Ich bin spät dran, eile über schneematschiges Kopfsteinpflaster und bahne mir den Weg durch feine weiße Flocken, die auf mich und meine dicke Wollmütze herabschweben. Dann haste ich die Treppen des ehrwürdigen Altbaus hinauf, und betrete, ein paar Minuten nach dem vereinbarten Termin, die Ordination des Kieferchirurgen.
Der Eingangsbereich hält, was das mondäne Stiegenhaus versprochen hat. Eeeewig hohe Räume, wunderschöne weiße alte Flügeltüren, und hinter der futuristisch anmutenden Rezeption, die aussieht wie die Kommandozentrale eines Luxus-Raumschiffs, die Sprechstundenhilfe mit perfekter Frisur und perfektem Makeup. Sie nimmt meine Daten auf und weist mir den Weg ins Wartezimmer.
Wartezimmer? Hier sieht es aus wie in einer Hotellobby! Zwischen sechs gemütlichen Designer-Fauteuils stehen schicke Tischchen, auf denen ausgewählte Zeitschriften perfekt arrangiert liegen, an einer Wand hängt ein großer Flachbildfernseher, und auf einem stylischen Servierwagen warten ein schlanker Wasserkrug und geschliffene Gläser. An den anderen Wänden hängen abstrakte, bunte Bilder. Nicht, dass ich mich mit abstrakter Kunst auskennen würde – aber ich bin sicher, sie waren teuer.
Außer mir ist niemand hier. Nur ein schwarzer Mantel mit schwarzem Pelzkragen hängt an einem eleganten, silbernen Kleiderständer.
Die Sprechstundenhilfe händigt mir ein Tablet und einen Stift aus, und ich beantworte einige Fragen, kreuze dieses und jenes an, ja, nein, ja, nein, nein, keine Medikamente, ja, Allergien, nein, ich bin nicht schwanger und will es auch nicht werden, und ja, ich bin einverstanden, dass meine Daten gespeichert werden. Digitale Unterschrift darunter und fertig.
Dann sitze ich in einem riesigen, kuscheligen roten Ohrensessel und beobachte das Gesumme in meinem Kopf. Lausche den seltsamen Gedanken, die mein monkey mind produziert.
„Der Typ muss seinen PatientInnen ganz schön viel Kohle aus der Tasche ziehen, um sich eine solche Ordination leisten zu können“, denkt es in mir. „Bestimmt sind die Behandlungen hier toooootal überteuert!“
Hä? Ein bisschen Kunst, Ästhetik und schönes Ambiente, und schon poppen in mir solche Vorurteile auf? Moment mal!
Aber monkey mind lässt sich nicht so schnell bremsen und meckert munter weiter. „Bääääh, meine Winterjacke schaut neben dem supergepflegten Pelzkragenmantel ziemlich schäbig aus.“ Und weiter. „Hm. Kann ich mir einen Wahlarzt wie diesen überhaupt leisten?“ Und weiter. „Vielleicht brauche ich gar kein Zahnimplantat.“ Und weiter. „Vielleicht tut’s auch eine Brücke. Da zahlt die Krankenkasse zumindest einen kleinen Teil dazu. Das ist schon eher meine Kragenweite!“
Interessant, merkt mein innerer Beobachter an, während monkey mind Amok läuft. Interessant. Offensichtlich hat ein Teil von mir ein Problem mit Wohlstand und ausgewählter Einrichtung. Offensichtlich glaubt ein Teil von mir, dass sich nur Menschen, die andere über den Tisch ziehen und unfaire Preise verlangen, ein solches Ambiente leisten können. Und offensichtlich glaubt dieser Teil auch, dass ich es nicht wert bin, in einem solchen Wartezimmer zu sitzen und von einem Arzt operiert zu werden, der ein Faible für abstrakte Kunst hat und seinen PatientInnen ein Wohlfühl-Warte-Erlebnis vergönnt.
Interessant, denkt mein innerer Beobachter. Welche Geschichte erzähle ich mir da gerade über mich selbst? Ich kuschle mich in das rote Fauteuil, lasse die Gedanken zur Ruhe und meinen Kopf leer werden. Denn ich weiß ja, dass das genau DER Zustand ist, in dem mein neutral mind zutage tritt und mir den Weg weist.
Wenig später zeigt der Kieferchirurg mir auf einem Bildschirm ein 3D-Modell meiner Zahnlücke. Gemeinsam betrachten wir sie von allen Seiten, er erklärt, nimmt sich Zeit, beantwortet geduldig all meine Fragen, zeigt mir zwei Videos, in denen der bevorstehende Eingriff genau erklärt wird, und verblüfft mich schließlich vollends, als die Sprache auf das Thema „Keramik oder Titan“ kommt.
