In meinem Waschbecken wohnte eine winzige schwarze Spinne. Jedes Mal, wenn ich mir die Hände wusch und das Wasser höher stieg, krabbelte sie flink zum Beckenrand hinauf, um sich in Sicherheit zu bringen. Danach krabbelte sie wieder hinunter und machte es sich in ihrem Waschbeckenzuhause gemütlich.
Ein paar Tage lang ging das so, und ich achtete sorgfältig darauf, die Spinne nicht wegzuschwemmen. Doch dann geschah es: Das Tierchen wurde vom Wasser erfasst und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Abfluss.
Arme Spinne. Was für ein furchtbarer Tod. Es tat mir so leid – und ich fühlte mich so schuldig. Ich kann und will doch wirklich niemandem etwas zuleide tun, schon gar nicht einer harmlosen achtbeinigen Waschbeckenbewohnerin!
Das Spinnendrama ereignete sich übrigens vergangene Woche während meines Schweige- und Meditationsretreats. Ich hatte ein Zimmer nur für mich. Darin befanden sich: ein Bett, eine Kommode, ein Mini-Schreibtisch. Und ein Waschbecken.
Wenn die Außenwelt aufs Wesentliche reduziert ist, wenn man sich um nichts kümmern muss und weder von Telefon noch von Social Media noch von Gesprächen abgelenkt wird, hat man viel Zeit, die eigenen Gedanken und Empfindungen zu beobachten. Die Innenwelt wird sehr lebendig.
Da wurde mir bewusst, wie viele Schuldgefühle ich mit mir herumtrage. Welche Last ich mit mir schleppe. Wie vieles in meinem Leben ich mir selbst nicht verziehen habe.
Ich erinnerte mich außerdem an eine Geschichte, die einer meiner buddhistischen Lehrer einmal erzählt hat. Sie war meinem Spinnen-Erlebnis nicht unähnlich: Eines Tages wollte der Lama eine Fliege retten, die in seinem Zimmer eingesperrt war. So sind sie, die Buddhisten – sie haben Mitgefühl mit allen Wesen. Manche buddhistische Mönche müssen sogar das Gelübde ablegen, nicht auf den Boden zu pinkeln, damit sie keine Ameisen ersäufen. Im Ernst!
Der Lama öffnete also das Fenster, damit die Fliege in die Freiheit gelangen konnte. Das tat sie auch, aber sie kam auch gleich wieder zurück. Er versuchte es wieder und wieder, aber die Fliege schien die Freiheit gar nicht zu wollen. Und schließlich geschah es, dass sie genau in dem Moment, in dem er das Fenster schließen wollte, eingeklemmt wurde und starb.
Es war einfach, so erklärte der Lama, das Karma der Fliege, an diesem Tag und an diesem Ort zu sterben. Obwohl er sich redlich bemüht hatte, sie zu retten: Er war machtlos.
Als ich mich daran erinnerte, wurden mir schlagartig ein paar Dinge klar.
1. Wir sind nicht allmächtig.
Und auch nicht allwissend. Klar, wir können Entscheidungen treffen, wir können uns nach bestem Wissen und Gewissen bemühen – aber wir sind doch nur kleine Rädchen in einem riesengroßen Gefüge. Die Welt dreht sich, das Leben nimmt seinen Lauf, Dinge geschehen – und obwohl wir uns oft für den Mittelpunkt des Universums halten, sind wir doch nur ein winziger Teil davon.
Manchmal, wenn wir meinen, jemand anderem geschadet zu haben, waren wir vielleicht einfach nur Erfüllungsgehilfen seines Karmas.
{Es gibt sogar die Theorie, wir Menschen seien nichts weiter als Wirte für die 100 Billionen Bakterien, die unseren Verdauungstrakt bewohnen. Auch eine Erklärung für unser Dasein hier auf Erden?}
2. Mir selbst zu vergeben bedeutet nicht, keine Verantwortung zu übernehmen.
Manchmal befürchte ich, es mir zu einfach zu machen, wenn ich mir vergangene „Fehler“ verzeihe, zum Beispiel, dass ich als junge und überforderte Mutter meinem kleinen Sohn gegenüber oft ungeduldig und hart war.
