Eigentlich wüsste ich, was jetzt zu tun ist. Drei bewusst tiefe Atemzüge vom Beckenboden bis zum Scheitel, mein Mantra denken und schon ist alles gut. Hinter mir ist kein Säbelzahntiger. 50 ungelesene Mails im Postfach sind kein Grund für Panik.
Ich nehme aber nicht drei bewusste tiefe Atemzüge, sondern greife zur Stress-Schoki. Zur Panik gesellt sich jetzt noch das schlechte Gewissen. Hurra.
MIND THE GAP.
Eigentlich wüsste ich, dass es nichts bringt, meinen pubertierenden Herrn Sohn durch seine zugesperrte Zimmertür hindurch anzubrüllen, weil die Küche wieder einmal so aussieht, wie sie eben aussieht, nachdem er hindurchgefegt ist.
Ich brülle trotzdem durch die versperrte Zimmertür. Mein Herr Sohn nimmt mich nicht einmal wahr – er hat Kopfhörer auf.
MIND THE GAP.
Eigentlich wüsste ich, dass ich zu Anfragen, bei denen mein Bauch seltsam zu grummeln beginnt, Nein sagen muss, weil es jedes Mal ein böses Ende nimmt, wenn ich nicht auf meine Intuition höre.
Ich sage trotzdem Ja. Und es nimmt ein böses Ende.
MIND THE GAP.
Eigentlich wüsste ich, dass ich mir ausreichend Schlaf gönnen muss, weil es sonst nur eine Frage der Zeit ist, bis die nächste Migräneattacke mich für mehrere Tage lahmlegt.
Ich schlafe trotzdem viel zu wenig. Hallo Migräne, alte Freundin. Nett, dass du wieder mal vorbeischaust und mich zur Ruhe zwingst.
MIND THE GAP.
Eigentlich wüsste ich, dass ich gleich am Morgen schreiben sollte, weil Schreiben das ist, was ich am liebsten tue und was ich am besten kann – und weil ich am Ende des Tages nur dann erfüllt sein werde, wenn ich meiner größten Leidenschaft Raum und Zeit gegeben habe.
Also setze ich mich frühmorgens zum Computer und … öffne mein Mailprogramm. Natürlich nur um kurz nachzuschauen, nicht um Mails zu beantworten. Aber beim Schauen bleibt es natürlich nicht, und eine halbe Stunde später bin ich völlig absorbiert vom täglichen Kleinkram, der so tut, als wäre er dringend. Und schon ist der Vormittag vorbei und ich habe kein Wort geschrieben.
MIND THE GAP.
„Die Inkongruenz zwischen Verstandenem und Gelebtem gilt es auszuhalten“, sagte einst einer meiner Lehrer.
Diesen Satz halte ich mir fast täglich vor Augen.
Denn oft ist wirklich schwer auszuhalten: Wir wissen, was uns gut tut, aber wir tun es nicht. Wir wissen, dass wir nur mit Gelassenheit weiterkommen, aber wir lassen uns immer wieder aus der Ruhe bringen. Wir wissen, wonach unser Herz sich sehnt, aber wir erlauben uns nicht, ihm zu folgen.
Wie oft schon bin ich – euphorisch und voller Glückseligkeit – von einem Meditations-Retreat, einem tollen Seminar oder einem inspirierenden Coaching zurückgekehrt und habe gedacht: Ich hab’s! Jetzt weiß ich, wie Leben funktioniert! Prioritäten setzen, Zeit für Stille, liebevolle Beziehungen pflegen, Achtsamkeit kultivieren, mich fokussieren und abgrenzen, immer schön gelassen bleiben, ausreichend Bewegung und Schlaf, weniger Zucker und Kaffee, mehr Regelmäßigkeit in mein Leben bringen, und mit allem einverstanden sein, was ist …
Und wie oft schon bin ich böse auf die Nase gefallen nach einem solchen Höhenflug – und war frustriert und verzweifelt.
Wie oft habe ich auf DIE LÜCKE gestarrt zwischen dem, was ich glaubte, verstanden zu haben, und dem, was im Moment für mich lebbar war.
„Mind the gap“ – dieser Satz erinnert uns nicht nur in der Londoner Tube daran, dass es gefährlich ist, die Lücke zu übersehen. Die Autorin und Sozialforscherin Brené Brown nutzt diesen Satz als Metapher für die Lücke zwischen dem Menschen, der wir im Moment sind und dem, der wir sein könnten – oder wollen. Zwischen unserem jetzigen Entwicklungsstand und der besten Version von uns, unserem „idealen Selbst“ sozusagen.
Diese Lücke zu übersehen ist gefährlich. Denn wenn wir hineinfallen, hören wir auf, an uns zu glauben.
Mind the gap – das bedeutet, achtsam zu sein und sich daran zu erinnern, dass wir Menschen sind und keine Maschinen. Dass Fehler und Scheitern zum Plan gehören, und dass wir hier auf Erden sind, um immer weiter zu lernen, zu reifen und zu wachsen, und nicht um wie perfekte FilmheldInnen ein Fake-Leben zu führen.
Können wir unseren Blick auf das richten, was wir schon verwirklicht und erreicht haben, anstatt uns für das zu kritisieren, was wir noch nicht auf die Reihe bringen?
Können wir mitfühlend mit uns selbst und unseren „Rückfällen“ sein, weil es nun mal um so viel leichter ist, auf die alten Gewohnheitsautobahnen zurückzukehren, als neue Wege zu gehen?
Können wir uns Anerkennung dafür zollen, dass wir es immer wieder VERSUCHEN und uns redlich bemühen, statt unsere Fehler und unser Scheitern als Beweis dafür zu sehen, dass wir nicht gut genug sind oder es niemals schaffen werden?
Können wir lernen, uns selbst geduldig und liebevoll beim Hinfallen und Wiederaufstehen zuzusehen wie einem kleinen Kind, das gerade das Laufen lernt?
Können wir uns selbst lieben in unserer herrlich unvollkommenen Vollkommenheit?
Am Ende geht es wieder einmal darum, zu akzeptieren, was ist.
Am Ende geht es wieder einmal darum, mich als den Menschen zu lieben, der ich im Moment bin, mit genau den Möglichkeiten, die dieser Mensch im Moment hat.
Am Ende geht es wieder einmal darum, dem Leben Recht zu geben.
Lass dich von der Lücke motivieren, nicht frustrieren. Sie hilft dir, immer wieder aufzustehen, neu anzufangen, weiterzugehen.
Es ist eine Reise ohne Ende. Wir werden niemals ankommen, denn es gibt kein Ziel.
Wichtig ist nur, dass die Richtung stimmt, und dass wir nicht stehen bleiben, sondern immer weitergehen – und dabei die schöne Landschaft genießen.