Und wieder stehe ich hier, nackt und zitternd, im Untersuchungsraum der dermatologischen Ambulanz, wie jedes Jahr im November. Meine frierenden Füße auf einem halben Quadratmeter dunkelgrünem Stoff, den die Ärztin auf den Boden gelegt hat, damit meine Fußsohlen den Krankenhausboden nicht berühren. Die Härchen auf meinen Unterarmen aufgestellt – nicht nur wegen der Kälte, auch wegen der Scham.
Einmal jährlich komme ich hierher zur Vorsorgeuntersuchung. Meine helle Haut ist von Muttermalen übersät, mein Krebsrisiko massiv erhöht.
Mit dem Risiko habe ich zu leben gelernt. Wie viele Frauen haben ein erhöhtes Brustkrebsrisiko? Wie viele schwere Raucher müssen mit Lungenkrebs rechnen, wie viele Menschen mit Darm- oder anderen Krebsarten, genetisch oder ernährungsbedingt?
Die Ärztin hält ihre beleuchtete Lupe an jedes meiner Muttermale. Das dauert seine Zeit. Zum Schluss werden Fotos gemacht. Mit den Tränen kämpfend wende ich meinem Blick von dem Bildschirm ab, der meine Muttermale hochaufgelöst zeigt.
Hier stehe ich, und mein Makel wird dokumentiert, festgehalten und abfotografiert. Jahr für Jahr.
Ich erinnere mich daran, wie sehr ich über meinen Biologielehrer staunte, der erzählte, seine Frau habe 156 Muttermale. Wie konnte er etwas so Abstoßendes derart unverblümt aussprechen?
Ich erinnere mich daran, dass ich die ersten 25 Jahre meines Lebens auch im Hochsommer langärmelige Blusen trug.
Ich erinnere mich daran, dass ich einem Liebhaber mein Herz verschloss, als er schrieb, er träume davon, mit seinem Zeigefinger zwischen meinen Muttermalen Slalom zu fahren.
Es wurde besser mit der Zeit. Ich verbündete mich mit Dalmatinern, Leoparden und Pippi Langstrumpfs kleinem Onkel, die ihre Flecken voller Würde trugen, ohne einen Hauch von Scham. Sie alle waren schön und einzigartig mit ihren getupften Fellen – warum sollte ich mich nicht auch so sehen mit der einzigartigen Zeichnung auf meiner Haut?
Ich stellte mir vor, meine beste Freundin hätte denselben Makel wie ich. Würde ich sie weniger mögen? 1 Prozent Zuneigungs-Abzug pro Muttermal?
Ich dachte daran, wie sehr ich mich in unserer ersten gemeinsamen Nacht in die weißen Flecken auf dem Rücken meines Mannes verknallt hatte, und in die auf seinem Oberschenkel. Für mich waren das keine Pigmentstörungen, sondern die Umrisse exotischer Kontinente, dich ich am liebsten Tag und Nacht liebkost hätte.
Ich dachte an Menschen, die von Verbrennungen oder Unfällen schlimme Narben davongetragen hatten. Daran, um wie viel schlimmer sie dran waren als ich.
Ich begann, in ärmellosen Shirts Yoga zu unterrichten: „Hier sitze ich, hier stehe ich, so sehe ich aus! So setze ich mich euren Blicken aus, eurem Urteil. Von makel-los keine Spur, aber ich zeige mich, trotzdem, ich zeige mich, Dalmatinerleopardin, die ich bin!“
Als mein Porträt auf der Titelseite einer Frauenzeitschrift erschien und ich merkte, dass die Fotoredaktion das Muttermal auf meiner Stirn wegretouschiert hatte, war ich richtig sauer.
Und ich seufzte tief und sagte Ja, als mein Geliebter mich am Morgen vor der dermatologischen Routineuntersuchung im Arm hielt und beteuerte: „Du hast keinen Makel. Das ist einfach eine Eigenart von dir.“
Und doch, und doch. Und doch blieb da die Scham. Und blieb und blieb, bis … bis ich endlich verstand:
So und nicht anders bin ich gemeint.
Wer bin ich, das große Mysterium der Schöpfung in Frage zu stellen?
Wer bin ich, gegen die Wirklichkeit zu kämpfen?
Ich wäre nicht ich ohne meine Muttermale. Ich wäre nicht ich ohne mein Leopardenfell. Ich wäre nicht ich ohne jeden einzelnen dieser extravaganten Tupfen.
So also wird man den Makel los.
Foto: © Elena Ray – Fotolia.com
Big, wild love
Laya
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