Während einer Visualisierungsübung tauchte bei einer mir besonders lieben Teilnehmerin kürzlich das Bild eines Papageis auf, der in einem Vogelkäfig sitzt. Die Käfigtür ist offen, aber der Vogel macht keine Anstalten, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen.
Oh mein Gott, wie gut ich das kenne. Die Tür ist weit offen, aber ich Papageiendepp sitze auf meinem Stäbchen und träume von Freiheit.
Vielleicht kennst du die Geschichte von dem kleinen Zirkus-Elefanten, der als Baby an einen Pflock gebunden wurde. Nach kurzer Zeit hat das Tier alles entdeckt, was es in seinem durch das Seil begrenzten Bewegungsradius zu entdecken gibt. Es fühlt sich sicher, alles ist vertraut. Und da jeder Versuch, seine kleine Komfortzone zu verlassen, mit einem schmerzhaften Zerren am Bein verbunden ist, lässt es die Fluchtversuche lieber sein.
Mit der Zeit wächst der Baby-Elefant zu einem stattlichen und ungemein kräftigen Elefantenbullen heran. Nun wäre es ein leichtes für ihn, das Seil zu zerreißen und auf Abenteuerreise zu gehen. Aber was tut er stattdessen? Nun, wir kennen das. (Gefunden habe ich diese Geschichte im Buch Glaubenssätze und Überzeugungen von Pamela Preisendörfer. Ursprünglich stammt sie aus einem Beitrag von Michael Fromm in der Serie „Coaching Tools“).
Im Zoo der dummen Tiere gibt es neben Papageien und Elefanten auch noch ein paar Affen, die sich selbst der Freiheit berauben. Vor langer, langer Zeit hat man eine Bananenstaude ganz oben in ihr Gehege gehängt. Ein besonders gewitzter Affe schaffte es, die Bananen zu erreichen – aber immer, wenn er danach greifen wollte, bespritzten die gemeinen Forscher ihn mit kaltem Wasser. Auch die anderen Affen wurden dabei nass. So kam es, dass jedes Mal, wenn sich wieder einmal ein Affe einen Ruck gab und die Bananen zu erreichen versuchte, die anderen ihn zurückhielten.
Dann wurden die Affen – einer nach dem anderen – durch neue Tiere ersetzt, so lange, bis keiner von der ursprünglichen Affenbande mehr übrig war. Rate mal, was passiert ist? Genau. Obwohl keiner der neuen Affen die Erfahrung von den unangenehmen Wasserspritzern gemacht hatte, kamen sie gar nicht mehr auf die Idee, sich nach der Decke zu strecken und mehr erreichen zu wollen als das, was einfach und ohne Risiko für sie zugänglich war. Sie gaben sich mit dem zufrieden, was sie am Boden zum Fressen fanden, statt nach den süßen Früchten zu greifen.
Nun sag mir, Mensch, der du gerade diese Zeilen liest – welches Tier bist DU in diesem Zoo?
Bist auch du – so wie ich – ein Kind von Eltern, die in der Kriegs- oder Nachkriegszeit großgeworden sind, in der es um Überleben, Existenzkampf und das Wegräumen von Trümmern ging, und beileibe nicht darum, der eigenen Leidenschaft zu folgen und den eigenen Traum zu leben?
Bist auch du – so wie ich – geprägt von einer Zeit, in der Leistungs- und Wachstumsdenken die Norm, ein patriarchales Welt- und Wirtschaftsbild vorherrschend und das naturwissenschaftlich-rationale Denken prägend waren, von einer Zeit, in der die Entfaltung von Spiritualität und Intuition, ein Leben im Einklang mit den Rhythmen der Natur und mit der Weisheit des Weiblichen kaum wahrnehmbare Randerscheinungen waren?
Hast auch du – so wie ich – die Überzeugung mit der Muttermilch aufgesogen, dass es besser ist, sich anzupassen als aus der Reihe zu tanzen, dass es gesünder ist, nicht anzuecken, anstatt die eigene Wahrheit kundzutun, und dass du selbst zu sein dazu führen könnte, weniger geliebt zu werden?
Die Auswirkungen dieser meist unbewussten Prägungen und Glaubenssätze können verheerend sein – oder zumindest jede Menge Stress verursachen. Ein paar Beispiele.
Jedes Mal, wenn wir Besuch erwarteten, wurde in meiner Familie der Tisch festlich gedeckt und der Kuchen feinsäuberlich vorgeschnitten. Der Kaffee – in einer Thermoskanne warmgehalten – war fertig, noch lange bevor die Gäste eintrafen.
In der Familie meines Liebsten hingegen fängt man frühestens dann mit dem Kochen oder Zubereiten an, wenn man eine Runde mit den Gästen geplaudert hat. Dann stehen alle in der Küche herum und beteiligen sich mehr oder weniger eifrig am Zustandekommen der gemeinsamen Mahlzeit, und irgendjemand deckt den Tisch.
