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Warum du täglich sterben solltest 

 Mai 27, 2017

Ich liege am Boden, gebe mein Gewicht an den Grund unter mir ab. Atemzug für Atemzug wird mein Körper schwerer, während mein Geist immer leichter wird, durchlässiger und weiter. Gedanken kommen und gehen. Ich beobachte sie, sie gehören nicht mehr mir. Mein Geist ist weit wie der Himmel, die Gedanken sind wie Wolken, Gebilde ohne Substanz, die aus der grenzenlosen Weite heraus entstehen, und sich irgendwo in dieser grenzenlosen Weite wieder auflösen.

Irgendwann kommen auch diese Wolkengedanken zur Ruhe. Ich sinke noch ein Stück tiefer, mein Kiefergelenk löst sich, meine Lippen öffnen sich leicht, meine Muskulatur hält nichts mehr fest, wo es nichts festzuhalten gibt. Mein Nacken entspannt sich, und mein Kopf kapituliert, hört auf, sich als Zentrum meines Seins aufzuspielen. Er rückt in die Peripherie, und mein Bewusstsein dehnt sich aus – es expandiert weit, weit, weit in den Raum, ins Unendliche.

Und ich sterbe.

Sterbe in den Moment hinein. Sterbe für alles, was gewesen ist und für alles, was sein könnte. Sterbe für meine Vorstellungen, Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste und Erwartungen. Indem ich alles loslasse, gewinne ich alles. Durch mein Sterben werde ich neu geboren – es ist reine Magie.

Was für unsere begrenzte Vernunft Magie ist, ist die Logik des Unendlichen.
~ Sri Aurobindo

Was uns Savasana, die Totenstellung, lehrt

Der Yogi legt sich zum „Schlafen“ nieder, um zu erwachen. So erkennt er das, was er normalerweise für sein Wachsein hält, als einen komatösen Zustand. Er stirbt für alles, was eben noch wichtig oder dringend erschien und wird dadurch wahrhaft lebendig. Er lässt alles Vergängliche ziehen und erfährt dadurch jenen Teil von sich, der unvergänglich ist.

Finally, I realized that whatever I thought, it was always just a thought, subject to disappearance, and therefore, impossible to be eternal. To discover eternal truth, I could no longer rely on thought. Thought was no longer the master. The previous fear of not knowing was transformed to the joy of not knowing. To not know was the opening of my mind to what cannot be known by mind! What a relief, what profound release.
~ Gangaji

Savasana - die Totenstellung

Savasana – wörtlich übersetzt „Leichenstellung“ – ist zwar eine der zentralsten Übungen im Yoga, aber nur eine von vielen Möglichkeiten, das Sterben zu üben. Im Buddhismus zum Beispiel gibt es die Praxis des bewussten Sterbens. Und vor einigen Jahren habe ich beim Holotropen Atmen (einer von Stanislav Grof entwickelten Technik, mit der man Bewusstseinszustände erreichen kann, die normalerweise nicht zugänglich sind), die Erfahrung gemacht, wie es ist, mit dem Tod zu tanzen. Damals habe ich erlebt, dass der Tod nichts ist, wovor wir Angst haben müssten.

Der Tod ist kein Feind, sondern ein Freund. Wenn unser Tag gekommen ist, empfängt er uns mit offenen Armen. Und bis es so weit ist, spaziert er als weiser Berater neben uns her und fordert uns immer wieder auf, die Fixierung auf unsere Gedankenkonstrukte aufzugeben und uns dem zuzuwenden, was das Leben gerade von uns will.

„Es heißt, dass jeder Tag, an dem man nicht an den Tod denkt, ein verlorener Tag ist. Dann sind wir gefangen in unseren Illusionen. Nur vom Standpunkt des Todes aus erkennst du, wie relativ alles ist. Das ist die Tür zur Freiheit.“
~ Aus „We in einem Traum“ von Ulli Olvedi

Du musst aber weder meditieren, Yoga machen noch irgendeine andere Technik anwenden, um jeden Tag zu sterben. Halte einfach inne und mach dir bewusst, dass dies der letzte Moment deines Lebens sein könnte. Oder mach es wie manche buddhistischen Mönche – sie drehen jeden Abend ihre Teetasse um. Dadurch rufen sie sich in Erinnerung, dass es nicht selbstverständlich ist, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen.

Abschiedlich leben.

