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Ich lasse los, was ich liebe 

 Mai 30, 2020

Die Entscheidungen waren nur der Anfang von etwas.
Wenn man einen Entschluss gefasst hatte,
dann tauchte man damit in eine gewaltige Strömung,
die einen mit sich riss, zu einem Ort,
den man sich bei dem Entschluss niemals hätte träumen lassen. 
~ Paulo Coelho

Wer war ich damals?

Damals, vor sechs Jahren, als ich diesen Mietvertrag unterschrieb, dieses Yogastudio gründete? Welche Frau war ich, die, ohne zu wissen, was sie tat, in diese gewaltige Strömung eintauchte?

Wer bin ich heute?

Und wer werde ich sein, wenn ich abermals in eine gewaltige Strömung eintauche – in eine neue, andere? An welchen Ort, von dessen Existenz ich noch gar nichts ahne, wird sie mich tragen?

Die Entscheidung ist gefallen.

Nach wochenlangem Ringen, Hoffen, Bangen, Verhandeln, Hinspüren, Wissen und Zweifeln, und nachdem sich das Blatt hundert Mal gewendet hat, ist nun Klarheit da.

Dieser Ort, die Lounge, die so verwoben ist mit meinem Leben, wird bald nicht mehr existieren. All die Menschen, die jahrelang dort ein- und ausgegangen sind, die ein Teil meines Lebens waren – ich vermisse sie schon jetzt so schmerzlich, dass das Atmen mir schwerfällt, wenn ich daran denke.

War es Covid-19? Waren es das Verhalten unserer Vermieter, die Anwaltsbriefe, der Zynismus, die unsäglichen Machtspielchen, das finanzielle Risiko, das sich in ein Fass ohne Boden zu verwandeln drohte?

Oder ist es meine Seele, die mich nun an einen anderen Ort führen will? Sind es die Gezeiten meines Lebens, die den Wandel herbeigeführt haben? Ist es die zweite Lebenshälfte, die „Mach dich leicht, ich will nicht länger auf dich warten“ ruft?

Wenn ich loslasse, was ich bin,
werde ich, was ich sein könnte.

Wenn ich loslasse, was ich habe,
bekomme ich was ich brauche.
~ Laotse

 

Ich schreibe – wie immer, wenn ich mich nach Klarheit sehne.

„Was würde die Liebe tun?“, schreibe ich. „Liebe, was würdest du tun?“

„Aufhören“, antwortet die Liebe.

„Das meinst du nicht im Ernst“, schreibe ich.

„Doch. Und zwar ganz. Keine halben Sachen“, antwortet die Liebe.

Aber ich will es nicht hören.

 

Ich gehe in den Wald – wie immer, wenn mein Herz schwer ist.

„Du bist frei!“, klopft der Specht seine Botschaft in den Baumstamm.

„Du bist frei!“, schallt der Schrei des Falken in den blassen Morgenhimmel.

„Du bist frei, frei, frei!“, pocht mein Herz gegen mein Brustbein.

Aber ich will nicht frei sein.

Ich habe Angst.

 

Ich rufe meine vedische Astrologin an – wie immer, wenn ich spüre, dass Kräfte am Werk sind, die weit über meine Psyche hinausgehen.

„Was war dein erster Impuls?“, fragt sie. „Was sagt deine Intuition?“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich und beginne zu verhandeln. Argumentiere, gestikuliere, analysiere, wäge ab, rechne Plus- und Minuspunkte gegeneinander auf.

„Hör auf mit der mentalen Gymnastik“, sagt sie. „Du weißt es.“

Aber ich will es nicht wissen.

 

Jede Woche sehe ich uns vier auf meinem Bildschirm – das Lounge-Kleeblatt, meine drei Partnerinnen und mich. Noch nie waren wir uns so nahe wie während dieser Krise. Noch nie haben wir so sehr gemeinsam um etwas gekämpft.

Manchmal schweigen wir, sind fassungslos, ratlos, können es einfach nicht glauben.

Manchmal lachen wir – trotzdem.

Zum Abschluss jedes Meetings schicken wir uns Kusshände und winken wild in unsere Kameras.

Ich liebe diese Frauen.

Ich will sie nicht verlieren.

Es gibt drei große Lebensirrtümer:
Dass man so planen kann, dass das Leben endgültig sicher wird.
Dass man lieben kann, ohne dass einem das Herz gebrochen wird.
Und dass man sich selbst bleiben kann, ohne sich dauernd zu verändern.
~ David Whyte

 

Ich habe eine schmerzhafte Entzündung im Kiefer, die die Ärzte nicht operieren können, weil sie zu nah am Gesichtsnerv ist.

Ich habe Migräne.

Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Rückenschmerzen.

Ich kann nicht schlafen und mein Brustkorb ist eng.

Mein Liebster übernimmt das Kochen und das Einkaufen, richtet mein Homeoffice ein und versucht an meinem Seufzen abzulesen, wann er mich umarmen und wann er mich alleine lassen soll.

„Ich beneide dich nicht“, sagt er.

Ich lächle zaghaft.

„Eigentlich beneide ich dich nie.“

Ich muss lachen, denn ich weiß, was er meint.

Ich würde mich auch nicht beneiden an seiner Stelle.

Aber ich würde niemals tauschen wollen – nicht mit ihm, und auch nicht mit irgendeinem anderen Menschen auf der Welt.

 

Ich will niemanden enttäuschen. Nicht mein Team, nicht die Mieter*innen, nicht die Yogis und Yoginis. Ich will auf Biegen und Brechen weitermachen, koste es, was es wolle.

„Enttäusch MICH nicht“, sagt meine Seele.

Ich wünschte, jemand anderer würde für mich entscheiden. Ich wünschte, die Situation im Außen wäre so eindeutig, dass sich keine Fragen mehr stellen. Ich wünschte, das Leben würde mich nicht dazu zwingen, Gebrauch von meiner inneren Freiheit zu machen.

Aber diesen Gefallen tut es mir nicht, das Leben.

„Viele Wege sind möglich, und wir müssen entscheiden, welchen wir wählen. Nicht um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern um uns nicht zu verlieren“, schreibt meine Freundin Anna.

„Wenn du eine Tür zumachst, werden sich andere Türen öffnen, von denen du gar nicht wusstest, dass es sie gibt“, schreibt meine Freundin Barbara.

„Du musst den Sprung ins Vertrauen wagen“, schreibt meine Freundin Karin.

 

Ich will mich nicht verlieren.

Ich will mich wiedergewinnen.

Ich will wissen, was hinter diesen Türen steckt.

Ich will den Sprung ins Vertrauen wagen.

Ich habe Angst.

Aber ich springe.

Und lasse los, was ich liebe.

A true vocation calls us out beyond ourselves;
breaks our heart in the process
and then humbles, simplifies and enlightens us
about the hidden, core nature of the work
that enticed us in the first place.
~  David Whyte

 

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