„Wissen Sie“, sagt er, „wenn Sie meine Frau wären, würde ich Ihnen Titan empfehlen. Aber mir ist bewusst, dass es hier ganz unterschiedliche Zugänge gibt. Wenn Sie in Ihrem Kopf Metall ablehnen, dann wird es auch Ihr Körper ablehnen. Jeder Mensch ist ein Gesamt-Organismus, und alle Teile Ihres Systems müssen mit diesem Eingriff einverstanden sein, sonst macht es keinen Sinn. Setzen Sie sich damit auseinander, lesen Sie sich ein, und dann teilen Sie mir Ihre Entscheidung mit.“
Ich sage ihm, wie überrascht und erfreut ich über seine Aussage bin. Und dann unterhalten wir uns noch eine Weile über Eigenverantwortung und Ganzheitlichkeit, seine Erfahrungen als Chirurg und ehemaliger Arzt auf einer Onko-Station, und meine als Yogalehrerin und Schreibtherapeutin.
BÄMMM!
Dann klärt der Mann im dunkelgrünen Chirurgen-Shirt und mit dem hellblau gemusterten Chirurgen-Mützchen auf dem Kopf mich noch über die Kosten auf. Sie sind geringer, als ich befürchtet hatte.
Noch mal BÄMMM!
„Hat mich sehr gefreut“, sagt er dann, schüttelt mir die Hand und schenkt mir einen aufmerksamen, wachen und freundlichen Blick.
Langsam und nachdenklich trete ich wieder hinaus in den Schneematsch. Gehe zweimal ums Eck, und schon bin ich in meinem geliebten Büro angekommen.
Ist wohl Zeit, mir andere Geschichten über mich selbst zu erzählen, denke ich. Über mich selbst und über die Welt. Und über Menschen, die in Schönheit und Wohlstand arbeiten und leben.
Zunächst fällt mir das gar nicht leicht. Die alten Geschichten sind mir vertrauter, fühlen sich wohlig und irgendwie heimelig an.
Es kostet mich Kraft, aber dann finde ich langsam Gefallen an den neuen Geschichten, die ich mir über mich selbst erzähle. Zum Beispiel an dieser: „Ich bin jemand, der sich nur von den besten ÄrztInnen behandeln lässt. Ich bin jemand, der auf angenehme Atmosphäre und Top-Beratung wert legt. Ich bin jemand, der Verantwortung für seine Gesundheit übernimmt und auch bereit ist, darin zu investieren.“
BÄMMM. Klingt doch gleich viel besser als „Vielleicht tut’s ja auch eine Brücke.“
We either make ourselves miserable, or we make ourselves strong. The amount of work is the same.
Ich liebe dieses Zitat von Castaneda. Aber ich glaube, dass er sich irrt. Im zweiten Teil zumindest.
Dem ersten Satz stimme ich vollinhaltlich zu. Wir bestimmen selbst darüber, ob wir uns elend und kläglich fühlen wollen, oder stark. Aber der Kraftaufwand, der hinter dem einen und dem anderen steckt, ist für die meisten von uns nicht der gleiche.
Die alten Geschichten….
Warum erzählen wir uns überhaupt Geschichten über uns selbst, die bewirken, dass wir uns kläglich fühlen?
Geschichten wie „Ich habe es nicht verdient, glücklich zu sein, ich bin nicht gut genug, um gut zu verdienen, ich bin es nicht wert, die beste ärztliche Behandlung zu bekommen, meine Berufung zu leben, eine liebevolle, achtsame Beziehung zu führen“, und so weiter?
Wie Gerald Hüther in diesem Video (ca. ab Minute 18) genial erklärt, haben wir alle als Kinder Situationen erlebt, in denen wir nicht jene Liebe, Unterstützung und Aufmerksamkeit bekommen haben, die wir gebraucht hätten. Ein Kind hat in dieser Situation zwei Möglichkeiten: Entweder es gibt „den anderen“ die Schuld – oder sich selbst. Viele Menschen wählen Zweiteres – einerseits weil wir als Kinder die Kleinen und die anderen die Großen sind, die es besser wissen müssten, und von denen wir abhängig sind. Und andererseits, weil diese anderen meistens unsere Eltern sind. Und da wir unsere Eltern lieben, tut es mehr weh, SIE zu hassen, zu verachten oder ihnen Unfähigkeit vorzuwerfen, als uns selbst.
