Start with EI! Wie du herausfindest, was du wirklich willst

Journaling Expertin Laya Commenda trägt ein rotes Kleid und hält ein Journal auf dem Schoß

Sie sitzt mir gegenüber und verdreht die Augen. Rückt hektisch ihre Brille zurecht. Blickt verzweifelt gen Himmel und ringt die Hände.

„Wenn ich nur wüsste“, seufzt sie, „wo ich mein Ei hinlegen soll!“ Und tatsächlich wirkt sie auf mich wie ein nervöses Huhn, das hierhin und dorthin läuft, am Boden scharrt, aufgeregt gackert und einfach nicht weiß, wohin mit sich und seinem kostbaren Ei.

Sie ist Mitte 40, ihre Kinder sind erwachsen und sie hat einen sicheren Büro-Job. „Aber er erfüllt mich nicht“, sagt sie.

Ich kenne solche Gespräche. Und ich weiß, was ich in solchen Momenten tun muss: nichts – außer warten. Und zuhören.

Denn die Menschen, die auf der Suche nach dem richtigen Platz für ihr Ei sind, wissen die Antwort auf ihre Frage längst. Sie schlummert tief in ihrem Inneren – aber sie haben noch keinen Zugang dazu gefunden. Denn da sind so viele Abers. So viele Ängste. So viele Blockaden. So viele „Das-geht-doch-nicht“-Stimmen im Kopf. Und so viele Ideen.

Also höre ich zu, und während sie weiter erzählt, warte ich auf diesen EINEN Moment. Denn auch das weiß ich: Er kommt zuverlässig. Dieser EINE Moment, in dem etwas Neues aufblitzt. In dem sich die Stimme, die Haltung, der Blick verändert. Der eine Moment, in dem plötzlich Be-geist-erung im Raum ist. In dem ein anderer Geist weht.

Bei ihr ist es der Moment, in dem sie beginnt, von Jugendlichen zu erzählen. Und dann, ganz schüchtern, fast verschämt, sagt: „Ich könnte ja Jugendliche mit Behinderungen betreuen, aber …!“

Auch dieses ABER kenne ich aus hunderten Gesprächen: Zu alt, nicht genug Geld, nicht genug Zeit, nicht genug …. (hier deine Lieblingsausrede einsetzen).

Wie oft bin ich Menschen wie ihr gegenübergesessen. Wie oft habe ich die Geschichte mit dem Ei schon gehört. Wie oft habe ich Menschen sagen hören, dass alles in Ordnung ist – aber dass etwas Entscheidendes fehlt. Etwas, das sich nach „JA!!! GENAU HIER BIN ICH RICHTIG!!!“ anfühlt. Etwas, das nach Fülle und Erfüllung schmeckt.

Und wie oft erschienen mir die geheimen Wünsche und Träume dieser Menschen so machbar, so unschuldig, so verwirklichbar, so bescheiden.

Klar – ich habe ja auch nicht IHRE Blockaden, sondern meine eigenen ?

Start with WHY?

„Start with why” – dieser TedTalk von Simon Sinek aus dem Jahr 2009 ist mittlerweile legendär.

Das WHY ist die große Vision. Das, woran ein Mensch glaubt. Das, was er als zentrale Lebensaufgabe erkannt hat. Das, was durch ihn in die Welt kommen möchte.

Dieses WHY ist groß, und es überfordert uns mitunter so sehr, dass wir uns wie gelähmt fühlen – oder wie ein orientierungsloses Huhn durch die Gegend laufen. 

Deshalb halte ich viel von der kleinen Schwester von „Start with WHY“:

Start with EI!

# 1 Der Unterschied zwischen Glück und Erfüllung

Mindestens ein Jahrzehnt lang haben zahllose Glücksbücher und -blogs unsere Gehirne gewaschen, aber nun befinden wir uns bereits mitten in der Gegenbewegung. Die Suche nach Glück kann uns nämlich, wie man inzwischen herausgefunden hat, ziemlich unglücklich machen – oder zumindest unzufrieden.

„Glück ist was für Augenblicke“, schrieb Christine Nöstlinger. Ja – glückliche Augenblicke sind wunderbar, aber was wir wirklich wollen, ist nicht kurzfristiges Glück, sondern langfristige Erfüllung.

Und was erfüllt uns? Zu wissen, dass wir eine wichtige Aufgabe er-füllen. Unsere ureigenste nämlich.

