„Was du alles schaffst! Ich bewundere dich!“
Ich lächle und sage Danke. Dabei würde ich meinem Gegenüber am liebsten ins Gesicht springen. Nicht weil ich diesen Menschen nicht mag oder weil ich etwas gegen Bewunderung hätte. Sondern weil ich dieses „Was du alles schaffst“ einfach nicht mehr hören kann.
Früher war das anders. Da hat dieser Satz noch wunderbar zu meinem Selbstbild gepasst, ich fühlte mich geschmeichelt und bestätigt, und mein Ego jubelte. Was auch immer passiert, ich schaffe alles. Ich kann tausend Projekte gleichzeitig jonglieren und dabei immer noch freundlich und geduldig bleiben, ziehe meine Meditations- und Yogapraxis kompromisslos durch, ernähre mich superkonsequent supergesund, bin für meine Familie da, wann immer sie mich braucht … und so weiter.
Doch dann kam vergangenes Frühjahr der Moment, in dem ich mir eingestehen musste, dass ich diesen schönen Schein nicht mehr aufrechterhalten konnte – nicht einmal mir selbst gegenüber.Selbstständig zu sein und ein eigenes Yogastudio zu leiten ist an sich schon keine Kleinigkeit. Sich dann noch um schwer kranke Eltern kümmern und tagtäglich ein überaus niedliches, aber durchaus auch durchtriebenes Pubertier zähmen zu müssen, dem die schlechten Schulnoten nur so um die Ohren fliegen, kann frau schon an ihre Grenzen bringen. Darüber hinaus steckte ich mitten im meiner zweiten Yogalehrer-Ausbildung und hatte mir in den Kopf gesetzt, meine tägliche Kundalini Yoga Sadhana konsequent durchzuziehen, zusätzlich zu meiner gewohnten Yogapraxis.
Natürlich blieb es meinem Umfeld nicht verborgen, dass ich immer öfter erschöpft und ausgebrannt war. Sogar das Yoga-Unterrichten, das mir ansonsten stets einen Energiekick beschert, machte mir immer weniger Freude.
„Warst du schon beim Homöopathen?“
„Du, ich kenne da einen Energetiker …“
„Hast du es schon mal mit Zeolith / Heilströmen / Amalaki-Churna / … versucht?“
Auch diese gutgemeinten Ratschläge konnte ich nicht mehr hören. Es war einfach alles zu viel. Und mein eigenes Bild von mir als Superwoman in allen Gassen, das mich in der Vergangenheit oft durch anstrengende Zeiten getragen hatte, geriet ins Wanken.
Trotzdem war ich noch nicht bereit, meine Maske abzulegen. Also wurde ich krank (danke, weiser Körper!). Ein paar Tage lang konnte ich nicht mehr aufstehen, kein einziges Mail schreiben, nicht telefonieren und schon gar nicht Yoga unterrichten.
Als ich dann endlich wieder aus meinem Bett krabbelte, ging ich weder zum Heilpraktiker noch zum Shiatsu, sondern fuhr für drei Tage nach Triest. Dort ließ ich mich, statt Yoga zu üben und zu meditieren, bei einem ausgedehnten Hafenspaziergang von der aufgehenden Sonne verzaubern. Ich ernährte mich weder vegan noch glutenfrei, sondern aß Pizza und Croissants und trank richtig viel Cappuccino. Stundenlang saß ich in der wärmenden Märzsonne im Café, schrieb mir die Finger wund, beobachtete die Menschen rund um mich, und nahm wahr, wie mein Selbstbild und damit auch die Maske, die ich aufgesetzt hatte, langsam zerbröckelten.
Als ich wieder nachhause kam, war ich verwandelt. Ich brach meine Ausbildung ab. Ich entrümpelte meinen Terminkalender. Ich kehrte wieder zu meinen geliebten Morgenritualen und zu meiner täglichen Yoga- und Meditationspraxis zurück – aber ich war nachsichtiger mit mir selbst und verlangte nicht mehr so viel von mir.
Als ich meinen wunderbaren Loungies und den Frauen meiner Schmetterlings-Jahresgruppe erzählte, was mit mir geschehen war, zitterte meine Stimme.
Ich hatte Angst, mein Gesicht zu verlieren. In Wirklichkeit aber verlor ich nur meine Maske.
Wir sind so gewöhnt, uns vor anderen zu verstellen, dass wir es zuletzt auch vor uns selber tun. ~ Francois de La Rochefoucauld
Es ist wahr. Wenn wir über viele Jahre unsere Masken tragen, uns verstellen, hinter einem starren Image verstecken, dann wissen wir irgendwann selbst nicht mehr, wer wir wirklich sind, und alles Lebendige in uns verkümmert.