Für mich ist es ein essentielles Lebensprinzip, die volle Verantwortung für alles, was ich tue, sage oder denke, zu übernehmen. Aussagen wie „Wenn ich damals anders gekonnt hätte, hätte ich es getan“, oder „Ich hab es eben nicht besser gewusst“, erscheinen mir da manchmal wie billige Ausreden.
Dann aber habe ich verstanden: Ich kann mir selbst vergeben und dennoch Verantwortung für mein Verhalten übernehmen.
Fehler sind geschehen, ich habe jemanden verletzt, Unfrieden gesät oder Chaos gestiftet. Das alles hat Folgen, und ich übernehme die Verantwortung dafür. Aber: Ich vergebe mir. Denn ich bin ein Mensch, und Menschen machen Fehler.
3. Schuldgefühle sind eine schwere Last.
Oft ist es einfacher, anderen zu vergeben, als uns selbst. Ein Teil von uns krallt sich an den Schuldgefühlen fest, will sich nicht leichter und unbeschwerter fühlen. Oft hat das auch mit einem festgefahrenen Beziehungsmuster zu tun. Ich habe wieder und wieder erlebt, wie Schuldgefühle eine Beziehung vergiften können – vor allem dann, wenn Elternteile sich einem Kind gegenüber schuldig fühlen, zum Beispiel nach einer Scheidung.
Aber mir ist bewusst geworden: Spätestens wenn ich sterbe, muss ich sowieso loslassen. Warum also nicht gleich? Warum nicht diese Last von den Schultern werfen und von heute an unbeschwerter durchs Leben gehen?
Unsere Schuldgefühle sind ja in der Tat nur Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Was wissen wir schon wirklich über die Auswirkungen unseres Handelns? Das Leben ist komplex, und es gibt zwar Ursache-Wirkungs-Prinzipien, aber wir sind, so glaube ich, weit entfernt davon, sie in aller Tiefe und Vielschichtigkeit zu verstehen.
4. Mir ist längst vergeben.
Know the true nature of your Beloved.
In His loving eyes your every thought, word and movement
Is always, always beautiful.
~ Hafiz
Ich glaube daran, dass es eine höhere Macht, ein unendliches, liebendes Prinzip gibt, wie auch immer man es nennen mag: Gott, Universum, Kosmos, Bewusstsein, … Ich glaube, dass dieses ES selbst Massenmördern und Missbrauchstätern verzeiht, auch wenn es uns schwer fällt, das zu begreifen. Ich glaube sogar, dass ES uns gar nicht verzeihen muss, weil es in der Dimension, in der ES existiert sind, so etwas wie Schuld gar nicht gibt (*).
Ein Blick in die Unendlichkeit des Himmels genügt mir, um wieder zu wissen: Nur ich selbst bin es, die mich im Gefängnis meiner Schuldgefühle festhält.
(*) Wiederum: Es ist wichtig, die Ebenen nicht zu verwechseln. Auf einer anderen Ebene gibt es so etwas wie Schuld sehr wohl, und auf dieser Ebene muss jede/r die volle Verantwortung für sein/ihr Handeln übernehmen!
5. Vergebung verändert die Zukunft. Und vielleicht sogar die Vergangenheit.
„Vergebung verändert zwar nicht die Vergangenheit, aber sie bereichert die Zukunft.“
~ Chuck Spezzano
Ich möchte sogar einen Schritt weiter gehen. Ich glaube, dass Vergebung auch die Vergangenheit verändert. Denn diese ist im Grunde nichts anderes als das, was unsere Erinnerung daraus macht – also etwas sehr Plastisches. Mir selbst zu vergeben kann also durchaus auch meine Vergangenheit verändern.
Wenn wir uns und anderen vergeben, erfüllen wir unsere Vergangenheit mit Licht.
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Danke, Spinne. Danke, Stille.
Wieder ein innerer Kampf beendet, wieder ein Schlachtfeld verlassen, dem Frieden im Herzen wieder ein Stückchen näher. Seufz.
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