Sei nicht nett, sei echt!

Sei nicht nett, sei echt!

Das Meer rauschte wütend – und es berauschte mich. Ich saß auf einem schwarzen Felsen, saß in der Morgendämmerung eines stürmischen Tages, hatte Migräne, und die Schmerzen schienen meinen Kopf zerreißen zu wollen. Doch ich war unendlich glücklich. So lebendig, so ganz, so stark, so wild und in meiner Kraft hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt.

Was war geschehen?

Ich war ausgebrochen. Im dunklen, ruhigen Hotelzimmer, dem ich entflohen war, schlummerte mein damaliger Lebenspartner. Doch ich hatte es nicht mehr ausgehalten unter den warmen, weichen Bettlaken, ich wollte hinaus, wollte die Urgewalt des Meeres spüren, wollte mir vom schneidenden Wind Sandkörner ins Gesicht blasen lassen, wollte die salzige Luft in mich einsaugen und jedes Lungenbläschen damit füllen. Ich wollte allein sein, allein mit mir, und doch so unendlich verbunden mit der ganzen Welt, wie es wohl nur möglich ist, wenn man sich im Morgengrauen aus der Geborgenheit einer Umarmung löst und sich davonschleicht, um an einem menschenleeren Strand auf einem schroffen Felsen zu sitzen und die Freiheit zu atmen.

„Zähne zeigen, Dakini!“, schrieb ich später an diesem Tag in mein Tagebuch. „Wie konntest du sie nur verleugnen und verlieren, diese wilde Seite in dir?“

{Dakinis sind „Himmelstänzerinnen“, tantrische Geistwesen, die einerseits weise und inspirierend, andererseits aber auch dämonisch und furchterregend sein können.}

Denn ich hatte mich verraten, und damit auch den Mann an meiner Seite. Ich war in eine Falle getappt – in die Falle eines falschen Selbstbildes. Ich hatte mich selbst eingesperrt in ein einseitiges Bild von mir, in ein Bild, das nur meine hellen und freundlichen Seiten zeigte, nicht meine dunklen und gefährlichen.

Daran zerbrach die Beziehung zu meinem damaligen Partner(*). Das Davonschleichen aus dem gemeinsamen Hotelbett kam zu spät. Viel zu lange hatte ich nur die lieblichen Facetten meines Frau- und Mensch-Seins gelebt, war ohne Ecken und Kanten geblieben, war eine „bequeme“ Partnerin gewesen. Hatte mich – ohne es zu merken – zu sehr angepasst und meine wilden und dunklen Gefühle nicht nur vor meinem Partner verborgen, sondern auch vor mir selbst, hatte viel zu lange das Bild einer immer verständnisvollen, angenehmen, und anschmiegsamen Frau aufrechterhalten. Ich hatte meine Zähne nur zum Lächeln benutzt, nicht um sie zu fletschen, nicht um meine Kraft und meine Gefährlichkeit zu zeigen, nicht um meine Wildnatur auszudrücken. Ein anderer Mann kam ins Spiel – doch es war klar, dass es nicht um ihn ging, sondern dass er für die Freiheit stand, derer ich mich selbst beraubt hatte.

Wenn ich heute an jenen stürmischen Morgen am Strand zurückdenke, fällt mir ein Witz ein, bei dem ein Mann wegen chronischer Kopfschmerzen zum Arzt geht. Nach eingehender Untersuchung stellt der Arzt die frappierend einfache Diagnose: „Mein Herr, ihr Heiligenschein sitzt zu eng!“

Es muss nicht immer Kopfweh sein. Aber auf die eine oder andere Art wird unser Körper uns garantiert darauf aufmerksam machen, wenn wir Teile von uns abspalten, wenn wir ein Selbstbild aufrechterhalten, das nicht unserem wahren Wesen in all seiner Vielfalt, Widersprüchlichkeit und in all seinen unberechenbaren Facetten entspricht.

Wir brauchen auch die dunkle Göttin

Nicht umsonst spricht man im Hinduismus von Tridevi, den drei Göttinnen, die in jeder von uns wohnen. Da ist Lakshmi, die Göttin der Schönheit, der Fruchtbarkeit und des Wohlstands. Da ist Saraswati, die Göttin der Künste, der Kultur und der Weisheit. Doch da ist auch Kali, und ohne sie wären wir nicht komplett. Kali ist die Zerstörerin, die Zornvolle. Sie weiß, dass es auch diese Energie braucht – nicht nur die liebliche und liebenswürdige -, damit das Rad des Lebens sich weiterdrehen kann, damit Entwicklung und Evolution fortschreiten können. Scheinharmonien und faule Kompromisse durchschaut sie sofort, und durschneidet sie mit ihrem scharfen Schwert. Ohne Zerstörung keine Erneuerung – das gilt auch für Beziehungen.

Nicht umsonst gibt es auch im tibetischen Buddhismus zornvolle weibliche Gottheiten, wie zum Beispiel Kurukulla, deren Krone aus Totenschädeln besteht, deren Haar nicht brav frisiert ist, sondern wie ein Flammenmeer nach oben steht, und die nicht mild lächelt, sondern äußerst grimmig dreinschaut. Sie ist die Göttin des „harschen Tons“. Das diplomatische Schmeicheln ist nicht ihre Art, sie spricht unverblümt aus, was Sache ist. Sich anzubiedern oder den bequemen Weg zu gehen liegt ihr fern. Sie verkörpert einen kompromisslosen, zu hundert Prozent aufrichtigen Aspekt der Weisheit. Und nur diejenigen, die selbst zu schüchtern und zu unsicher sind, um klare Worte zu finden, empfinden Kurukulla als lieblos. Alle anderen verstehen, wie viel Liebe und Weisheit in ihrem wilden Auftreten stecken.

