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Achtsames Selbstmitgefühl: Der Weg zu einem Leben ohne Scham 

 Juni 8, 2019

Irgendetwas ist hier faul. Es ist 11:49 Uhr. Wir müssten schon in Florenz Santa Maria Novella sein.

Andererseits … die italienische Bahn, frau kennt das ja.  

Trotzdem – irgendetwas stimmt hier nicht. Hat die männliche italienische Stimme aus dem Lautsprecher gerade meinen Anschlusszug nach Bozen angekündigt? Kann nicht sein, wir sind doch noch eine Station zu früh! 

Der Zug hält mit quietschenden Bremsen. Raus! Sagt meine Intuition. 

„Aber das hier ist Firenze Campo Marte“, sagt mein Kopf. „Warum sollte der Anschlusszug von hier aus fahren?“

Verunsichert mache ich einen halben Schritt aus dem Zug hinaus. Eine Frau steigt ein.

„Main Station?“ frage ich.

„No, prossima!“, antwortet sie.

Also steige ich wieder ein. 

Fünf Minuten später hält der Zug in Firenze S.M.N. Ich haste hinaus, hoffe, meinen Abschlusszug trotz Verspätung zu erwischen, finde endlich einen Anzeigebildschirm – und stelle mit Erschrecken fest, dass von hier aus kein einziger Zug nach Bozen fährt. Nicht um 12:03, wie es auf meinem Ticket steht, und auch nicht später. 

Apropos Ticket. In Ermangelung einer besseren Idee betrachte ich das Ticket, das ich in Assisi gekauft habe, noch einmal genauer. 

Mist. 

So. Ein. Verdammter Mist. 

Firenze C.M.

Campo Marte. DORT hätte ich aus- und umsteigen sollen. 

Aaaaargghhh!

„Told you so“, murmelt meine Intuition.

 

Alles nochmal gut gegangen? Von wegen. 

15 kribbelige Minuten in der Warteschlange, eine unergiebige Diskussion mit einer strengen italienischen Bahnbeamtin hinter Plexiglasfenster und 109,30 unnötig ausgegebene Euros später hetze ich zum Bahnsteig 9 und springe gerade noch rechtzeitig in einen Zug, der mich nach Padova bringen wird, wo ich dann – hoffentlich am richtigen Bahnhof – in den Treno 86 nach Innsbruck umsteigen werde. 

Klarer Fall von „Phew! Alles nochmal gut gegangen!“

Klarer Fall von „Lehn dich gemütlich zurück – du wirst pünktlich um 18:36 Uhr in Innsbruck aussteigen, wo dich eine liebe Freundin erwartet, mit der du einen genüsslichen Abend verbringen wirst, ehe du am nächsten Tag endgültig nachhause fährst. 

Klarer Fall von „Das kann jedem mal passieren!“

Aber in mir ist gar nichts klar, und schon gar nichts gut.

Nichts liegt mir im Moment ferner, als mich entspannt zurückzulehnen und darüber zu freuen, dass sich eine alternative Route gefunden hat und ich pünktlich ankommen werde. 

Denn da ist Ärger.

Und unter dem Ärger ist Wut.

Und unter der Wut ist … Scham. 

Da ist ein Gefühl des Versagens, der Unfähigkeit, der Dummheit.

Ein Gefühl, als wäre ich ein kleines Kind, das etwas falsch gemacht hat und ängstlich darauf wartet, bestraft zu werden. 

Diese Gefühle sind intensiv und geladen. So intensiv und geladen, dass ich sofort erkenne: 

Oh. 

Alte Scham-Wunde getriggert. 

 

Das kleine Mädchen in mir schämt sich.

Die erwachsenen Frau, die ich heute bin, würde mit einem kurzen Anflug von Ärger, dann mit einem Schulterzucken, Loslassen und Entspannen auf das Missgeschick reagieren. 

Aber das kleine Mädchen in mir schämt sich. Es glaubt, einen schlimmen Fehler gemacht zu haben. Es hört eine unbarmherzige Stimme, die sagt: „Wie kann man nur so unachtsam sein? Müsstest du es nicht längst besser wissen? Du weißt doch, dass du deiner Intuition trauen kannst, wieso hörst du dann nicht auf sie? Dieser eine Moment der Unachtsamkeit hat dich 109 Euro gekostet. Um das Geld hätten drei Kinder in Afrika ihr Augenlicht wiederbekommen können!“

Vielleicht ist dir das auch schon einmal passiert: 

Etwas im Grunde Harmloses geschieht – und dennoch gehen in dir die Emotionen hoch. Dennoch sind da Selbstvorwürfe, Selbstkritik, vielleicht sogar harsche Worte der Selbstverurteilung und -verachtung. 

Solche Emotionen, deren Intensität der aktuellen Situation in keiner Weise angemessen ist, sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass Altes, Ungelöstes getriggert und an die Oberfläche geholt wurde.

Genau aus diesem Grund helfen rationale Argumente und Beschwichtigungen in solchen Momenten wenig. Um in solchen Momenten gut für uns selbst zu sorgen, müssen wir mit jenen inneren Anteilen Kontakt aufnehmen, die sich schuldig fühlen, Angst haben, sich schämen oder klein, hilflos und überfordert fühlen. 

Ein Königsweg dazu ist die Praxis der Mindful Self-Compassion, des achtsamen Selbst-Mitgefühls. Diese Praxis wurde vor allem von Kristin Neff und Chris Germer erforscht und entwickelt.