Bewusst geworden ist mir meine Prägung – und was sie mit mir gemacht hat – erst, als ich begonnen habe zu erforschen, warum ich zwar liebend gerne Seminare und Workshops halte, mich die Vorbereitung darauf aber immer unglaublich gestresst hat. Eine strenge innere Stimme wollte mir nämlich weismachen, dass es völlig unprofessionell und riskant sei, ein Seminar erst knapp vor dem Termin vorzubereiten.
Allerdings: Mache ich mich erst ein, zwei Tage vor dem Seminar an die Arbeit, so habe ich schon ein gutes Gefühl für die Gruppe und für die jeweilige Zeitqualität, und in meinem Kopf haben sich die Ideen bereits zu einem soliden Konzept verdichtet. Ich brauche dann nur noch alles aufzuschreiben, mein Seminarköfferchen zu packen und fertig.
Es funktioniert also ganz wunderbar auf diese Weise.
Gestresst war ich nicht, weil ich mich erst knapp vor einem Seminar oder Workshop vorbereitete, sondern weil in mir der Glaubenssatz sein Unwesen getrieben hat, dass ich schon viel früher damit anfangen hätte sollen und ich mich beruflich ständig auf dünnem Eis bewegte, wenn ich das nicht endlich auf die Reihe kriegte. Und das alles nur, weil es in meiner Familie üblich war, den Kaffee in einer Thermoskanne warmzuhalten … 🙂
Dann gibt es da auch noch das Geh-mir-weg-mit-deiner-Lösung-Phänomen. Mein Liebster bietet mir an, in den Ferien Zeit mit meinem Sohn zu verbringen oder das Kochen zu übernehmen, damit ich in Ruhe arbeiten kann. Aber in meinem Kopf schwirrt das Bild der „guten Mutter“ aus meiner Kindheit herum – das Bild meiner Mutter, die nicht berufstätig war und ihre Erfüllung in der Aufzucht von uns lieben Kleinen gefunden hat. Also bleibe ich zähneknirschend zuhause und lasse meinen Frust an meinem Sohn aus, statt von meiner Freiheit Gebrauch zu machen.
Ähnliches Muster: die Wahl der Qual. Ein ganzes Jahrzehnt lang – so lange war ich Alleinerzieherin – habe ich Herrn Sohn in den Ferien überall hingeschleppt, wo es nach Familien- und Kinderprogramm roch. Und die Wahrheit ist: Ich habe es gehasst. In diesem Umfeld war ich noch schmerzhafter als sonst mit der Tatsache konfrontiert, keine „vollständige“ Familie und keinen Mann an meiner Seite zu haben, und kämpfte mit meinen treuen Gefährten, den Schuldgefühlen, weil meinem Kind der Vater fehlte.
Inzwischen ist Herr Sohn 14 Jahre alt und ein prachtvolles Puber-Tier, so wie es im Buche steht. Kürzlich ließ er mich unverblümt wissen, dass er nie wieder mit mir auf Urlaub fahren werde. Wie ich ihn gequält hätte, damals als Kind! Wo ich ihn überall hingeschleppt hätte! Ständig diese Abenteuerreisen und Gruppenaktivitäten – ganz furchtbar sei das für ihn gewesen, wo er doch am liebsten einfach zuhause geblieben wäre!
Ich tat entrüstet, innerlich aber musste ich mich schütteln vor Lachen. Die ganze Quälerei nur, weil ich DACHTE, mein Kind brauche in den Ferien unbedingt die Gesellschaft von Gleichaltrigen. Nur weil ich DACHTE, ich sei ihm ein wenig „normales“ Familienleben und Urlaubsfeeling schuldig. Dabei war Herr Sohn von Geburt an ein Mensch, der sich am wohlsten fühlt, wenn er zuhause und nur von wenigen, vertrauten Menschen umgeben ist.
Wir wissen es alle: Die Gitterstäbe sind in unserem Kopf. Die Seile, mit denen wir angebunden sind, auch. Und das Schlimmste, was uns passieren kann, wenn wir nach den süßen Früchten greifen, die zwar ein bisschen außerhalb unserer Komfortzone hängen, die aber so herrlich nach Abenteuer und Entfaltung duften, sind ein paar harmlose Wasserspritzer.
Wir wissen aber ebenso gut: Auch eingebildete Gitterstäbe können schwer zu durchbrechen sein. Auch durch eine offene Käfigtür zu fliehen kostet Mut.
Unsere Käfige können auch golden sein, und sie zu verlassen hat ihren Preis. Wir wissen nicht, was uns da draußen erwartet. Wir wissen nicht, ob es besser sein wird als hier drinnen. Alles was wir wissen können, ist, dass wir, wenn wir den Mut aufbringen, unsere selbst errichteten Gefängnisse zu verlassen, etwas erleben können, das für uns unerreichbar bleibt, wenn wir es nicht tun.
Du hast die Wahl. Auch ein Leben im Käfig kann ganz schön sein – es kommt nur darauf an, welche Art von Vogel du bist.
PS: Entschuldigt bitte, liebe Tiere. Ich weiß, dass ihr nicht dumm seid. Genauso wenig wie wir Menschen. Wir haben uns nur zähmen lassen, genau wie ihr.