Ich fürchte um mein Leben. Man hat mich gewarnt: Die Überfahrt würde bumpy werden, hieß es. Zu windig das Wetter, zu stürmisch die See.
Aber ich wollte nicht auf die Warnungen hören. Und das habe ich nun davon.
Zusammengekrümmt kauere ich auf dem schmutzigen Boden einer riesigen Fähre, halte mit einer Hand meinen Rucksack, der immer wieder davonzurutschen droht, und umklammere mit der anderen das weiß lackierte Stahlgeländer, das mich von der Treppe hinab aufs untere Deck trennt.
Sitzplatz habe ich keinen bekommen, da das oberste Deck aus Sicherheitsgründen gesperrt ist. Gleich nach dem Ablegen erweist sich das als Segen, denn das Schiff schlingert so heftig, dass die Gischt jene Passagiere, die einen Platz auf den Bänken des Mitteldecks ergattert haben, von oben bis unten nass spritzt.
Aus Helden werden Hasen
Für einen kurzen Moment öffne ich die Augen. Ein junger, breitschultriger Mann hält sich an der Reling fest und johlt laut, als er hin- und hergeworfen wird, was ihm bewundernde Blicke von seiner langbeinigen Freundin einbringt. Einige Passagiere lachen und quietschen wie bei einer Fahrt auf der Hochschaubahn. Die hübsche Blonde mit den kurzen Shorts, die mir gegenüber am Boden sitzt, lächelt gelassen. Ich schließe die Augen wieder. So schlimm kann es nicht sein.
Doch als ich eine gefühlte Ewigkeit später noch einmal verstohlen um mich blicke, hat sich die Szenerie drastisch verändert. Niemand lacht, niemand johlt. Kein einziger Passagier steht mehr, viele haben den Kopf zwischen die Knie gesteckt, fast alle haben kleine rosarote Plastiktüten in den Händen. Die Blonde hat die Augen geschlossen. Der junge Mann sitzt am Boden, Stirn und Oberlippe sind von unzähligen kleinen Schweißperlen überzogen. Die zuvor braungebrannten Gesichter leuchten bleich bis grünlich unter dem grauen thailändischen Himmel.
Ich kann die Angst riechen.
Als Kind ist mir schon beim Autofahren übel geworden, ganz zu schweigen von Bootsfahrten jeder Art. Jahrmärkte und Achterbahnen habe ich seit jeher gemieden wie der Vampir den Knoblauch oder der Yogi das Steak.
Und als ich hörte, dass die Überfahrt nach Koh Tao aufgrund des starken Windes eventuell abgesagt werden müsse, hat es mir den Magen umgedreht.
Aber ich beschloss, trotzdem aufs Boot zu steigen.
„I’m continually trying to make choices that put me against my own comfort zone.
As long as you’re uncomfortable, it means you’re growing.“
~ Ashton Kutcher
Genau das versuche ich auch. Und ich wollte mich nicht von meiner alten Angst davon abhalten lassen, auf die Nachbarinsel zu schippern und meine geliebten Stierbäurinnen zu besuchen, die dort ihre wohlverdiente Winterpause verbringen.
„Das Leben beginnt dort, wo die Angst endet.“
~ Osho
Ja. Ich will, dass mein Leben beginnt. Und zwar jetzt gleich.
Also lasse ich mich von der Angst leiten, und zwar in genau ihre Richtung. Ich gehe ihr entgegen – mit Mut, Entschlossenheit, Neugier und Vertrauen im Gepäck.
„Don’t be afraid of your fears. They’re not there to scare you.
They’re there to let you know that something is worth it.“
~ C. JoyBell C.
Am Boden der Fähre kauernd spüre ich nicht nur die Übelkeit aufsteigen, sondern auch die Angst. Sie kriecht in mir hoch wie eine giftige Schlange. Und ich beschließe, sie zu besiegen.
Was die Angst vertreibt
# 1 Lerne dich und deine Ängste sehr gut kennen
Es gibt Situationen, in denen ist Angst angebracht – aber sie sind selten. Unsere Angstreaktionen stammen aus einer Zeit, in der wir existenziellen Bedrohungen ausgeliefert waren. Da waren Wildschweine hinter uns her oder Säbelzahntiger, an jeder Ecke lauerten ansteckende Krankheiten, und wir liefen Gefahr, zu verdursten, zu verhungern oder zu erfrieren.