Bitte, lies an dieser Stelle ganz genau: Es ist unendlich wichtig, dass du weißt, dass es nicht DEINE Schuld ist, dass du dir Geschichten wie „Ich bin es nicht wert …“ oder „Ich habe es nicht verdient …“ oder „Ich bin nicht gut, schön und besonders genug .“ oder „Mit mir stimmt etwas nicht …“ erzählst. Es hat seine Ursache in dem, was du als Kind erlebt und wie du es für dich eingeordnet, bewältigt und interpretiert hast. Oder in dem, wie dein Familiensystem gestrickt ist. Aber diese Geschichten – das bist NICHT DU.
Dennoch beeinflussen sie dein ganzes Leben. Sie bestimmen darüber, wie du dich und die Welt empfindest. Sie entscheiden darüber, was du dir erlaubst, wen oder was du in dein Leben einlädst, und wen oder was du von dir fernhältst.
Genau deshalb ist der amount of work für viele von uns eben nicht derselbe (sorry, Carlos!), sondern es erfordert sehr, sehr viel mehr innere Arbeit und Krafteinsatz, uns neue Geschichten über uns selbst zu erzählen – Geschichten, die bewirken, dass wir uns gut, stark, groß und fröhlich fühlen, dass wir uns daran erinnern, welch wunderbare Wesen wir sind. Geschichten, die bewirken, dass wir unsere Potenziale erkennen, statt sie brachliegen zu lassen, weil wir permanent auf unsere „Schwächen“ und Unvollkommenheiten starren und versuchen, uns selbst, die wir uns als grundlegend fehlerhaft empfingen, irgendwie zu reparieren.
… und die neuen
Warum ist es so schwierig, neue Geschichte über uns selbst zu kreieren?
Stell dir vor, du darfst jede Woche in die Bibliothek gehen und dir ein Buch ausborgen. Das Problem dabei ist, dass dir nur ein einziges Regal in dieser Bibliothek zugänglich ist, und in diesem einen Regal befinden sich zum Beispiel ausschließlich Bücher über brave Mädchen, die Ponys lieben, gute Noten schreiben, ihre jüngeren Geschwister hüten und ihren Eltern nichts als Freude bereiten. Oder ausschließlich Bücher, die von furchtlosen, supersportlichen Superheldinnen handeln, die niemals weinen oder Fehler machen. Oder ausschließlich Bücher über Frauen, die mit Haut und Haar in ihrer Mutterrolle aufgehen und absolut zufrieden damit sind, ihren wohlgeratenen Nachwuchs zu versorgen und zu fördern.
Tag für Tag liest du in diesen Büchern, und Woche für Woche borgst du dir ein neues aus.
Was, denkst du, würde dann mit deiner Fantasie passieren? Wärst du in der Lage, dir völlig andere Geschichten für dich und dein Leben auszudenken?
Im echten Leben geht es ähnlich zu wie in dieser Bibliothek. Wir wachsen in einem Familiensystem mit bestimmten Mustern und Glaubenssätze auf und übernehmen diese unbewusst. Wir umgeben uns mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie wir, wir bewegen uns in einem vertrauten Umfeld, wir rufen in unsere Social-Media-Echokammer hinein und bekommen als Hall zurück, was wir schon kennen, wir probieren selten etwas Neues aus, und selbst wenn wir auf Urlaub fahren, wollen wir essen und trinken, was uns bekannt ist und ungefährlich erscheint, statt tatsächlich neue Welten zu erobern.
Um neue Geschichten über uns selbst zu erfinden, brauchen wir ein inspirierendes Umfeld, brauchen wir Menschen, die uns ganz neue Möglichkeiten eröffnen, brauchen wir abenteuerliche und weite Horizonte. Wir brauchen neue Worte und eine neue Sprache. Nur dann können wir uns ganz neue Geschichten über uns selbst erzählen.
Welche Geschichten glaubst du dir?
Warum fällt es uns so schwer, uns neue Geschichten über uns selbst zu glauben?
Angenommen, du hast die alten Geschichten, die bewirken, dass du dich klein und kläglich fühlst, identifiziert. Und du hast beschlossen, dass du dir ab sofort neue Geschichten über dich selbst erzählst – Geschichten, mit denen du dich stark und groß, erfolgreich und authentisch fühlst.
