Es war zu einer Zeit, in der ich nicht mehr viel Boden unter den Füßen spürte. Ich war mit einer schweren Krankheit im nächsten familiären Umfeld konfrontiert, gleichzeitig mit all den Herausforderungen einer Unternehmensgründung und einer frisch zusammengewürfelten Patchwork-Familie, und dann hatte meine Frauenärztin auch noch einen verdächtigen Knoten in meiner Brust ertastet (der sich später zum Glück als harmlos herausstellen sollte). Trotz täglicher Yoga- und Meditationspraxis fühlte ich, wie mein Nervenkostüm immer mehr Löcher und Risse bekam.
Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, an dem ich zwischen beruflichen Meetings, Yogastunden, Arzt-Terminen, Krankenhausbesuchen und familiären Verpflichtungen genau eine halbe Stunde Zeit hatte. Anders als sonst verbrachte ich diese halbe Stunde nicht mit dringenden Telefonaten oder damit, schnell ein paar Mails zu beantworten, sondern setzte mich in die nächstbeste Bäckerei. Ich nahm mir vor, in den nächsten 30 Minuten nichts anderes zu tun als meinen Kaffee zu schlürfen und zu atmen. Und ich nahm mir vor, an nichts anderes zu denken als an das, was ich gerade um mich herum wahrnahm.
Kaum hatte die Kellnerin meinen Kaffee serviert, setzten sich zwei Männer mittleren Alters an den Nebentisch.
Sie führten ein erstaunlich tiefschürfendes Gespräch, und ich konnte nicht anders, als ihnen zu lauschen. Der eine erzählte von seiner Mutter, von ihrem schweren Leben, all den Schicksalsschlägen, die sie einstecken hatte müssen, all den Entbehrungen und harten Zeiten, die sie erlebt hatte. „Aber sie hat das alles gemeistert, ohne jemals zu verzweifeln oder zu jammern“, sagte er. „Und warum? Weil sie immer nach oben geblickt hat. Egal, was geschehen ist, sie hat sich immer nach dem Höchsten ausgerichtet und niemals ihr Vertrauen verloren.“
Mit Tränen in den Augen dankte ich dem Leben für diese Fügung, dafür, dass es mich geleitet und mir diese Botschaft geschickt hatte. Ich zahlte meinen Café Latte, verließ die Bäckerei und richtete den Blick nach oben, in die Weite des Himmels, die sich über die engen Häuserschluchten der Stadt spannte. Plötzlich breiteten sich tiefe Ruhe und Frieden in mir aus. Der Blick in die Unendlichkeit rückte meine Schwierigkeiten in ein neues Licht. Ich fühlte mich getröstet und geborgen.
Risse in unserer vertrauten Welt
Wir alle erleben ab und zu brüchige Zeiten. Zeiten, in denen Risse in unserer Welt entstehen. Zeiten, in denen alles wacklig zu werden scheint, in denen wir uns eingestehen müssen: Es gibt keine Sicherheit im Außen. Nichts ist unverrückbar, unveränderlich, wahrhaft stabil. Weder unser Beruf, noch die Menschen, die wir lieben, noch unsere Gesundheit werden auf Dauer bleiben. Selbst so manche tiefe Überzeugung, die wir einmal hatten, beginnt in solchen Phasen zu wanken. Und das ist gut so, denn Verwirrung ist der Beginn von Erkenntnis, wie Khalil Gibran so schön schrieb.
Wir brauchen solche Zeiten. Sie zwingen uns, Stabilität im Inneren zu finden. Sie fordern von uns, zu erforschen, was uns in einer sich ständig verändernden Welt wahre Sicherheit verleiht. Sie helfen uns, unsere Zweifel zu überwinden und eine neue, reifere Art von Stärke zu entwickeln, eine Stärke, die alles annimmt, was das Leben bringt, die keinen Widerstand leistet und nicht ausweicht, sondern bereit ist, sich jeder Herausforderung zu stellen. Ohne Krise kein Wachstum.
