Ein Kloß im Magen.
Der Hals zugeschnürt, die Stimme gepresst.
Die Nächte schlaflos, die Hände unter der Decke zu Fäusten geballt.
Und dann die innere Stimme: Du solltest nicht.
Solltest nicht wütend sein. Solltest dich nicht ärgern. Solltest gelassen sein und gutmütig und zufrieden und ein braves Mädchen, wenn möglich auch ein hübsches.
Lasst mich euch sagen, meine Lieben: Das ist noch das Harmloseste, was passiert, wenn wir unsere Wut unterdrücken.
Denn Wut, die keinen Ausdruck und kein Ventil findet, macht uns auf Dauer krank. Körperlich. Und psychisch. Sie wendet sich nach innen.
Wut, die wir hinunterschlucken, ist toxisch. Wut, die wir unterdrücken, lässt unsere Lebenskraft versiegen.
Wir spüren es, und doch tun wir es.
Wir schlucken sie hinunter, unsere Wut.
Wir unterdrücken ihn, unseren Zorn.
Wir fühlen uns schlecht und schuldig, WEIL wir überhaupt so etwas empfinden.
Wir geben uns selbst die Schuld. Wir schämen uns dafür, und glauben, es sei ein Zeichen von Schwäche.
Und das, obwohl es – besonders für uns Frauen – sehr viele sehr gute Gründe gibt, wütend zu sein und uns zu entrüsten. Wenn wir uns das nicht zugestehen und unsere Wut nicht annehmen, dann berauben wir uns selbst unserer Ganzheit, unserer Ursprünglichkeit und unserer Lebensenergie. Zur unterdrückten Wut, die irgendwo in unserem Körper heimlich ihr Unwesen treibt, gesellt sich dann noch der Schmerz darüber, dass wir uns selbst im Stich gelassen haben, dass wir etwas nicht haben wollten, was zu uns gehört, und dass wir uns von unserer Essenz und unserem heiligen (weiblichen) Zorn abgetrennt haben.
Uns selbst in Frage zu stellen, weil wir „überempflindlich“ sind, ist eine häufige Form, wie besonders Frauen ihren berechtigten Zorn und ihren Schmerz aberkennen. […]
Die Tatsache, dass manche von uns sich in einem bestimmten Kontext verletzlicher fühlen als andere, bedeutet in keiner Weise, dass wir schwächer oder weniger wert sind.
~ Harriet Lerner
Warum verdrängen wir unsere Wut?
Erstens: Weil wir nicht gelernt haben, dass es okay ist, wütend zu sein.
Für mich als Mädchen in meiner Familie war von Anfang an klar: Angst zu haben ist okay. Traurig zu sein ist okay. Aber wütend und aggressiv zu sein ist NICHT okay!
Vielleicht ging es dir ähnlich – und wir sind damit definitiv nicht alleine. Von Mädchen wird etwas anderes ERWARTET, sowohl von ihren Eltern als auch von Lehrer*innen und anderen Erwachsenen. Wenn Mädchen sich von ihrer wütenden Seite zeigen, reagieren Erwachsene oft mit Betroffenheit oder diesem typischen „Was stimmt denn mit IHR nicht“-Blick, während dieselben Erwachsenen auf aggressive Jungs verständnisvoll bis anerkennend reagieren. Mädchen lernen schnell, dass sie ihren Status, ihre Beliebtheit, ihre Beziehungen und ihren Erfolg riskieren, wenn sie ihre Wut ausdrücken. Dieses Risiko scheint zu groß. Also wendet sich ihre Wut-Energie nach innen – denn sie wissen nicht, dass sie damit noch viel mehr riskieren: Ihr Selbstwertgefühl, ihre Macht, und ihre Gesundheit.
Wir schauen weg, wenn Mädchen wütend sind, und dadurch spielen wir jenen Systemen in die Hand, die ihren Selbstwert untergraben.
Dann drehen wir uns um und wundern uns, warum es in ihrer „Natur“ liegt, dass Frauen so wenig Selbstwertgefühl haben.
~ Soraya Chemaly
Zweitens: Weil uns die Vorbilder fehlen.