Statt „Ich war noch nie sportlich, und Fitness-Studios sind nichts für mich“ erzählst du dir zum Beispiel von nun an: „Ich liebe Bewegung, und da mir meine Gesundheit wichtig ist, gehe ich dreimal die Woche ins Fitness-Studio.“
Das klappt ganz gut, so ungefähr zwei bis drei Wochen lang. Oder vielleicht sogar zwei, drei Monate. Dann gehst du nur noch einmal pro Woche ins Fitness-Studio. Und irgendwann gar nicht mehr. Die Geschichte, die du dir dann erzählst, lautet wahrscheinlich so: „Ich hab’s ja gleich gewusst, ich bin einfach kein Mensch, der sowas durchhält. Es macht gar keinen Sinn, es auszuprobieren, ich schaffe das sowieso nie!“
Das ist schade. Denn es braucht einfach Zeit, bis die neuen Geschichten Wirkung zeigen. Es braucht Zeit, bis unser Verhalten „nachzieht“. Es braucht Zeit, bis wir neue Gewohnheiten gefestigt und eine neue innere Haltung angenommen haben.
Aber meistens geben wir auf, ohne uns die nötige Zeit für tiefgreifende Veränderungen zuzugestehen. Und dann denken wir, wir hätten versagt, und sehen uns in den alten Geschichten bestätigt, statt an unseren neuen Geschichten dranzubleiben.
Wir stellen die neuen Bücher zurück ins Regal, ohne sie fertig gelesen zu haben, und lesen wieder in den alten Schmökern. Weil sie uns vertraut sind. Und weil es einfacher ist.
Aber das muss nicht so sein. Du kannst dich auch dafür entscheiden, die nötige Kraft und Energie zu investieren, an deiner neuen Geschichte weiterzuschreiben. Sie zu verfeinern. Sie so anzupassen, dass du sie mehr und mehr verinnerlichst.
Eine richtig gute Geschichte zu schreiben dauert mehr als ein paar Tage. Auch mehr als ein paar Monate. Du veredelst damit dein Leben – und das ist nun mal ein Opus Magnum.
{Ein weiterer Grund dafür, dass es uns schwer fällt, uns unsere neuen Geschichten zu glauben, ist der, dass es nicht ausreicht, uns diese Geschichten zu ERZÄHLEN – wir müssen sie auch VERKÖRPERN. Stichwort Embodiment – aber dazu ein andermal mehr.}
Pssst: Natürlich BIST du genauso wenig die neuen Geschichten, die du dir über dich selbst erzählst, wie die alten. Auch die neuen sind wiederum nur Geschichten. Egal, ob du ins Fitness-Studio gehst oder auf der Couch liegst, egal, ob du zum Wahlarzt mit schicker Ordi oder zum Hausarzt nebenan mit Wartezimmer im 80er-Jahre-Flair gehst – du bist weder das eine noch das andere. Du bist viel, viel mehr als all deine Erfahrungen, als all deine Glaubenssätze, als all deine Geschichten, seien sie stärkend und nährend oder entmutigend und kläglich.
Aber dein mind ist nun mal so programmiert, dass er dir Geschichten über dich selbst erzählt. Und weil das so ist, tust du gut daran, diese Geschichten weise zu wählen. Dir Geschichten über dich selbst zu erzählen, die dir helfen, dich in dein grundsätzliches Gut- und Wertvollsein hinein zu entspannen. Geschichten, mit denen du dich groß und weit fühlst, die dir deine Möglichkeiten aufzeigen, statt solche, die dich so eng und klein machen, dass das, was in dir angelegt ist, keine Chance hat, sich zu entfalten und zu wachsen.
PsychologInnen haben herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit für eine nachhaltige Verhaltensänderung viel größer ist, wenn wir uns Geschichten über uns selbst erzählen, die mit „Ich bin jemand, der …“ oder mit „Ich bin ein Mensch, der …“ oder „Ich bin eine Frau, die …“ beginnen.
„Ich bin ein Mensch, der dreimal die Woche zum Training geht“ ist viel wirksamer als „Ich gehe dreimal die Woche zum Training“.
Finde einen kraftvollen und stimmigen Satz, der eine neue Geschichte über dich erzählt.
Zum Beispiel:
„Ich bin eine Frau, die gut für sich selbst sorgt und sich täglich eine kleine Auszeit nimmt.“
„Ich bin ein Mensch, dem innere Ruhe wichtig ist, und der jeden Tag mindestens fünfzehn Minuten meditiert.“
„Ich bin jemand, der das Leben in vollen Zügen genießen kann.“
Schreib diesen Satz 66 Tage lang täglich in dein Journal.
Viel verlangt?
Ja, viel verlangt.
Aber genau das ist jene Art von Kraftaufwand, die du investieren musst, wenn du dich nicht miserable, sondern strong fühlen willst.
That’s the way the cookie crumbles, honey. Hell Yeah!
Titelfoto: Jenna Anderson on Unsplash