Dein Feind ist dein Freund und die Flüche sind Segnungen, und die Unglücksfälle können in Glücksfälle verwandelt werden. Es hängt nur von einem ab: ob du den Schlüssel der Bewusstheit kennst. Dann kannst du alles in Gold verwandeln. Wenn dich jemand beleidigt, ist das der Moment, um wach zu bleiben. Wenn deine Frau einen anderen anschaut und du dich verletzt fühlst, ist das der Moment, um wach zu bleiben. Wenn du dich traurig, düster, depressiv fühlst, wenn du glaubst, dass die ganze Welt gegen dich ist, ist das der Moment, um wach zu sein. Wenn du von dunkler Nacht umgeben bist, ist das der Moment, um dein Licht leuchten zu lassen. Und all diese Situationen werden sich als hilfreich herausstellen – dazu sind sie da.
~ Osho
In brüchigen Zeiten ist es gut, Anker zu haben.
Anker, die mit dem Schlüssel der Bewusstheit zu tun haben, wie Osho es nennt, die wie kleine, hell leuchtende Steine sind, die du – so wie Hänsel und Gretel im Märchen – ausgelegt hast, damit sie dich immer wieder in deine Mitte, zum Ort deiner inneren Stabilität führen. Zu jener Stabilität, die allen Stürmen und Unwettern des Lebens trotzt.
Stabilität in brüchigen Zeiten – 7 Impulse:
1. Erde
Eines ist gewiss: Du kannst nicht von dieser Erde fallen. Egal, was geschieht, egal, was dir widerfährt, egal, wie groß die Verwirrung in dir ist: Du wirst nicht von dieser Erde fallen. Da gibt es einen Boden, der dich trägt.
Es genügt aber nicht, dass der Kopf das weiß. Der KÖRPER muss es spüren. Dazu hilft es, immer wieder die Aufmerksamkeit zu den Fußsohlen zu lenken, und die Stabilität des Grundes unter dir zu fühlen. Oder du lässt dich am Abend vor dem Einschlafen bewusst tiefer und tiefer in die Matratze sinken und nimmst wahr: Auch wenn ich loslasse, der Boden hält. Ich falle nicht ins Bodenlose, auch wenn ich völlig loslasse.
Wunderbare Möglichkeiten, Stabilität auf körperlicher Ebene zu erfahren, sind Yoga-Übungen wie die Stellung des Kindes, die Durga Mudra, oder eine spezielle Praxis zur Stärkung des Wurzelchakras.
Für unsere Erdung ist es übrigens auch wichtig, den Körper zu nähren, vor allem mit regelmäßigen, gesunden und nahrhaften Mahlzeiten, mit ausreichend Schlaf, oder mit wohltuenden Ölmassagen. Auch kraftvolle mechanische – am besten sogar einigermaßen grobe – Arbeiten, wie zum Beispiel das herzhafte Schrubben des Parkettbodens oder der Badewanne, tragen zur Erdung bei!
2. Himmel
So wie die Erde uns Festigkeit schenkt, so schenkt der Himmel uns Weite, Leichtigkeit und eine größere Perspektive. Er erinnert uns daran, dass wir spirituelle Wesen sind, die menschliche Erfahrungen machen, und dass jede menschliche Erfahrung dazu angetan ist, uns bewusster, liebevoller und mitfühlender werden zu lassen.