Als Beispiel teile ich hier (in verkürzter Form) mit dir, wie ich diesen Prozess genutzt habe, um im Zug nach Padova liebevoll und mitfühlend mit mir umzugehen, statt mich wegen meines Missgeschicks zu verurteilen:

 

# 1 Wie fühlst du dich in dieser Situation?

Shit. Bäääh. Mist. Ich ärgere mich maßlos über mich. Ein unachtsamer Moment – und 109 Euro sind futsch. Und dann auch noch Action, Stress und Hektik, um schnell, schnell eine andere Zugverbindung zu finden!

Wieso habe ich nicht auf meine Intuition gehört? Wut. Scham. Ja, das vor allem. Ich schäme mich, fühle mich schuldig. Weil ich zu dumm bin, genau aufs Ticket zu schauen … Ich weiß, es ist lächerlich, aber mir ist zum Heulen zumute …

In diesem ersten Schritt geht es darum, alle Emotionen ungefiltert aufs Papier fließen zu lassen. Ich nenne das „aufs Papier kotzen.“ Alles darf (und soll) raus – ohne Zensur. Das hat den Sinn, dass du dir erstens deine Gefühle bewusst machst, sie zweitens authentisch ausdrückst, und dir drittens durch das “Auskotzen” Erleichterung verschaffst.

 

# 2 Lies nochmal durch, was du geschrieben hast.

Wo findest du Unter- oder Übertreibungen, wo gibt es ein „immer“, ein „nie“ oder andere Verallgemeinerungen? Gibt es Verurteilungen oder Bewertungen, die – aus neutraler Perspektive betrachtet – so nicht stimmen? 

„Weil ich zu dumm bin …“ – nein, bin ich nicht. ich habe aufs Ticket geschaut. Dass es in Florenz verschiedene Bahnhöfe gibt, war mir nicht bewusst. 

„Es ist lächerlich“ … es ist niemals lächerlich, dass wir fühlen, was wir fühlen. Gefühle sind einfach da. Erst unser Urteil macht sie zu „lächerlichen“ oder „unpassenden“ oder „negativen“ Gefühlen. 

In diesem Schritt identifizierst du deine Glaubenssätze und Denkmuster, mit denen du dich selbst verurteilst, einschränkst, blockierst, … und distanzierst dich davon.

 

# 3 Was ist zutiefst menschlich an dieser Erfahrung? Inwiefern verbindet sie dich mit anderen Menschen? 

So etwas ist wohl jedem schon mal passiert, der auf Reisen geht. Fremdes Land, fremde Sprache, verwirrende Bezeichnungen … einen Zug zu versäumen oder bei der falschen Haltestelle auszusteigen – das ist sowas von menschlich! 

Hier geht es darum, deine „Unvollkommenheit“, die unweigerlich zum Mensch-Sein gehört, anzuerkennen, den Perfektions-Druck von dir zu nehmen und zu erfahren, wie wohltuend wir alle durch unsere menschlichen Erfahrungen miteinander verbunden sind. 

 

# 4 Wie würdest du mit dir selbst sprechen, wenn du deine beste Freundin wärst? 

Hey, Layaki, das kann doch jedem mal passieren! 

Ich verstehe, dass du dich ärgerst – aber aus einer größeren Perspektive ist es wirklich nur eine Kleinigkeit, in ein paar Tagen denkst du nicht mal mehr daran! Und was die Intuition betrifft: Du lernst doch gerade erst, auf sie zu hören und ihr zu vertrauen – und das ist völlig ok so. Ist doch eigentlich wunderbar, dass du in dieser Situation erlebt hast, wie sicher sie dich leiten kann! Beim nächsten Mal kannst du schon anders reagieren … progress, not perfection – erinnerst du dich? 

Nun schenkst du dir selbst Mitgefühl, Freundlichkeit und Wärme. Es ist, als würdest du dich mit deinen eigenen Worten in den Arm nehmen.

 

# 5 Was könntest du jetzt brauchen, damit es dir besser geht? 

Oh, es wäre so schön, wenn mein Liebster jetzt bei mir wäre. Sein liebevoller Blick, seine Stimme, seine Umarmung würden mich jetzt wunderbar trösten. Fast drei Wochen haben wir uns nicht gesehen, und ich vermisse ihn schon sehr…

Ja, eine Berührung, eine sanfte Hand würden mir jetzt gut tun …

{Ich zögere, meinem Liebsten zu texten, denn ich will eine autonome und starke Frau sein. Aber dann erinnere ich mich daran, dass es keine Schwäche ist, um Unterstützung zu bitten, wenn es mir nicht gut geht. Also schreibe ich ihm: „Geliebter, könntest du mich bitte mal umarmen? Mir ist gerade ein Missgeschick passiert und ich fühle mich wie ein kleines Kind, das etwas Schlimmes angestellt hat.“ 

Der Liebste ist gerade in einem Meeting und antwortet erst zwei Stunden später – verständnisvoll und warmherzig. In der Zwischenzeit lege ich immer wieder eine Hand auf mein Herz und atme lang und tief, sodass mein Atem mich im Inneren liebkost und die Berührung durch meine eigene Hand mich beruhigt.}

In diesem letzten Schritt geht es darum, herauszufinden, welche Bedürfnisse jetzt da sind, und wie du sie dir erfüllen kannst.

 

Mindful Self-Compassion ist ein wundervolles Heilmittel für Scham-Wunden.

Viele von uns tragen solche Wunden in sich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Doch diese Wunden hindern uns daran, dass wir uns frei entfalten können. Sie blockieren unser Wachstum, unsere Lebensfreude und Kreativität. So wie eine körperliche Narbe, die verhindert, dass die Energie frei fließen kann, und die unsere Aufmerksamkeit und Fürsorge braucht. 

Nicht die Zeit heilt deine Wunden, sondern Bewusstheit, Annahme und Fürsorge.

Jede Art von Scham braucht zartfühlende Sanftheit und liebevolle Zuwendung. 

Du kannst sie dir selbst schenken. 

So ein Glück. 

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