Na schön, wir haben vielleicht Jeanne d’Arc, die trug immerhin ein Schwert, aber leider endete sie als Märtyrerin auf einem Scheiterhaufen. Ansonsten gibt’s, so weit das Auge in unserem Kulturkreis reicht, hauptsächlich sanfte, friedliche, rehäugige weibliche Role Models, und die, die es nicht sind, erleiden meist ein tragisches Schicksal.
Anders sieht es da schon in anderen Kulturkreisen aus: Die Hinduisten haben Kali, die schwarze Zerstörerin. Sie verkörpert den Zorn der Göttin Durga, der sich gegen Ungerechtigkeit und alle Arten von Dämonen richtet. Kali zerstört alles Ungesunde, sie durchschneidet mit ihrer messerscharfen Sichel jede Verwirrung und Illusion, sie steht für Tod und Vernichtung – und damit auch für Neugeburt.
Auch im tibetischen Buddhismus gibt es solche zornigen weiblichen Gottheiten. Sie fletschen die Zähne, tragen gefährliche Waffen und sehen furchterregend aus. Ganz anders als unsere Mutter Gottes oder Maria Magdalena! Und das macht einen Unterschied.
Drittens: Weil wir Angst vor unserer Wut haben.
Wut ist Lebensenergie in einer ihrer kraftvollsten Ausdrucksformen. Wut ist Transformationsenergie. Lassen wir diese Energie fließen, statt sie in unserem Körper zu speichern, wo sie irgendwann zum Magengeschwür, zur Migräne, zur Depression oder zur Autoimmunerkrankung (*) wird, dann geschieht Veränderung.
Das wollen wir, einerseits. Andererseits haben wir auch große Angst davor. Wir trauen uns nicht, die Büchse der Pandora zu öffnen – denn wir können Veränderung nicht kontrollieren. Wir können nicht planen, was geschieht, wenn wir die Wut-Energie nutzen, um mutig zu sprechen und zu handeln. Wir können uns nur darauf einlassen und vertrauen. Und ich finde: Wir Frauen dürfen uns ruhig einen lautstarken „Überschwinger“ leisten, statt unsere Wut mit einem zaghaften „Also, das ist für mich eigentlich nicht so ganz okay….“ auszudrücken!
Wer weiß, vielleicht ist unsere Angst, die Zuneigung oder den Respekt anderer zu verlieren, unbegründet. Wer weiß, vielleicht geschieht genau das Gegenteil …
Es ist kein Wunder, dass es für uns schwierig ist, zu bemerken, dass wir wütend sind – und noch schwieriger, es uns einzugestehen.
Warum sind wütende Frauen so bedrohlich für andere?
Wenn wir uns schuldig fühlen, deprimiert sind, oder an uns selbst zweifeln, dann bleiben wir, wie und wo wir sind. Wir agieren nicht – außer gegen uns selbst. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir uns für persönliche und soziale Veränderung einsetzen. Im Gegensatz dazu fordern wütende Frauen uns heraus und können unser aller Leben verändern.
~ Harriet Lerner
Wut erfordert Mut. Wut lässt unseren Mut aber auch wachsen – wenn wir lernen, ihre Energie zu nutzen, statt sie gegen uns selbst zu wenden.
Viertens: Weil wir glauben, wütend zu sein sei nicht „spirituell“.
In diese Falle bin ich lange getappt, ohne es zu merken. Ach, wie stolz war ich auf meine Gelassenheit, meinen inneren (Schein-)Frieden und meinen spirituellen „Fortschritt“!
Spiritual bypassing vom Feinsten, sag ich nur – und natürlich dauerte es nicht lange, bis sich meine Schein-Heiligkeit in passiv-aggressivem Verhalten ausdrückte 😉
Es ist alles andere als spirituell, bestimmte Emotionen auszuklammern. Wenn der spirituelle Pfad nicht zur Ganzheit führt, dann: Nein, danke. Für mich bedeutet Spiritualität, alles, wirklich ALLES, was da ist, willkommen zu heißen (und das ist die schwierigste Übung überhaupt). Es, wenn möglich, aufrichtig zu fühlen und liebevoll zu betrachten. Und dann bewusst zu entscheiden, was wir nun daraus machen wollen.