Es ist so einfach, aber wir tun es so selten: nach oben blicken, in den Himmel. Im Handumdrehen wird auf diese Weise weit, was zuvor eng erschien, wird unbegrenzt, was sich zuvor wie ein Gefängnis anfühlte. Den Blick in den Himmel zu richten ist ein symbolischer Akt. Wir richten uns auf etwas Höheres, Weiteres aus, als unser in unsere klugen Köpfe eingesperrter menschlicher Verstand mit seinen vielen Sorgen und Kümmernissen es jemals erfassen könnte. Wir sind bereit, unsere menschlichen Zerrissenheiten, Zweifel und Zerwürfnisse in einen größeren Kontext einzuordnen. Wir heben den Kopf und erinnern uns damit unserer Erhabenheit. Trotz aller Niederungen des Menschseins fühlen wir: In uns ist etwas unumstößlich Edles.
3. Starke Mitte
Im Yoga ist es das Solarplexus-Chakra im Sonnengeflecht, in der chinesischen Medizin das Tan Tien (oder Dantian), in der japanischen Tradition das Hara. Egal, welchen Ursprungs: in vielen Weisheitslehren ist die Rede von einem Energie-Zentrum in der Mitte des Menschen, auch wenn die einen es etwas oberhalb, die anderen etwas unterhalb des Nabels lokalisieren. Hier befindet sich ein Reservoir an Lebensenergie, hier sitzt unsere Überzeugung, das Leben meistern und die nötige Stärke dazu aus uns selbst schöpfen zu können.
Diese Mitte ist auch ein Ort der Geborgenheit, ein Platz, den wir jederzeit aufsuchen können, um neue Kraft und Mut zu schöpfen.
Um deine Mitte zu stärken, ist vor allem eine ausgewogene Ernährung und Lebensführung wichtig (ein wunderbares Buch mit vielen wertvollen Tipps ist „Die Heilung der Mitte“ von TCM-Arzt Georg Weidinger). Aber auch Qigong-Übungen, Shiatsu-Behandlungen, Yoga-Übungen, die das dritte Chakra bzw. den Core stärken, Visualisierungen und Meditationen lassen das Power-House in deiner Mitte erwachen!
4. Atem
Der Atem ist unser ständiger Begleiter – und es gibt keinen zuverlässigeren Freund als ihn. Wenn wir ihm zuhören, kann er uns viel über unsere Befindlichkeit verraten, denn ob wir tief und voll oder flach und flattrig atmen, zeigt, wie es gerade um unseren Gemütszustand bestellt ist. Über den Atem können wir aber auch diesen inneren Zustand positiv beeinflussen. Eine gleichmäßige, ruhige Atmung verbessert nicht nur die Sauerstoffversorgung im Organismus, sondern wirkt sich auch positiv auf das vegetative Nervensystem aus. Atemräume erforschen und eine tiefe Atmung kultivieren kannst du zum Beispiel mit der Yoga-Vollatmung.
Es gibt übrigens auch keinen zärtlicheren Gefährten als den Atem. Wenn du ganz still wirst und ihm deine ganze Aufmerksamkeit schenkst, spürst du, wie er dich im Inneren liebkost, deine Wirbelsäule und deine inneren Organe sanft massiert. Mit jedem Atemzug, den du dir bewusst machst, bringst du deine innere und äußere Welt ein wenig mehr in Einklang. Der Atem, so heißt es, ist die Nabelschnur Gottes. Auch wenn bei unserer Geburt unsere physische Nabelschnur und damit die Verbindung zur Mutter durchtrennt wurde, so sind wir doch, so lange wir leben, über diese feinstoffliche Nabelschnur mit einem unbegrenzten Energie-Reservoir verbunden.
Sich dem Atem zuzuwenden bedeutet auch, innezuhalten. Und wer innehält, so Laotse, erhält inneren Halt.