Indem wir lernen, abschiedlich zu leben, erkennen wir, was echtes Leben ist. Wir wachen auf und sehen, dass wir bisher in einem begrenzten Traum gefangen waren.

„Halten und lassen, uns binden und Abschied nehmen, die Vergänglichkeit erleben und sie doch auch aufgehoben wissen in jenen seltenen Momenten des Erfasstseins, Umfangenseins von Liebe, von denen wir das Gefühl haben, dass sie ´ewig´ sind, und die uns diese  Vergänglichkeit auch transzendieren lassen; das fordert Leben angesichts des Todes – das verstehe ich unter abschiedlicher Existenz“.
~ Verena Kast

Abschiedlich leben

Täglich zu sterben bedeutet nicht, sich vom Leben abzuwenden oder seiner überdrüssig zu werden.
Im Gegenteil: Es bedeutet, sich Tag für Tag, Moment für Moment, dem Leben zuzuwenden, sich ihm ganz und gar hinzugeben, in voller Klarheit darüber, dass wir unweigerlich auf den Tod zu tanzen. Im vollen Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge können wir diesen Tanz umso mehr genießen. Wir können darüber lachen, dass wir auch mal stolpern, uns ungeschickt anstellen, dass wir die Schritte vergessen und improvisieren müssen. Wir können aufhören, uns über Kleinigkeiten aufzuregen, die angesichts des Großen Mysteriums, von dem wir ein Teil sind, keine Bedeutung mehr haben. Dieses Große Ganze wird mit unserem Tod nicht enden. Wenn wir unseren letzten Atemzug getan haben, geht der Tanz in eine neue Runde.

„Eines der besten Mittel, den Wunsch nach der Arbeit an sich selbst wachzurufen, ist die Einsicht, dass man jeden Augenblick sterben kann. Und man muss lernen, das nicht zu vergessen.“
~ Gurdjieff

Meine Eltern sind für mich das schönste und berührendste Beispiel für ein abschiedlich gelebtes Leben.
Sie werden älter, die Kräfte schwinden. Aber sie halten nichts fest. sondern ordnen umso bewusster ihre Dinge, sortieren aus und verabschieden sich schon jetzt von allem, was sie nicht mitnehmen werden können. Ihr Leben ist einfach und überschaubar geworden – und dennoch wenden sie sich ihm jeden Tag von neuem zu. Meine Mutter beobachtet das Rotschwänzchen- und das Grasmücken-Pärchen, die auf ihrem Balkon nisten und wartet sehnlich auf den Tag, an dem die Vogeljungen schlüpfen. Im Zoo bewundert sie gemeinsam mit meinem Vater das neugeborene Zebra-Baby. Sie trifft sich regelmäßig mit jenen Frauen, mit denen sie vor 70 Jahren die Schulbank gedrückt hat, damals, als sie alle – kurz nach dem Krieg – noch kleine Mädchen mit langen Zöpfen waren.

Was bleibt: Ehrfurcht vor dem Leben

Ist es das, was am Ende bleibt?

Ja, ich glaube schon. Was bleibt ist ein Sich-Verneigen vor dem Kommen und Gehen auf diesem Planeten. Was bleibt ist Ehrfurcht. Was bleibt sind Beziehungen und Verbindungen, was bleibt sind Liebe und Respekt.

Und genau deshalb solltest du täglich sterben: um dich jeden Tag ein Stück bewusster dem Leben zuzuwenden. Du solltest täglich sterben, um für einen Moment alles loszulassen, was du am Ende sowieso gehen lassen musst. Du tust es jetzt gleich, einen kurzen, aber entscheidenden Augenblick lang, du stirbst und erwachst zum Leben, zum echten Leben, das jetzt stattfindet, hier vor deinen Augen, hier vor deiner Nase. Und du entspannst dich in eine köstliche Freiheit hinein. Hoffnungen, Ängste, Erwartungen und Vorstellungen verblassen. Was eben noch wichtig erschien, tritt in den Hintergrund. Was wesentlich ist, tritt in Erscheinung –  und damit auch dein wahres Wesen. Unbegrenzt, unsterblich und unfassbar frei.

Buchtipps:

Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod

Christiane Singer: Alles ist Leben: Letzte Fragmente einer langen Reise

Jiddu Krishnamurti: Einbruch in die Freiheit

Verena Kast: Lass dich nicht leben – lebe!: Die eigenen Ressourcen schöpferisch nutzen

Tiziano Terzani: Noch eine Runde auf dem Karussell

Big wild love, Laya

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