Also.
Wenn du gesund, selbstbestimmt und schöpferisch leben willst, musst du aufhören, deine Wut zu unterdrücken.
Denn Wut öffnet uns die Augen (**). Wut hilft uns, zu sehen, was der Veränderung bedarf. Wut hilft uns, für uns selbst einzustehen. Wut hilft uns, gesunde Grenzen zu setzen, und ungesunde Grenzen zu sprengen.
Mach dir ein Bild von einer Frau, die ihre Stärke mitsamt allen vorwärts strebenden Impulsen lebt. Und wenn du fürs Erste übers Ziel hinausschießt und dabei die Zartpfotigkeit, die Zerbrechlichkeit auf der Strecke bleiben, spielt das keine Rolle.
Ich bin zuversichtlich. Ich habe viele Frauen in diesem Prozess begleitet und habe erlebt, dass wir das, was in uns ist, nicht verlieren können, nur weil wir ein wenig herumknallen. ~ Julia Onken
Wenn nicht unterdrücken – wohin dann mit der Wut?
Manchmal sitzen mir Coaching-Klientinnen gegenüber, und ich kann die Wut spüren, die sie sich selbst nicht zu spüren trauen. Kaum kommt ihnen ein Ausdruck von Ärger oder Zorn über die Lippen – über den Chef, die Eltern, den Partner oder die Kinder – zucken sie zurück und relativieren ihre Aussage gleich wieder. Sie wagen nicht, in Kontakt zu kommen mit diesem Ort in ihrem Inneren, an dem die Quelle der Wut sitzt. Aber das ist jammerschade, denn genau dort ist auch die Quelle der Kraft!
Also begleite ich diese Klientinnen in die Welt ihrer inneren Bilder und zeige ihnen, wie sie die Weisheit ihres Körpers nutzen können, um die Wut-Energie in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich erinnere mich an eine Klientin, deren Wut sich zunächst in Form eines spitzen Speers zeigte, der sich dann im Laufe des Prozesses in einen Zauberstab verwandelte, mit dem sie all das in ihrem Leben verändern konnte, was sie schon längst verändern hatte wollen.
Ja. So geht der Weg.
Niemand verlangt von uns, blind vor Wut um uns zu schlagen. Es geht auch nicht darum, jedem Ärger ungebremst Luft zu machen. Es geht um selbstbewusstes, authentisches Ausdrücken und Handeln. Und darum, die Angst vor besagten „Was stimmt denn mit IHR nicht“-Blicken loszulassen, und uns stattdessen hinzustellen und zu sagen: Mit mir stimmt ALLES, ich bin einfach nur wütend, und das aus gutem Grund!
Wut zu empfinden signalisiert ein Problem, dieser Wut freien Lauf zu lassen löst es aber nicht. […]
Diejenigen von uns, die in ineffektiven Ausdrucksweisen von Wut gefangen sind, leiden genauso wie diejenigen, die gar nicht wagen, wütend zu werden.
~ Harriet Lerner
Hilfreiche Wut-Ventile
Wie können wir nun unsere Wut-Energie auf gesunde Weise fließen lassen, ohne das Problem, auf das die Wut uns hinweist, noch zu vergrößern? Wichtig ist zunächst mal, uns bewusst zu machen, dass wir die Wut nicht unbedingt loswerden wollen. Wir wollen im ersten Schritt einfach ihre Energie in Bewegung bringen, um danach klar sehen zu können, ob ein beherztes Handeln notwendig ist – und wenn ja, welches.