All dies gehört der Vergangenheit an – unsere körperlichen Reaktionen bei Stress und vermeintlichen Bedrohungen sind jedoch dieselben wie bei unseren Vorfahren in der Steinzeit.
Daher: Beobachte akribisch, welche Situationen in dir Angst auslösen und welche Gedankenmuster sich dabei zeigen. Finde heraus, welche Ängste du von deinen Eltern beziehungsweise von deiner Sippe ererbt oder übernommen hast. Überprüfe immer wieder genau, ob deine Ängste etwas mit der realen Situation zu tun haben, oder ob sie Relikte aus deiner persönlichen oder der kollektiven menschlichen Vergangenheit sind.
So lernst du blitzschnell einzuschätzen, ob deine Ängste gerechtfertigt oder nur ein Fabrikat deiner Erfahrungen bzw. ererbten Denkmuster sind, und kannst dir entsprechende Strategien zurechtlegen, um mit ihnen umzugehen.
# 2 Furchtloser Körper, furchtloser Geist
Ich lasse mich in meinen Herzraum nieder, an jenem friedlichen, furchtlosen Ort, der immer da ist, selbst wenn der Rest meines Körpers vor Angst bebt. Manchmal ist dieser Raum ganz klein – aber wenn ich in ihn hinein atme, dehnt er sich aus.
Dann atme ich tief in meinen Bauchraum, halte mit beiden Händen die Durga Mudra (das geht auch, während ich mich am Geländer festklammere), entspanne meine Kiefermuskulatur und ziehe die Mundwinkel hoch, obwohl mir im Moment nicht unbedingt zum Lächeln zumute ist. Aber ich weiß, was diese kleinen körperlichen Veränderungen in meiner Gehirnchemie bzw. meinem vegetativen Nervensystem verändern, und ich habe diesen Methoden zu vertrauen gelernt.
Angstgedanken erzeugen einen ängstlichen Körper, ein ängstlicher Körper erzeugt Angstgedanken. Wenn du wachsen und intensiv und wunder-voll leben willst, gilt es aus dieser Spirale auszusteigen.
Macht sich Angst in deinem System breit, wird dein Atem flach, dein Kiefergelenk verkrampft sich, womöglich knirscht du sogar mit den Zähnen, deine Mundwinkel ziehen sich nach unten und deine Schultern nach oben.
Sobald dir das bewusst wird, kannst du tief in den Bauch atmen, Kiefer und Schultern entspannen und lächeln. Das mag sich unnatürlich anfühlen – aber die Wirkung wird sich nach kürzester Zeit zeigen, denn du erzeugst damit Botschaften an dein Gehirn und nimmst beruhigenden Einfluss auf dein alarmiertes Nervensystem.
# 3 Dein persönliches Mantra der Furchtlosigkeit
Om tare tuttare ture soha. Om tare tuttare … Om tare …
Ich beginne, innerlich mein Lieblingsmantra zu rezitieren, stimme es auf den Rhythmus meines Atems ab.
Shit, in dem Container sind nur 54 Schwimmwesten, auf meinem Deck sind aber mindestens 100 Passagiere … Om tare tuttare … und ich bin eine miserable Schwimmerin …. Om …. Womöglich sehe ich meinen Sohn nie wieder … om tare tuttare … und meinen Mann … om tare tuttare … wenn hier Panik ausbricht, habe ich keine Chance … om tare … Wenn die Fähre kentert, kommt dann ein Hubschrauber und wirft Rettungsboote ab? …Om tare tuttare … Wie lange kann ich mich bei diesem Wellengang ohne Schwimmweste über Wasser halten? … Om tare …
Es ist ein zähes Ringen, aber weil ich ein hartnäckiger Mensch bin, siegt das Mantra irgendwann.
Banana-Banana-Banana
Wahrscheinlich würde es fast ebenso gut funktionieren, würde ich statt tibetischer Silben so etwas wie Banana-Banana-Banana rezitieren.