Nicht umsonst gibt es neben dem mütterlichen, fürsorglichen Eva-Aspekt auch die Lilith, die sich, wie Anna Gamma in Schön, wild und weise schreibt, „wenig um Sitte und Anstand schert, Tabus bricht und nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung strebt“.

„Eine Frau, die wachsen und sich psychisch entwickeln will, muss die Lilith-Qualitäten Freiheit, Bewegung und Instinktivität für sich integrieren.“
~ Barbara Black Koltuv

Und dann gibt es natürlich auch die Wolfsfrau, unsere Wild- und Instinktnatur. Auch sie zeigt ihre Zähne nicht, um zu lächeln, sondern um ihre wilde, unberechenbare Kraft auszudrücken. „Hier muss man sich bereit erklären, eine immense Kraft und charismatische Ausstrahlung anzunehmen, sie sich auch im Leben anderer Menschen transformierend bemerkbar machen (man trägt den feurig glühenden Totenschädel vor sich her). Jede Situation im Leben wird so in ein neues Licht getaucht …“, so Clarissa Pinkola Estés in ihrem Klassiker.

Echt zu sein hat eine transformierende Kraft

Wenn wir echt sind, statt immer nur nett zu sein, dann hat das auch auf das Leben anderer transformierende Wirkung. Denn die Göttin nimmt verschiedene Gestalten an, je nachdem, welche Aufgabe sie gerade zu erfüllen hat. Manchmal ist sie lieblich, zart und anschmiegsam – manchmal aber auch furchterregend, schrecklich und zerstörerisch.

Unsere Liebe kann sich nicht immer durch Sanftheit ausdrücken, sondern muss sich manchmal zornvoll und wild zeigen, damit sie als Katalysator für Entwicklungsprozesse dienen kann – in unserem eigenen Leben und in dem von anderen.

Immer freundlich zu sein ist weder uns selbst noch anderen gegenüber wirklich liebevoll. Stets ein eingefrorenes Lächeln auf dem Gesicht zu tragen, hinter dem sich jede Menge – oft uneingestandene – Wut verbirgt, kostet enorm viel Kraft.  Und irgendwann sind wir dann nicht mehr freundlich, sondern nur noch erschöpft.

Frag dich:

Welches Selbstbild hast du von dir? Wo ist es einseitig, wo sitzt der Heiligenschein zu eng?

Willst du geliebt werden, weil du immer nett, vorhersehbar, pflegeleicht, ecken- und kantenlos bist?

Oder willst du geliebt und respektiert werden, weil du ECHT bist, ein lebendiges, facettenreiches, manchmal freundliches, manchmal aber auch wehrhaftes, unberechenbares, unbequemes oder sogar gefährliches Wesen?

Zeig deine Zähne. Lächle, lächle, lächle – aber nicht nur. Dort, wo es nötig ist, fletsche sie!

Zeig, dass du nicht nur nett und zahm sein kannst, sondern auch wild und gefährlich. Lebe deine Instinktnatur, dann ist dir Respekt sicher – dein eigener und der der anderen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass du irgendwann defensiv wirst, wild um dich beißt und tatsächlich wertvolle Beziehungen zerstörst, wenn du allzulange nett bist und deine zornvolle Seite unterdrückst.

Wenn du beizeiten ein wildes Knurren oder Fauchen von dir gibst, wenn du deine Krallen ausfährst, wenn du Kali, Kurukulla, Lilith und die Wolfsfrau in dir leben lässt – dann ersparst du dir in den meisten Fällen das Zubeißen.

Sei nicht nett, sei echt! Sei manchmal auch unbequem. Manche Menschen werden dann die Flucht ergreifen, aber diejenigen, die es ernst mit dir meinen, die WIRKLICH an DIR interessiert sind – also auch an deinen dunklen, tiefen, wilden Seiten -, werden bleiben. Und sie werden dir näher sein als je zuvor – denn sie haben dich wirklich gesehen.

„Darf Lilith wieder als Schwester in uns leben, dann wird sich auch Eva wandeln. Sie wird an Tiefe und Lebendigkeit gewinnen.“
~ Anna Gamma

Für mich bedeutet das: Wenn ich auch meine impulsiven, instinktiven Seiten lebe, wenn ich meinem Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang nachgebe, wenn ich wage, auch mal unverblümt und harsch zu sein, dann kann ich auch wieder nett  sein. Dann ist meine Freundlichkeit keine starre Maske, sondern kommt aus tiefstem Herzen. Dann bin ich nett UND echt.

Na also. Geht doch!

(*) Die Liebesbeziehung zu diesem Mann zerbrach, und der Schmerz der Trennung war auf beiden Seiten groß. Doch das Leben hat mich reich beschenkt: Heute verbindet mich eine tiefe, tiefe Freundschaft mit ihm. Eine aufrichtige. Eine maskenlose. Eine, in der Lilith und Eva in mir (und mit ihm) tanzen dürfen.

Die INSIDE Membership
Transformiere dein Leben von Innen nach Außen

Bring deinem Gehirn Freiheit, Glück und Erfolg bei!

Beitrag mit deinen Freund*innen teilen:

INSIDE
Die Membership

Kreiere deine neue Realität FROM INSIDE OUT!

Mit Positiver Psychologie, Neurowissenschaft &
DEEP JOURNALING

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

MAGNETIC JOURNAL NIGHTS

Der DEEP DIVE für dein großartiges 2025!

Mit Positiver Psychologie, DEEP JOURNALING und deinem MAGNETIC JOURNAL.