppieren oder tagein, tagaus spirituelle Videos und Bücher zu konsumieren.

Das Gleichgewicht zwischen inneren und äußeren Aufgaben ist nicht statisch, aber mit zunehmender Erfahrung wird es leichter, es immer wieder herzustellen. Und zum Glück gibt es ja auch noch die anderen! Vor allem Kinder sind großartig darin, uns auf die Erde zurückzuholen, wenn wir uns in höchste spirituelle Sphären geschwurbelt und darüber vergessen haben, dass es auch noch Wäsche zu waschen, Windeln zu wechseln oder Playmobilkisten aufzuräumen gibt.

 

# 4 Schatten auf dem Pfad

 

Ja, Selbstverwirklichung KANN zum Egotrip werden. Ja, wir KÖNNEN uns verirren.

Wir können uns vor der wahren Arbeit drücken, indem wir von Seminar zu Seminar, von Aufstellung zu Aufstellung, von Lehrer zu Lehrer laufen. Und wir können versuchen, unsere psychischen Probleme und unsere seelischen Verwundungen wegzumeditieren, weil wir den Schmerz nicht spüren wollen, der ihrer Lösung beziehungsweise Heilung vorangeht.

„Wenn man den spirituellen Weg als Verteidigungsmechanismus gegen Schmerz versteht, ohne die darunterliegenden psychologischen Probleme anzugehen, wird das immer zu einer tiefen seelischen Spaltung führen. […] Es ist ein immer noch weitverbreitetes Missverständnis, dass die spirituelle Arbeit auch die psychologische Arbeit gleich miterledigt. Das stimmt nicht. […] Der erwachte Zustand bietet zwar eine Veränderung des Standpunktes, verändert aber nicht die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit braucht ihre eigene Heilung.“
~ Abdi Assadi

Was sich als Weg nach Innen tarnt oder verführerisch nach innerem Frieden duftet, kann in Wirklichkeit eine Sackgasse sein, oder ein süßliches Parfum, das den Geruch von Fäulnis zu überdecken versucht. Das geht auf Dauer nicht gut. Statt unser „spirituelles Ego“ aufzuplustern, müssen wir die Ärmel hochkrempeln, durch den Schlamm waten und das Übel an der Wurzel ausreißen. Wir müssen  ganz bescheiden und akribisch aufräumen, aussortieren und uns mit den Mühen der Ebene und mit dem Abstieg in tiefe Täler anfreunden, die genauso zum Weg gehören wie spirituelle Gipfelerlebnisse.

 

# 5 Selbstverwirklichung ist nicht das Ende des Weges

 

„Es gibt keinen lähmenderen Irrtum als den, eine Zwischenstation für das Ziel zu halten, und an einem Rastplatz zu lange zu verweilen.“
~ Sri Autobindo

 

Selbstverwirklichung ist eine Zwischenstation, die wir nicht überspringen können. Wir sollten sie aber auch nicht für ein endgültiges Ziel halten.

Aber was kommt nach der Selbstverwirklichung? Ich vermute, so etwas wie Selbstvergessenheit oder Selbsttranszendenz. Wir alle haben solche Momente schon einmal erlebt – Momente, in denen wir völlig mit dem verschmelzen, was wir gerade tun, oder mit der Umgebung, in der wir uns gerade befinden. Es ist das Aufgehen in etwas Größerem, nach dem wir uns letztendlich sehnen, und vor dem wir gleichzeitig so viel Angst haben. Denn durch dieses Aufgehen lösen sich die Grenzen unseres Selbst auf, und es verschwindet. Dann gibt es nichts mehr, was verwirklicht werden müsste. Dann gibt es nur noch  Wirklichkeit.

 

„See,

Idiots do things that they don‘t like to do

They suffer for their whole life because they think

It’s needed or they think it’s their duty

 

Intelligent people do

What they love to do

They enjoy their life to some extent

 

But a genius lerns to do

What is needed

Joyfully

 

That’s when your genius flowers

Because it’s no more about you

 

Now there’s a limitless way

Of looking at life.”

~ Sadhguru

 

Big, wild, love

Laya

 

Buchtipp:

Abdi Assadi: Schatten auf dem Pfad. Wie uns die Suche nach Erleuchtung hinters Licht führen kann

  • Hallo Laya, ich lese schon lange deine, meistens zum richtigen Zeitpunkt (zumindest für mich) kommenden, hilfreichen Beiträge. Ich möchte dir mal „Danke“ dafür sagen. Danke für deine wunderbare Arbeit!!

  • Hallo Laya,
    deine Arbeit finde ich überhaupt nicht egoistisch. Wer sich selbst verwirklicht ist zufrieden, kann Liebe geben und andere ohne Neid inspirieren und motivieren, das auf die Beine zu stellen, was selbst glücklich macht. Meist finden wir Glück und Sinn in positiven Tätigkeiten (Schreiben, Helfen, Inspirieren, Lehren, Kunst, Körperarbeit). Damit nähren wir das Positive in der Welt und Reflektieren uns selbst und die Welt. Ich lese schon lange deine Blogeinträge und bin davon überzeugt, dass du Positives in die Welt aussendest und durch deine Ehrlichkeit zeigst du all das Menschliche Unvollkommene, das in dieser perfektionistischen Welt noch viel mehr Raum erhalten sollte.

    • Das ist eine sehr schöne Perspektive auf das Thema, liebe Katharina – danke dafür!
      Ja, es ist wahr – je offener und ehrlicher wir uns anderen zeigen, desto mehr bekommen auch andere die Erlaubnis, ihre menschliche Unvollkommenheit liebzugewinnen 😉
      Alles Liebe, Laya

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