Klar, ich habe zum Tara-Mantra einen Bezug, und mein Geist ist darauf eingestellt, darum funktioniert es schneller und besser als Banana-Gebrabbel. Im Kern aber geht es einfach darum, den Geist zu beschäftigen und mit einem immer wiederkehrenden Rhythmus zu besänftigen, damit die Angstgedanken keinen Platz mehr haben.
Denn es sind deine Gedanken, die dir Angst machen, nicht die reale Situation.
Wenn wir ihnen keinen Einhalt gebieten, übermannen uns unsere Angstgedanken. Sie schaukeln sich auf wie meine Fähre im Golf von Thailand. Darüberhinaus sind sie hochinfektiös. Schau in ein angstverzerrtes Gesicht, spür einen vor Angst stocksteifen Körper neben dem deinem, und du kannst gar nicht anders, als selbst Angst zu bekommen – es sei denn, du hast gelernt, dich zu schützen.
Das geht auch wunderbar mit Switchwords und Energiekreisen. Switchwords funktionieren ähnlich wie Mantras – sind aber womöglich noch effektiver, weil du sie auf deine eigene Persönlichkeitsstruktur abstimmen kannst. Sie spannen dein Bewusstsein und dein Unbewusstes gemeinsam vor einen Karren, den du dann in die gewünschte Richtung lenken kannst. Auf dem Boden der Fähre kauernd habe ich gebetsmühlenartig die Schwitchword-Kette ZUSAMMEN-SICHER-LAYA-GÖTTLICH-BEHÜTET vor mich hingedacht und in Gedanken einen Kreis um meinen Namen und diese Worte gemalt. Schon nach kürzester Zeit hatte ich das Gefühl, dass sich auch um meinen Körper eine schützende Kugel gebildet hatte und mir nichts, aber auch gar nichts mehr passieren konnte.
Mir persönlich helfen auch Kraftworte. Für 2018 ist eines meiner Kraftworte AUSGEÄNGSTIGT! (Danke, G.S.!) Wenn ich es meinen Ängsten entgegenschleudere, ziehen sie ganz schnell ihre räudigen Schwänze ein und machen sich vom Acker.
Finde – oder kreiere – dein persönliches Mantra, mit dem du deine Furchtlosigkeit hervorkitzelst.
Das kann eine Affirmation sein oder ein bekanntes Schutzmantra wie das Tara Mantra oder das Aad Guray Nameh aus dem Kundalini Yoga.
Wichtig ist, dass du das Mantra nicht erst dann hervorkramst, wenn du schon Angst hast. Rezitiere, denke, chante, murmle es regelmäßig. Nur so kannst du deinen Geist nachhaltig trainieren und im entscheidenden Moment die gewünschte Wirkung damit erzielen.
„As a single footstep will not make a path on the earth, so a single thought will not make a pathway in the mind. To make a deep physical path, we walk again and again. To make a deep mental path, wie must think over and over the kind of thoughts we wish to dominate our lives.“
~ H. D. Thoreau
# 4 Fünf Sekunden für das Worst Case Szenario
Ich sehe meinen Körper leblos auf den Wellen schwimmen. Ich sehe meinen Liebsten und meinen Sohn, wie sie statt einer strahlenden Laya einen hölzernen Sarg vom Flughafen in Wien abholen.
Ja, die Angst will gehört und gesehen werden. Sie muss sich frei bewegen können, damit sie sich auflösen kann. Daher macht es Sinn, dir das Schlimmste vorzustellen, das passieren kann. Meistens ist das Schlimmste bestenfalls halb so schlimm als wir zunächst glauben. Und selbst wenn nicht: Leben ist nun mal lebensgefährlich, das wissen wir. Ob du dieser Tatsache gestattest, dich von deiner Abenteuerlust und Lebendigkeit abzuschneiden, ist jedoch deine eigene Entscheidung.
If you think adventure is dangerous, try routine. It’s lethal.
Erlaube dir also, für ein paar Momente lang so richtig schwarzzumalen. Erlaube der Pessimistin in dir, sich auszutoben. Aber nicht länger als ein paar Sekunden. Und dann:
# 5 Glücks- statt Schreckensbilder
Nun sehe ich die Stierbäurinnen vor mir, wie sie lachend am Pier stehen und mich in ihre Arme schließen. Ich sehe, wie ich meinen Liebsten zuhause von meinem Abenteuer erzähle und gemeinsam mit ihnen darüber lache.
