Warum Schreiben mehr ist als Selbstreflexion, wie es Neuroplastizität fördert und dein Gehirn verändert.
„Frau Commenda, jetzt hören Sie doch mal zu!“, empört sich der altehrwürdige Professor.
Schon eine Stunde lang hält er einen Monolog, weil besagte Frau Commenda, eine seiner aufmüpfigsten Studentinnen, ihm eine Frage gestellt hat.
Die eine Frage, die ihr einfach keine Ruhe lässt:
Was genau passiert im Gehirn, wenn wir schreiben? Und was genau passiert, wenn wir mit der Hand schreiben?
Also monologisiert er, der honorige Professor der Poesietherapie, lässt Begriffe wie „Hand-Hirn-Achse“ und „Neuromotorik“ fallen … aber ansonsten: nichts Konkretes, nichts Greifbares.
„Aber was GENAU?“, erdreistet sich Frau Commenda nachzufragen.
„Was genau passiert im Gehirn, wenn wir unseren Stift übers Papier gleiten lassen, und wenn Gedanken zu Tintenworten werden?“
Woraufhin seine akademische Hoheit etwas ungehalten reagiert und eine weitere Stunde lang doziert – zielsicher an der Frage vorbei.
Was die Neurowissenschaft heute übers Schreiben weiß
Ich tat dem armen Herrn Professor unrecht. Er war gar nicht ignorant. Die Neurowissenschaften waren damals einfach noch nicht so weit.
Erst in den vergangenen Jahren – mit einem massiven Sprung in den letzten fünf Jahren – können Forscher:innen präzise erklären, was beim Schreiben in unserem Gehirn wirklich passiert.
High-Density-EEG. fMRI-Bildgebung in Echtzeit. Wir können buchstäblich zusehen, wie sich verschiedene Hirnregionen vernetzen, während wir Buchstaben formen und Gefühle und Gedanken aufs Papier fließen lassen.
Jetzt sind sie da, die Antworten, nach denen ich damals gesucht habe.
Und sie sind atemberaubend – zumindest für einen Nerd wie mich 😉
Ich wusste, dass Schreiben wirkt. Und ich habe es immer schon geliebt – genauso, wie ich das Gehirn liebe, weil es so unfassbar mächtig und komplex ist.
Für jemanden wie mich gibt es nichts Aufregenderes als das: Mit den Worten, die wir zu Papier bringen, können wir unsere Neuronen gezielt neu verdrahten.
# 1 Schreiben mit der Hand: Ein Feuerwerk im Gehirn
Dein Stift gleitet übers Papier, seine Spitze formt ein „M“. Während deine Hand diese Bewegung ausführt, spielt sich in deinem Gehirn ein neuronales Feuerwerk ab, das jeden Laptop vor Neid erblassen lassen würde.
Visuelle Areale, sensorische Bereiche und der motorische Kortex verbinden sich zu einem komplexen Netzwerk.
Beim Schreiben mit der Hand koordinieren wir mindestens 30 Muskeln und 15 Gelenke. Diese feinmotorische Choreographie stimuliert zwölf verschiedene Hirnareale.
Neurowissenschaftler:innen nennen das „Embodied Cognition“: Kognitive Prozesse sind nicht vom Körper getrennt, sondern tief mit sensorischen Wahrnehmungen und körperlichen Bewegungen verwoben.
Schreiben auf der Tastatur ist hingegen eine gleichförmige, repetitive Bewegung – unabhängig davon, welcher Buchstabe getippt wird.
Dazu kommt: Beim analogen Schreiben halten wir nicht nur Inhalte fest, sondern setzen auch räumliche Anker.
Das bunte Journal mit dem Frida-Kahlo-Einband. Das Eselsohr, der kleine Kaffeefleck, die Position des Satzes auf der Seite – all das wird zu einem Teil der Erinnerung und hilft dem Gehirn, Informationen später leichter abzurufen.
Und:
Mit der Hand können wir nicht so schnell schreiben wie mit der Tastatur. Wir müssen selektieren, verdichten und entschleunigen. Das ist ein riesiger Vorteil – denn so verarbeiten und integrieren wir schon beim Schreiben.
# 2 Deep Encoding: Gedanken sind flüchtig, Geschriebenes bleibt
Jedes Mal, wenn du etwas aufschreibst, aktivierst du deinen Hippocampus. Er ist der Chef der Gedächtniskonsolidierung und verwandelt flüchtige Gedanken in dauerhafte Erinnerungen. Je mehr Gehirnareale dabei zusammenarbeiten, desto stabiler und leichter abrufbar sind die Erinnerungen.
Schreiben ist bei diesem Prozess der absolute Wunderwuzzi – weil es so viele Kodierungsebenen gleichzeitig anspricht:
Während deine Hand die Buchstaben formt (motorisch), siehst du, was auf dem Papier entsteht (visuell), verarbeitest gleichzeitig die Bedeutung (semantisch) und fühlst, worüber du schreibst (emotional). „Deep encoding“ nennt man das.
Und seien wir uns ehrlich:
Menschen haben intuitiv schon immer zu Stift und Papier gegriffen, wenn sie sich etwas wirklich merken oder Gedanken ordnen wollten – lange bevor Wissenschaftler:innen dem Gehirn dabei „zuschauen“ konnten.
# 3 Emotionsregulation: Beruhige dich, Amygdala!
Jetzt wird es besonders spannend.
