Die Gelassenheitslüge

Mindset Expertin Laya Commenda über die Gelassenheitslüge. Siet trägt ein rotes Kleid und lehnt mit verschränkten Armen an einer Mauer

Ganz schön hoch geklettert auf der Erleuchtungsleiter, sagt mein Kopf. Ganz schön gelassen geworden. Früher hättest du dich über ein solches Mail aufgeregt. Hättest impulsiv reagiert und sofort zurückgeschrieben. Heute bleibst du ruhig und stehst über den Dingen. Schreibst nicht zurück, sondern klärst die Sache tags darauf telefonisch – ganz unemotional.

Bravo, sagt mein Kopf.

Denkste, sagt mein Körper.

Ich beginne zu niesen, wenig später rinnt meine Nase, und am nächsten Tag wache ich mit Halsschmerzen auf.

Du bist nicht gelassen, sagt mein Körper, sondern hast die Nase gestrichen voll. Du ärgerst dich grün und blau und willst es dir nicht eingestehen. Und du bist zu feig, um Stellung zu beziehen.

Zwei Wochen später.

Wie liebevoll du geworden bist, sagt mein Kopf. Wie sehr du auf andere Menschen eingehen und dich selbst zurücknehmen kannst. Früher wärst du ungeduldig geworden, hättest Druck gemacht und dein eigenes Tempo durchgezogen. Heute kannst du dich auf die Geschwindigkeit anderer einlassen und mit ihrer Kompliziertheit, die dich früher so genervt hat, besser umgehen.

Gut gemacht, sagt mein Kopf.

Du kannst mich mal, sagt mein Körper.

Ich bekomme Blasenentzündung, muss meine Yogastunden absagen, laufe alle zwei Minuten auf die Toilette und liege mit meiner Wärmi am Sofa.

Ich habe keine Lust auf diesen toxischen Gefühlsstau, sagt mein Körper. Du willst nur die angenehmen Gefühle zulassen, alle anderen schluckst du hinunter – und vergiftest MICH damit.

Deine scheinbare Gelassenheit und Geduld, sagt mein Körper, sind kein Zeichen spiritueller Meisterschaft, sondern ein klarer Fall von spiritual bypassing.

Dein Bemühen, neutral und liebevoll zu bleiben, ist nichts anderes als eine Flucht vor deinen wahren Gefühlen. Hättest du sie zugelassen und ausgedrückt, hättest du eine Auseinandersetzung riskiert, vielleicht sogar einen unangenehmen Konflikt.

Danke, Körper. Es tut weh, das zu hören, aber ich weiß: Es ist der Schmerz des sterbenden Egos.

{Nein, ich will NICHT, dass mein Ego GANZ stirbt. Nur jener Teil davon, der mich von meiner Lebendigkeit abschneidet. Der gesunde Teil meines Egos darf natürlich bleiben ?}

Schmerz ist ein geringer Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung.

~ David Steindl-Rast

Je mehr Schichten ich abtrage, desto subtiler wird mein Selbstbetrug, und desto schwieriger zu durchschauen werden die Spiele meines Egos.

Früher hätte ich Recht haben wollen, hätte aufbrausend, ungeduldig oder verärgert reagiert.

Heute reagiere ich so gelassen, dass ich über mich selbst staune – und erst auf den zweiten, dritten oder vierten Blick erkenne, dass meine Reaktion beileibe kein Ausdruck von Gleichmut ist, sondern eine Flucht vor meiner Wahrhaftigkeit.

Diese auszudrücken hat einen Preis – und ich war nicht bereit, ihn zu zahlen.

Dafür habe ich für meinen Versuch, mich um meine innere Wahrheit herumzuschummeln, bezahlt. Damit meine ich gar nicht so sehr Erkältung oder Blasenentzündung, sondern viel mehr das Gefühl, mich selbst betrogen zu haben.

Wenn Gelassenheit zum Selbstbetrug wird

Im Buddhismus heißt es, man soll die Dinge nicht persönlich nehmen und das Verhalten anderer nicht auf sich selbst beziehen.

Dummerweise kann man diese Weisheit gründlich missverstehen. Denn wenn wir uns von nichts und niemandem mehr persönlich berühren lassen. Dann hat das nichts mit Gelassenheit zu tun, sondern damit, dass wir uns von unseren Gefühlen abschotten.