5. Rhythmus
WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen sind sich einig: Ein zentrales Problem unserer Zeit ist, dass uns die natürlichen Rhythmen abhandengekommen sind. Am Abend ist es nicht mehr dunkel und still, sodass der Organismus zur Ruhe kommen und sich auf den Schlaf einstellen kann, sondern wir starren auf hell erleuchtete Bildschirme und Displays und lassen uns zudröhnen. Alle Lebensmittel sind das ganze Jahr über verfügbar, Online-Shops haben 24/7 geöffnet, und auch wir selbst sind oft rund um die Uhr erreichbar. Unser weiblicher Zyklus, in dem so viel Macht und Kraft liegen könnte, würden wir uns ihm hingeben, wird missachtet: Statt unserer natürlichen Sehnsucht nach Rückzug rund um die Menstruation nachzugeben, sollen wir jeden Tag gleich gut funktionieren – so verlangt es die Arbeitswelt. Und auch wir selbst verlangen das wohl oft von uns …
Die Entfremdung von den natürlichen Rhythmen der Natur und unseres eigenen Lebens sorgt für Ungleichgewicht und Verwirrung in unseren Köpfen. Holen wir uns jedoch bewusst heilsame Rhythmen ins Leben, fördern wir damit unsere Ausgeglichenheit und Stabilität.
„Trommeln oder das Tanzen sorgen für wunderbare Harmonie im Gehirn. Selbst das Rosenkranzbeten, das Aufsagen von Mantren oder rhythmischen Gedichten bringt Freude“, so der bekannte Neurowissenschaftler Gerald Hüther.
Besonders wirkungsvoll finde ich das Singen von Mantras. Mein Lieblingsmantra singe ich täglich nach der morgendlichen Meditation. Meine Stimme vibriert in meinem Körper, ich verbinde mich mit meiner eigenen Schwingung und mit der universellen Schwingung des Mantras. Fast fühlt es sich an, als würde mich das Universum in seinen mütterlichen Armen wiegen.
Singen und Tönen – ob allein oder in der Gruppe – wirken erwiesenermaßen wie ein natürliches Antidepressivum.
Tipps für gesunde Rhythmen und Rituale findest du hier!
6. Akzeptanz
Alle Formen des Widerstands kreieren eine Wand des Getrenntseins,
die das Leben in ein Schlachtfeld verwandeln…
Ohne Widerstand durch das Leben zu gehen heißt frei zu sein.
~ J. Krishnamurti
Krisen und Schwierigkeiten als unvermeidlichen Teil des Lebens zu betrachten ist die Voraussetzung dafür, sie zu meistern. Sie tauchen nicht auf, weil das Leben es böse mit dir meint, und du kannst auch sicher sein, dass jeder Mensch seine eigenen Kämpfe auszufechten hat – du bist garantiert nicht die einzige, die sich manchmal auf sehr dünnem Eis bewegt.
Widerstand ist zwecklos. Wenn wir, statt uns gegen unsere schwierigen Erfahrungen zu sträuben, die Wand des Getrenntseins niederreißen und das Leben ganz nah an uns herankommen lassen – egal, ob es gerade Freude oder Schmerz für uns bereithält -, dann werden wir eins mit ihm.
Gleichgültig, was uns widerfährt: Es kommt darauf an, was wir daraus machen. Viel wichtiger, als das, was uns zufällt, ist, was uns dazu einfällt!
7. Selbstliebe
Es ist wahr – es gibt nur einen einzigen Menschen, der ein Leben lang bei dir sein wird. Wenn du dir sicher sein kannst, dass dieser eine Mensch – nämlich du selbst – bedingungslos an deiner Seite steht, dann kannst du allen Schwierigkeiten gefasst ins Auge sehen.
Wie so oft ist Selbstliebe auch in brüchigen Zeiten der Schlüssel zu fast allem anderen. Aber gerade in diesen Zeiten ist es nicht einfach, für sich selbst da zu sein, gut für sich zu sorgen. Deshalb sollten wir uns in Selbstliebe üben, auch und besonders dann, wenn es uns gerade gut geht. Dann steht sie uns nämlich wie selbstverständlich zur Verfügung, wenn unsere Welt wacklig wird und wir sie am Nötigsten brauchen.
Ich wünsche dir viel inneren Halt und Stabilität auch in brüchigen Zeiten!