Dann wird es immer schwieriger, uns einzugestehen, wie hohl wir uns hinter unseren Masken fühlen, wie schmerzhaft die innere Leere ist – jene Leere, die entsteht, wenn wir uns von uns selbst entfremden.
Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der es immer weniger möglich ist, Masken zu tragen. In einer Zeit, in der wir zu absoluter Aufrichtigkeit uns selbst und anderen gegenüber aufgerufen sind. Manchmal werden wir sogar dazu gezwungen – durch Krankheit, Jobverlust, Burnout oder Beziehungskrisen.
„Jeder Mensch, jede Partnerschaft, jede Familie und jede Firma, jede Organisation und jedes Land wird jetzt daraufhin geprüft, auf was die inneren Strukturen basieren und welcher Geist in ihnen weht: Der Geist der Liebe oder der Angst, des Füreinanders oder des Gegeneinanders, der Bewegung oder der Erstarrung.“ ~ Robert Betz
Auch ich erlebe diese „Prüfung“ gerade in vielen Bereichen meines Lebens:
Meine Arbeit wird geprüft: Wie authentisch bin ich in dem, was ich tue? Alles, was nicht wirklich tief aus meinem Inneren kommt, funktioniert nicht mehr. Kooperationen und Partnerschaften, die einfach nicht mehr stimmen, lösen sich auf. Gleichzeitig entfaltet sich das, was vom Geist der Wahrhaftigkeit, der Liebe und Begeisterung getragen ist, immer mehr, ordnet sich neu, und bekommt Kraft und Energie.
Meine Liebesbeziehung wird geprüft: Obwohl mein Liebster und ich schon seit jeher regelmäßig ritualisierte, offene Gespräche führen, gehen wir jetzt noch eine Ebene tiefer. Gerade beim Thema Sexualität lassen sich Schutzwälle nicht mehr aufrecht erhalten, und zuvor Unbewusstes – Verletzungen, Sehnsüchte, Schamgefühle – wird bewusst. Natürlich kenne ich die Angst, mich mit all dem zu zeigen, und meinen Partner womöglich zu kränken, vor den Kopf zu stoßen oder sogar zu verlieren. Doch ich merke: Es geht nicht mehr anders, wenn meine Liebesbeziehung jene Tiefe und Verbundenheit haben soll, die ich mir wünsche.
„Auch R.D. Lang beschrieb das, als er sagte, dass wir nur echte Begegnungen haben können, wenn wir unaufhörlich übernommenes Verhalten abstreifen, das, was uns beigebracht worden ist, die Rolle, die wir uns als Persönlichkeit zugelegt haben, das falsche Gesicht, das wir dir Welt zeigen in dem Bemühen, uns zu schützen. Um uns vor Leid zu schützen, bauen wir eine Festung, und in dieser Festung verwelken wir und sterben; wir sterben vor Einsamkeit …“~ Anaïs Nin
Meine Freundschaften werden geprüft: Wer bleibt noch bei mir, wenn ich aufrichtig bin? Wer geht, wenn ich nicht mehr immer lieb, nett, pflegeleicht und weichgespült bin? Wenn ich nicht immer sonnig und gut drauf bin, sondern auch mal müde, genervt, frustriert, wütend? (Anders ausgedrückt: Awarakadawara, wo san meine Hawara? Für alle, die des Österreichischen mächtig sind: Hier ein wirklich schräger Song zu diesem Thema 🙂 )
Es ist nicht einfach, unsere Masken abzulegen. Es ist nicht einfach, zu akzeptieren, dass wir nicht die perfekten Menschen sind – und auch niemals sein werden – die wir gerne wären.
Aber wenn wir diesen mutigen Schritt tun, geschieht nicht nur etwas Wunderbares, sondern sogar ein Wunder:
Unser Mut steckt andere an. Unsere Offenheit öffnet und berührt die Herzen anderer Menschen. Und dadurch können auch sie sich öffnen – und zeigen.
Diesen Sommer habe ich bei meinen Retreats im Kreise von Frauen erlebt, welch heilsame Verbundenheit dadurch entstehen kann, dass wir uns mit all unseren Wunden und Narben zeigen, mit unseren Schwächen, unserer Traurigkeit, unserer Unsicherheit – aber auch mit unserer unbändigen Lebensfreude, unserem Übermut und mit unserer Lust am Unfug-Treiben.