Wir können uns nicht mehr als eine Sache auf einmal vorstellen. Ersetze Angst-Szenarien durch Mut- und Glücksbilder. Konsequent, hartnäckig, und stur wie ein Esel.
# 6 Mutmuskel trainieren
Stimmt. Da war die Überfahrt von Grado nach Triest. Da ging es ganz ähnlich zu. Ach ja, und der Heimflug von Griechenland vor ein paar Jahren, der war fast zwei Stunden lang so richtig ruppig. Und obwohl ich auch damals um mein Leben fürchtete, bin ich kurz darauf heil und glücklich aus dem Flieger gestiegen.
Mit dem Mut ist es wie mit einem Muskel: Use it or lose it!
Trainiere deinen Mut bewusst, beginne mit harmlosen Situationen, zum Beispiel einen Fremden auf der Straße ansprechen, allein verreisen, eine Gehaltserhöhung ausverhandeln, … Tu Dinge, die dich zwingen, deine Komfortzone zu verlassen. Wenn du dich dabei unwohl fühlst, ohne in Panik zu geraten, ist die Dosis genau richtig.
Wenn dir dann das nächste Mal eine Situation Angst einjagt, kannst du dich an bewältigte Herausforderungen erinnern und dir bewusst machen, dass du an keiner von ihnen gestorben, sondern an jeder von ihnen gewachsen bist.
Ich habe übrigens nicht nur einen Mutmuskel, sondern auch eine Mutmuschel. Die habe ich vom Strand in Koh Tao mitgenommen, damit sie mich immer wieder daran erinnert, dass es sich lohnt, der Angst zu trotzen 🙂
Aus Häsin wird Heldin
Ich atme also und lächle und lächle und atme, wiederhole im Geist unablässig jene Worte, die meine Angstgedanken zum Verstummen bringen, und male mir die schönsten Bilder aus.
Eine gute Stunde lang geht das so. Dann verlangsamt die Fähre endlich ihre Fahrt, ich öffne vorsichtig die Augen und blicke um mich. Viele der kleinen rosaroten Tüten haben sich in der Zwischenzeit mit Inhalt eindeutigen Ursprungs gefüllt. Über einige Gesichter laufen Tränen. Der große, breitschultrige Bursche, der zuvor seine Freundin mit dem bauchfreien pinken Top beeindrucken hatte wollen, sitzt zitternd und zu einem Häufchen Elend geschrumpft auf der Treppe neben mir.
Kurz darauf verlasse ich – ein wenig schwankend, aber innerlich triumphierend – die Fähre und betrete Koh Tao. Ich habe meine Angst bezwungen. Ich bin an meinem Ziel angelangt. Und die Stierbäurinnen warten freudestrahlend auf mich.
The devil whispered in may ear: „You’re not strong enough to withstand the storm.“ Today I whispered in the devils ear: „I am the storm.“
# 7 Höre die Botschaft der Angst
WICHTIG: Ich schreibe hier nicht über Angststörungen oder Panikattacken. Damit habe ich keine Erfahrung, und das ist auch nicht meine Liga. Falls du gerade mit Derartigem konfrontiert bist, empfehle ich dir das befreiende Buch Kraft meiner Angst: Ein Mutmachbuch bei Angst und Panikattacken meiner Kollegin Judith Kirchmayr-Kreczi.
Ich schreibe hier auch nicht davon, dass wir keine Angst mehr haben sollten. Angst hat eine überlebenswichtige Funktion, denn sie kann uns motivieren, uns auf Herausforderungen vorzubereiten, so dass wir diese besser bewältigen können. „Angst ist die Botschafterin des Verantwortungsbewusstseins, sie bringt uns dazu, Acht zu geben und uns um unsere Angelegenheiten zu kümmern“, heißt es in diesem spannenden Artikel über die Angst als „Schatten der Intelligenz“. Es geht also nicht darum, keine Angst zu haben, sondern darum, ihre Botschaft zu hören und der Angst dann gut gewappnet entgegenzugehen.
Und das Leben beginnt dort, wo wir der Angst ein Schnippchen schlagen.
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