„Bewegung“ ist hier das Stichwort – und nur du kannst herausfinden, was am besten für dich funktioniert! Hier ein paar Anregungen:
- Wild tanzen zu dynamischer Musik
- Laut und energisch stampfen
- Einen extra-strammen Spaziergang machen
- Laut schreien
- Auf ein Kissen einschlagen
- Den Löwen machen
- Schreiben
Auf unschuldige Kissen einzudreschen ist zum Beispiel nicht so mein Ding, andere hingegen schwören darauf. Für mich hat sich neben dem Tanzen das Schreiben als am effektivsten erwiesen, um meiner Wut Ausdruck zu verleihen. „Aufs Papier kotzen“ könnte man es nennen – und so funktioniert’s:
So kannst du deine Wut schreibend ausdrücken
Du kannst:
... einfach drauflos schreiben und alles „aufs Papier kotzen“, was dich ärgert oder wütend macht, egal ob es unser Schulsystem ist, der equal pay day, das rücksichtslose Verhalten deiner Arbeitskollegin oder dein Ex-Mann. Schick deinen inneren Zensor auf Urlaub und sei hemmungslos! Erlaub auch deiner Handschrift, die Wutenergie auszudrücken – „schön“ zu schreiben ist in solchen Momenten absolut nicht angesagt 😉 Schreib so lange, bis du dich leichter und entspannter fühlst (es könnte auch sein, dass du sehr müde wirst). Wenn du magst, kannst du das Papier hinterher zusammenknüllen, zerreißen oder verbrennen!
… einen „Stinkender Fisch“-Brief schreiben. Den Namen „Stinkender Fisch“ habe ich kürzlich von einer Seminar-Teilnehmerin gehört – ihre Therapeutin hatte ihr diese Methode empfohlen, und auch ich und meine Klientinnen haben mit dem Schreiben eines solchen Wut-Briefs super Erfahrungen gemacht. Du schreibst einfach einen Brief an jene Person(en), auf die sich deine Wut richtet. Natürlich wirst du den Brief niemals abschicken. Es geht ausschließlich darum, dass du deine Emotionen ausdrückst und deine Gedanken klärst!
… einen Dialog mit der Wut schreiben. Wie bei allen intensiven Emotionen lohnt es sich, in Dialog mit der Wut zu treten und sie nach ihrer Botschaft zu fragen. Du beginnst also einfach zu schreiben und fragst die Wut, warum sie hier ist, und was sie dir mitteilen möchte. Lass dich überraschen, welcher Dialog sich auf dem Papier entspinnt!
****
Ich glaube, es ist Zeit für uns Frauen, die Kraft unserer Wut zu nutzen, statt sie gegen uns selbst zu richten. Und ich glaube, es ist Zeit für euch Männer, unsere Wut ernst zu nehmen, statt sie zu belächeln, und den Raum für uns zu halten, wenn wir intensive Emotionen zeigen, statt euch vor ihrer Kraft zu fürchten.
Die Wut hat – als frei fließende Kraft – etwas mit unserer Durchlässigkeit, mit unserem Wachsen, dem Erweitern und Auflösen unserer teilweise doch immer noch sehr engen Grenzen zu tun. Die großen Beweger und Bewegerinnen dieser Welt waren keine zögerlichen, ,heiligen‘ Mäuschen.
In der Einheit lebend kristallisiert sich die gewandelte Kraft der Wut in freie, zärtlichste Kreativität, in Mut, in ein authentisches Handeln, Sich-Ausdrücken, Sich-Äußern.
~ Anna Platsch
Welche Ventile hast DU für deine Wut? Was könntest du mit deiner Wut-Energie als erstes verändern? Schreib in die Kommentare – ich freue mich darauf, von dir zu lesen!
(*) Der Arzt, Psychologie, Psychotherapeut und Psychoneuroimmunologe Christian Schubert meint dazu: „Ich vermute, dass Autoimmunpatienten Ärger und Wut nicht richtig wahrnehmen. Das heißt, sie können das, was normale Menschen erleben, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, nicht spüren. Es ist also nicht so, dass sie Wut fühlen, diese aber nicht ausdrücken. Sie spüren das Gefühl gar nicht. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Wut sehr wohl existiert, nämlich in Form einer Immunreaktion. Sie richtet sich gegen den Körper. Autoimmunerkrankungen sind meiner Vermutung nach also Autoaggressionskrankheiten.“
(**) Nicht umsonst sind laut TCM Leber, Galle und die Augen mit der Emotion der Wut verbunden. Unterdrückte Wut macht sich oft durch einen Energie-Stau in der Leber oder durch Probleme mit den Augen bemerkbar!