Wenn du Gefühle benennst – also „Affect Labeling“ praktizierst – geschieht etwas Faszinierendes in deinem Gehirn.
Die Amygdala, deine emotionale Drama-Queen, beruhigt sich. Gleichzeitig springt der RVLPFC an – dein rechter ventrolateraler präfrontaler Kortex.
Komplizierter Name, ich weiß 😉 Wichtig ist nur zu wissen: Diese Region ist auf emotionale Regulation spezialisiert, und hilft der Amygdala, sich wieder „einzukriegen“.
Angenommen, du bist getriggert und super wütend. So richtig entrüstet.
Du spürst die Emotion roh und wild wie einen Vulkan in deinem Körper, du möchtest gleichzeitig explodieren und implodieren – und die Intensität droht dich fast hinwegzuschwemmen.
Dann beginnst du zu schreiben: „Ich fühle mich wütend, weil …“ (*)
Und schwupp, schon übernimmt dein präfrontaler Kortex wieder das Kommando. Er ist der rationale CEO deines Gehirns, und wenn deine hyperaktiven limbischen Schaltkreise merken, dass er wieder am Steuer ist, entspannen sie sich augenblicklich.
Das ist übrigens kein Unterdrücken von Emotionen, sondern ein Verarbeiten. Affect Labeling lindert langfristig Depressionen, Ängste und körperliche Symptome und erhöht die Lebenszufriedenheit.
(*) Noch effektiver ist übrigens die Formulierung: „Da ist Wut, weil …“. Sie schafft noch mehr emotionale Distanz!
# 4 Metakognition: Deine Gedanken im Spiegel
Wenn du schreibst, aktivierst du dein Default Mode Network (DMN); es wird aktiv, wenn du nicht auf äußere Reize reagierst, sondern nach innen blickst. Das DMN ist zuständig für Introspektion, Perspektivwechsel und autobiografisches Gedächtnis.
Gleichzeitig zeigen Studien erhöhte Aktivität im anterioren cingulären Kortex – er ist für Selbstwahrnehmung und Einsicht zuständig.
Die unglaubliche Fähigkeit zur Metakognition:
Du kannst über dein eigenes Denken nachdenken.
Auf dem Papier siehst du deine Gedanken. Du erkennst Muster. Und du kannst wählen, was du denken willst und was nicht.
Das ist der Ausstieg aus dem Autopilot-Modus.
Schreiben hält dir einen Spiegel vor – aber keinen gewöhnlichen.
Mit diesem Spiegel blickst du hinter die Oberfläche und erkennst das, was dein Verhalten wirklich steuert: deine Denkmuster.
(Ersetze ganz praktisch alte Denkmuster durch neue: mit dem Circle of Creation und mit „Mindset Makeover“!)
# 5 Von Gedankenchaos zu Klarheit
Schreiben zwingt dein Gehirn dazu, zu analysieren, zu organisieren, zu evaluieren. Der dorsolaterale präfrontale Kortex – der genialste Problemlöser zwischen deinen hübschen Ohren – läuft auf Hochtouren.
Beim Schreiben hierarchisieren wir Informationen.
Wir priorisieren: Was ist wichtig?
Und wir erkennen: Wie hängt das zusammen? Wo ist der Sinn? Was ist der Kern?
Der laterale präfrontale Kortex unterstützt dieses analytische Denken und die kognitive Flexibilität. Das heißt: Wenn du schreibst, ist es viel einfacher, zwischen verschiedenen Perspektiven zu wechseln und tiefe Einsichten zu gewinnen.
Schreiben als Neuroplastizitäts-Boost
Schon ganz „normales“ expressives Schreiben stärkt die Verbindung zwischen präfrontalem Kortex und anderen Gehirnregionen – besonders jenen, die für emotionale Verarbeitung und Gedächtniskonsolidierung zuständig sind.
Die Multi-System-Aktivierung beim Schreiben ist der perfekte Cocktail für Neuroplastizität.
Wenn du regelmäßig schreibst, wird diese Wirkung stärker – und deine neuronale Architektur wird immer formbarer.
Deep Journaling kann noch viel mehr
Und jetzt stell dir vor, du schreibst nicht einfach nur, was du denkst und fühlst. Du verwendest nicht nur die üblichen Journaling-Prompts oder praktizierst die guten alten Morgenseiten.
Stattdessen programmierst du schreibend die Prinzipien der Positiven Psychologie in dein Gehirn:
👉 Du kultivierst positive Gefühle.
👉 Du fokussierst dich auf deine Stärken und praktizierst achtsames Selbstmitgefühl.
👉 Du schreibst dich selbstwirksam, resilient, stark und optimistisch, und überschreibst nach und nach deine angeborene negativity bias.
👉 Du entwickelst einen liebevollen inneren Dialog und programmierst deine Gedanken auf Growth-Mindset, Glück und Erfolg.
Außerdem schreibst du gezielt dein inneres Narrativ um, also das geheime Drehbuch deines Lebens. So formst du bewusst deine Identität – und damit auch deine Zukunft.
Und du nutzt Methoden aus Poesie- und Schreibtherapie, um all das noch wirksamer zu machen und tiefer zu verankern.
Genau das ist Deep Journaling.
Und genau das erlebst du bei allen Deep-Journaling-Kursen und Programmen. Und natürlich auch in der INSIDE Membership!