„Erfüllung ist nicht einfach ein anderes Wort für Glück. Glücklich machen uns viele Dinge […] Aber Glück dauert nur kurz; das Glück hält nicht an. […] Erfüllung geht tiefer. Erfüllung ist dauerhaft. […] Es ist nicht notwendig, dass uns unsere Arbeit immer glücklich macht, aber wir können dennoch jeden Tag erfüllt nachhause gehen, weil wir uns als Teil eines größeren Ganzen fühlen. Das ist der Grund, warum äußerer Erfolg wie hoher Lohn oder Status uns unerfüllt lassen. Erfüllung fühlen wir dann, wenn unsere Arbeit einen direkten Bezug zu unserem WARUM hat.“
~ Simon Sinek

Das WIE und das WAS sind gar nicht so wichtig. Mir ist es mittlerweile egal, ob ich Yoga oder Tanzen unterrichte oder Schreibseminare halte oder selbst schreibe oder eine Teamsitzung leite oder mich um meine Buchhaltung kümmere. ALLES kann erfüllend sein, wenn es im Einklang mit meinem WARUM ist.

Aber dieses Warum ist so vielschichtig wie eine Zwiebel. Wenn wir uns ständig damit beschäftigen, zu ihrer Mitte vorzudringen, dann haben wir keine Zeit, um uns auszuprobieren, Erfahrungen zu machen und zu experimentieren. Die Schichten durchdringen wir ganz von selbst, eine nach der anderen, wenn wir ins Tun kommen.

Also lieber nach kleinen Momenten des Erfülltseins Ausschau halten und uns an ihnen entlang hanteln, bis sie immer häufiger und selbstverständlicher werden!

# 2 Woran du erkennst, dass du DEIN Ei noch nicht gelegt hast

Du fühlst dich verwirrt, verzettelst dich und lässt dich ständig ablenken. Du hebst jeden Stein am Wegesrand auf, in der Hoffnung, darunter ENDLICH jenen Diamanten zu finden, nach dem du schon dein Leben lang suchst.

Du pflanzt an einer Stelle einen Samen, aber statt bei ihm zu bleiben, ihn zu hegen und zu pflegen und geduldig zu warten, bis er aufgeht, wirst du ungeduldig, läufst davon und pflanzt an einer anderen Stelle einen neuen. Und wieder läufst du davon und beginnst von vorn. Und wieder. Und wieder.

Du bohrst nach Öl, aber statt tief genug zu graben, um auf den kostbaren Rohstoff zu treffen, hörst du auf, sobald es anstrengend wird, und bohrst an einer anderen Stelle weiter.

Weißt du was? Das ist völlig in Ordnung. Viele Menschen gehen durch solche Phasen –manchmal dauern sie sogar jahrzehntelang. Viele drehen etliche Runden im Supermarkt der Berufungen, bis sie wieder an den Start zurückkehren und begreifen: „WOW! Das ist es! Es lag so nah, direkt vor meiner Nase! Wie konnte ich nur so blind sein und es nicht erkennen?“

Aber mit Sicherheit war keine der gemachten Erfahrungen umsonst.

Manchmal müssen wir eben vieles ausprobieren, um herauszufinden, was NICHT zu unserem WARUM passt, um schließlich zu erkennen, was für uns wirklich stimmig ist.

# 3 Die „Follow your passion“-Falle

Zugegeben, „Follow your passion!“ klingt viel sexyer als „Finde einen sicheren Job, bau ein Haus, gründe eine Familie, und sorge dafür, dass du dir im Ruhestand eine Kreuzfahrt leisten kannst!“

Aber es macht genau so viel Druck.

Leidenschaften gibt es viele. Würde ich jeder passion folgen, die in mir aufflammt und mir vorgaukelt, sie sei mehr als ein Strohfeuer und würde mir letztendliche Erfüllung bescheren, dann hätte ich nicht erst fünf, sondern schon mindestens 50 Berufe ausgeübt.

Es gibt etwas tieferes als Leidenschaft – und dieses Tiefere ist Liebe. Wir kennen es aus Beziehungen: Leidenschaft, das ist Haben- und Besitzenwollen, aber Liebe, das bedeutet, sich geduldig mit jemand anderem auseinanderzusetzen, dranzubleiben, auch wenn gerade absolut keine passion spürbar ist, und nicht davonzulaufen, auch wenn uns andere Verlockungen zuzuzwinkern und zu sagen scheinen: „Mit mir geht alles viel leichter und einfacher!“

Passions können subtile Ablenkungsmanöver sein. Was habe ich mich – ganz passionate – schon mit Superfoods, Ernährungsstrends und hochkomplexen Meditationsmethoden auseinandergesetzt, nur um mich vom Schreiben zu drücken?