Wir verwechseln das Bemühen, anderen Verständnis entgegenzubringen, damit, keine eigene Meinung zu haben.

Wir benutzen Gelassenheit, um unsere Irritation, unseren Unmut, unseren Ärger, unsere Wut oder unsere Angst vor Konflikten nicht spüren zu müssen.

Genau so, wie wir eine Tafel Schokolade in uns hineinstopfen, um nicht fühlen zu müssen, was wir fühlen. Dass die Gelassenheits-Schoki nicht nur den Spiri-Test besteht, sondern auch in biologisch abbaubare Folie verpackt, bio und zuckerfrei ist und zu 90% aus fair gehandeltem Rohkakao besteht, macht es nicht besser:

Emotionale Verstopfung ist garantiert.

Der nahe Feind: Gleichgültigkeit

Upekha (Gelassenheit, Gleichmut) gilt im Buddhismus als eine der „vier Unermesslichen“, auch die „vier himmlischen Geisteszustände“ genannt. Die fernen Feinde von Upekha sind Aufgeregtheit und Unruhe, die durch Gier oder Unwillen hervorgerufen werden. Wie alle fernen Feinde sind sie leicht zu erkennen und zu besiegen.

Doch da gibt es auch noch den nahen Feind von Upekha – die Gleichgültigkeit. Dieser nahe Feind hat’s in sich. Denn auf den ersten Blick sieht er der Gelassenheit zum Verwechseln ähnlich.

Gleichgültigkeit bedeutet, abgestumpft zu sein. Wir bemerken nichts, wir fühlen nichts, wir haben die Fähigkeit verloren, uns zu empören oder ein klares Urteil zu bilden. Wir wagen nicht, für unsere Meinung einzustehen (was nicht gleichbedeutend damit ist, sie für die einzig richtige zu halten). Unsere Lebendigkeit ist uns abhanden gekommen, wir sind zu einem Brei aus Zugeständnissen und Kompromissen geworden, gestalten nicht mit, haben keine Visionen und sind nicht bereit, uns für unsere Träume einzusetzen oder etwas zu riskieren, um sie zu verwirklichen.

Echte Gelassenheit statt Kuschelkurs

Ja, es gibt einen Ort jenseits von Richtig und Falsch. Ja, es gibt eine Ebene, auf der jede Unterscheidung und Dualität endet, auf der wir jedes Urteil loslassen dürfen.

Aber es gibt auch eine andere Ebene, und hier gilt es, klar zu unterscheiden, mutig Stellung zu beziehen, sich Konflikten auszusetzen und Dinge auszustreiten, statt sich hinter Schein-Gelassenheit zu verstecken (und davon krank zu werden).

Echte Gelassenheit nimmt wahr und unterdrückt Gefühle nicht. Sie lässt zu und akzeptiert. Echte Gelassenheit steigt aus Reaktivitätsmustern aus und schafft gesunde Distanz zu den eigenen Gefühlen, Meinungen, Vorstellungen und Erwartungen.

Aber auch wenn wir vieles akzeptieren und Verständnis dafür aufbringen können, müssen wir nicht jedes Verhalten gutheißen. Wir können anderen liebevoll begegnen und uns trotzdem vehement gegen schlechtes Benehmen, überzogene Forderungen, Unzuverlässigkeit, lähmende Untätigkeit oder Problemverliebtheit verwehren.

Idioten-Mitgefühl und die lähmende Enge eines scheinbar liebevollen Kuschelkurses bringen niemanden weiter. Uns selbst nicht und schon gar nicht die Menschen in unserem Umfeld.

Ich bin kein buddhistischer Mönch und will auch keiner werden. Ich will echt sein. Ein echter Mensch mit echten Gefühlen, die frei durch mich hindurchfließen können. Ich will mich nicht mehr selbst betrügen und meinen Körper damit vergiften.

Ich will ihn zahlen, den Preis für die Freiheit von Selbsttäuschung. Und ich will mich wieder viel mehr empören – über Dinge, die es wert sind, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Nicht um der Empörung willen, sondern um noch ein Stück mehr meine eigene Wahrheit zu finden – und zu leben.

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