Auch im Team meines Yogastudios kultivieren wir dieses aufrichtige Miteinander. Wir üben bewusst, tasten uns Schritt für Schritt voran, probieren uns aus, erforschen. Ein solcher Wandel geht nicht von einem Tag auf den anderen – schließlich haben auch wir jahrzehntelang hinter unseren Masken gelebt und nicht die Erfahrung gemacht, dass wir angenommen und akzeptiert werden, auch wenn wir unser wahres Gesicht zeigen.
Leg deine Masken ab – 5 Schritte
1. Nimm dir Zeit, geh es langsam an
Es bringt nichts, dir deine Masken gewaltsam vom Gesicht zu reißen. Dem muss ein innerer Prozess vorangehen, in dem du herausfindest, wer du hinter diesen Masken wirklich bist. Das kann schmerzhaft sein und dich verunsichern. Sei mitfühlend und geduldig mit dir selbst. Dadurch werden die Schutzpanzer weicher und lassen sich leichter entfernen. Öffne dich anderen erst dann, wenn du wirklich bereit dazu bist!
2. Such dir geschützte Räume
Finde Menschen, Räume, Gruppen, bei denen du spürst: Hier kann ich mich öffnen, hier kann ich sein, wer und wie ich bin. In vielen Orten gibt es zum Beispiel bereits „Rote Zelte“ oder Jahresgruppen, die speziell für Frauen einen liebevollen, nährenden und heilsamen Raum für Austausch bieten.
3. Wenn du eine Maske tragen musst, tu es – aber bewusst
Nicht überall ist es ratsam, alle Masken fallen zu lassen. Es gibt Umfelder, in denen wir unsere Masken brauchen, um uns zu schützen. Wenn du in einer Situation bist, in der du eine Maske tragen musst, dann sei dir zumindest dessen bewusst – und überlege, ob du langfristig in diesem Umfeld bleiben oder dich lieber langsam daraus lösen möchtest.
4. Hab Vertrauen – und spring!
Je tiefer wir forschen, desto mehr merken wir, wie viele Schichten von Masken wir tragen. Es erfordert immer wieder Mut, eine Schicht abzutragen, und dann die nächste und die nächste. Wir brauchen Vertrauen, dass es etwas in uns gibt, das immer noch existiert, wenn all die Dinge wegfallen, mit denen wir uns über lange Zeit identifiziert haben. Das ist ein echter leap of faith.
Einerseits wird dieser Vertrauenssprung von Mal zu Mal einfacher, weil wir schon Erfahrung damit haben. Andererseits wird er aber auch schwieriger, weil es immer mehr „ans Eingemachte“ geht. Sogar Selbstbilder wie „Ich bin sooo spirituell“ und „Ich bin so ein guter, aufrichtiger, hilfsbereiter, … Mensch“ zerbröckeln. Das müssen sie auch. Denn es geht nicht darum, gut oder heilig zu sein, sondern ECHT.
5. Wahrhaftigkeit hat ihren Preis
Ich will dir nichts vormachen – sich offen zu zeigen hat auch seinen Preis. Als ich mich nach meinem heilsamen Triest-Trip neu sortiert und meine Prioritäten anders gesetzt hatte, haben sich einige Menschen enttäuscht von mir abgewandt. Meine Ausbildner interpretierten meinen Ausstieg zum Teil als mangelndes Durchhaltevermögen oder fehlende Hingabe. Eine Freundin brach unsere Beziehung ab, nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ein bestimmtes Verhaltensmuster von ihr für mich nicht mehr akzeptabel war.
Es kann sein, dass Menschen von dir ent-täuscht sind, sich abwenden oder aus deinem Leben verschwinden, wenn du dich wahrhaftig zeigst.
Aber ganz ehrlich – sind das die Menschen, die du wirklich in deinem inner circle haben möchtest?
Der Verlust kann schmerzhaft sein, aber auf diese Weise schaffst du Raum für andere Menschen, die dich wirklich so schätzen, wie du bist. Indem du deine Masken ablegst, gibst du Menschen, die besser zu dir passen, die Möglichkeit, dich zu finden und zu erkennen.
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Lass es uns gemeinsam üben und lernen. Lass uns Räume schaffe, in denen wir uns wahrhaftig zeigen können. Lass uns den ersten Schritt machen – wenn es sein muss mit zitternden Knien.
Ich bin sicher, wir werden belohnt – mit echten, aufrichtigen und nährenden Beziehungen, und mit einem neuen Miteinander, das diesen Namen wirklich verdient.