„Noble obstacles“ nennt Jon Acuff solche noblen (und dadurch umso perfideren) Ablenkungsmanöver.

Daher: Tapp nicht in die „Follow your passion“-Falle! Leg dein Ei irgendwohin, wo es sich gut anfühlt, und dann setz dich drauf und brüte. Vielleicht stolziert ein schillernder Hahn vorbei. Aber nein – du springst nicht auf und läufst ihm hinterher, sondern bleibst schön geduldig sitzen.

Don’t follow your passion. Breed with love!

# 3 Welchen Preis bist du zu zahlen bereit?

Kürzlich waren mein Team und ich beim Ziegenyoga. Die Ziegenyoga-Lady erzählte, dass sie und ihr Mann auf Urlaub verzichten, seit sie Ziegen haben, und dass ihr Wohnzimmer ganz schön gemuffelt hat in der Zeit, in der sie zwei junge Ziegenböcke zuhause mit der Flasche aufzog.

Nun ja, so etwas muss man mögen.

Nichts ist immer angenehm. Auch der größte Erfüllungs-Jackpot hat irgendeine Kehrseite. Auch die erfüllendste Aufgabe kann manchmal quälend sein – oder stinken.

„Shit-Sandwich“ nennt Mark Manson das. Bist du bereit, zwei labbrige, langweilige Brötchenhälften runterzuwürgen, um an die leckere Sandwichfülle zu kommen, für die du dich entschieden hast?

Es gibt das eine nicht ohne das andere. Egal, welches Ei du wohin legst – du wirst ein Shit-Sandwich ausbrüten …

# 4 Du wirst noch viele Eier legen

Was macht es so schwer, uns für EINEN Ort zu entscheiden, an den wir unser Ei legen?

Ganz einfach: Dass dieses JA zu einem Ort ein NEIN zu allen anderen zu sein scheint.

Aber damit begehen wir einen großen Denkfehler. Wir legen ein Ei, wir brüten es aus, wir bringen dem Küken bei, auf eigenen Beinen zu stehen – und schon reift in uns etwas Neues heran und wir legen, gewachsen und gereift an den Erfahrungen, die wir gemacht haben, das nächste Ei.

Es geht also nicht um einen generellen Verzicht, sondern nur um einen temporären. Zugegeben, ALLES geht sich in einem Leben nicht aus – aber vieles. Und manches ist aus der Nähe betrachtet gar nicht mehr so attraktiv wie von unserem Brutplatz aus gesehen. 

# 5 Du willst ein Adler sein, kein Huhn

Ein Huhn sieht nur so weit, wie sein Schnabel lang ist. Ein Adler sieht die gesamte Landschaft des Lebens. Das Huhn läuft dem nach, was gerade vor seinen kurzsichtigen Augen erscheint. Ein Adler sieht weiter. Er ist bereit, instant gratifications gehen zu lassen, um auf lange Sicht erfüllt zu sein. Er weiß, wo sein Adlerhorst ist. Er macht Aus-Flüge, aber er kehrt zurück. Er pickt nicht einmal hier, einmal dort ein Körnchen auf, sondern hält Ausschau nach der richtig fetten Beute – einer Beute, die ihn auf lange Sicht satt machen wird. Er ist geduldig genug, Runde um Runde in der Luft zu kreisen, um dann plötzlich – genau zur richtigen Zeit, genau am richtigen Ort – zuzuschlagen.

Aber wenige von uns werden als Adler geboren. Ein paar Huhn-Erfahrungen braucht es meistens, um genau den Überblick, genau die Klarheit und genau die Ausdauer zu entwickeln, die wir brauchen, um wirklich GROSSE Visionen zu verwirklichen.

Werde zum Adler – aber start with EI!

Natürlich, es gibt auch Eier, aus denen niemals ein Küken schlüpfen wird. Sie sind nicht besamt/beseelt. Auf einem solchen Ei sitzen zu bleiben, bis dir die Federn ausfallen, macht wenig Sinn. Also prüfe: Ist dein EI lebendig? Ist es beseelt? Ist es wirklich dein eigenes und kein Kuckucksei?

Wenn es dieser Prüfung standhält, dann starte mit EINEM Ei. Setz dich darauf, gackere zufrieden und brüte. Hab Vertrauen. Es lohnt sich!

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