Sie sitzt an einem kleinen Tisch im Café.
Hin und wieder streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht.
Dann wieder schaut sie kurz auf, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, so als würde sie von irgendetwas „downloaden“.
Danach beugt sie sich wieder über ihr Journal und schreibt.
Fast kommt es mir wie Voyeurismus vor, die junge Frau zu beobachten.
Wie ein Sakrileg.
Und doch kann ich meine Augen nicht von ihr wenden.
So geht es mir oft, wenn ich Menschen beobachte, die im öffentlichen Raum schreiben – im Park, im Zug, im Café, auf dem Flughafen.
Menschen, die schreiben, haftet etwas Besonderes an. Sie sind versunken und völlig bei sich, und gleichzeitig ganz in dieser Welt – und mit ihr verbunden.
Menschen, die schreiben, haben etwas Erhabenes an sich.
„That writing does heal is unmistakable. It is not possible to be in the presence of those who write their way through moments of ecstasy and moments of despair, critical illness and crucial life choice, spiritual awakening and free-falls into Mystery, without acknowledgement of the truth that writing heals.“ ~ Kathleen Adams
Wenn ich Seminare, Ausbildungen oder Journaling Salons halte, ist irgendwann der Moment gekommen, in dem nur noch das das Kratzen der Kugelschreiber und Füllfedern auf dem Papier zu hören ist. Auch dann entsteht eine Atmosphäre der Erhabenheit. In dieser hoch-konzentrierten und gleichzeitig entspannten Energie wird sofort spürbar:
Jetzt geschieht etwas Wesentliches.
Jetzt geschieht etwas Heilsames.
Jetzt geschieht Verbindung, Erkenntnis und Transformation.
Jetzt treten Menschen in ihre Schöpferkraft ein.
Es gibt vieles, was wir über das Schreiben wissen.
Es gibt einiges, was wir zu wissen glauben.
Und es gibt ein paar Dinge, die wir wohl nie zur Gänze verstehen werden.
Lass uns mit Ersterem beginnen.
# 1 Was wir wissen: Schreiben ist gesund
Menschen, die schreiben, sind im Durchschnitt sowohl mental als auch körperlich gesünder als andere.
Seit James W. Pennebaker in den 1980er Jahren erste Studien über die positiven Wirkungen des expressiven Schreibens veröffentlicht hat, gab es eine schier endlose Anzahl von Folgestudien. Praktisch ohne Ausnahme zeigten sie, dass Schreiben sowohl die körperliche Gesundheit als auch das psychologisches Wohlbefinden positiv beeinflusst. Hier eine kleine Auswahl der Ergebnisse:
Menschen die schreiben, leiden weniger unter Stress und müssen seltener zum Arzt oder ins Krankenhaus. Ihr Immunsystem arbeitet besser, ihre Wunden heilen schneller, ihr Blutdruck ist niedriger, ihre Lungen und ihre Leber funktionieren besser.
Bei Erkrankungen wie Asthma, Diabetes, Krebs und HIV/AIDS bewirkt Schreiben einen positiveren Umgang mit der Krankheit und führt zu Symptomlinderung und Schmerzreduktion.
Menschen, die schreiben, haben im Durchschnitt eine positivere Stimmung, erhöhtes psychologisches Wohlbefinden, und deutlich weniger depressive Verstimmungen, posttraumatische Störungen und Vermeidungssymptome.
Menschen, die schreiben, fehlen seltener am Arbeitsplatz und finden nach Jobverlust schneller wieder Arbeit. Sie sind leistungsfähiger im Sport und haben bessere Noten beim Studium. Sie sind kompetenter in ihrem Sozialverhalten und ihrem sprachlichen Ausdruck, und können ihre Emotionen wirksamer regulieren. Außerdem ist ihr Selbstkonzept positiver als das anderer Menschen.
„The pen is mightier than the pill“ heißt es – der Stift ist mächtiger als die Pille.
Da ist definitiv was dran.
Und: Der Stift hat keine Nebenwirkungen!
STIFT UND PAPIER FÖRDERN DIE GESUNDHEIT.
UND SIE HABEN KEINE NEBENWIRKUNGEN.
# 2 Was wir auch wissen: Schreiben wirkt transformativ
Der Großteil der Studien über die positiven Wirkungen des Schreibens bezieht sich auf eine sehr simple Form, bei der Menschen ungefiltert ihre Gefühle und Gedanken über schwierige Ereignisse zu Papier bringen.
Aber diese Art des Schreibens aktiviert nur einen Bruchteil seines ungeheuren Potenzials.
Denn wenn wir Schreiben mit kreativen Zugängen verbinden, vor allem aber wenn wir es gezielt einsetzen, um unser Denken umzuprogrammieren, aus unserer Problem-Trance auszusteigen, unsere Beziehungen zu klären oder unsere Träume zu verwirklichen, dann entfaltet sich eine viel tiefere Wirkung.
Genau das tun wir INSIDE – und so wirkt regelmäßiges Journaling tatsächlich zutiefst transformativ.
Seit Anfang des Jahrtausends werden Schreib-Methoden zunehmend im Zusammenhang mit Positiver Psychologie und auf Basis moderner Neurowissenschaften untersucht. Auch ich selbst habe dazu geforscht – und die Ergebnisse sind mehr als vielversprechend!
# 3 Was wir zu wissen glauben: Wie Schreiben wirkt
DASS Schreiben zahllose positive Wirkungen hat, ist unbestritten.
WIE und WARUM es genau wirkt – dazu gibt es verschiedene Theorien. Allerdings kann keine von ihnen für sich genommen überzeugend erklären, welche Mechanismen hinter diesen positiven Wirkungen stecken.
Dass Schreiben uns hilft, unsere Emotionen zu regulieren, indem wir sie in Worten ausdrücken, ist klar. Dass es uns unterstützt, belastende Ereignisse zu verarbeiten, auch.
Wir wissen außerdem, dass Schreiben unsere Kognition fördert, also unsere Fähigkeit, wahrzunehmen und Zusammenhänge zu erkennen. Es hilft uns, die Ereignisse unseres Lebens neu zu bewerten, einen Sinn darin zu erkennen, ein positiveres Bild von uns selbst zu kreieren, unsere Lebensziele zu definieren und zu erreichen.
In Summe erhöht Schreiben also unsere Selbstwirksamkeit – und es macht uns kommunikativer.
„Die tiefste Befriedigung des Schreibens besteht genau darin, dass es neue Räume in unserem Innern eröffnet, von denen wir nicht wussten, bevor wir zu schreiben begannen.“ ~ Henri Nouwen
# 4 Was wir vielleicht nie ganz verstehen werden: Schreiben ist pure Magie
Und dann gibt es diese Augenblicke.
Augenblicke, in denen jemand plötzlich Worte für etwas findet, für das er jahrzehntelang keine Worte hatte.
Augenblicke, in denen jemand in Kontakt zu seiner eigenen Seele kommt, zu einem tiefen inneren Wissen, das ihm in seinem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich war.
Augenblicke, in denen sich ein Tor öffnet, eine Tür zu einer anderen Dimension, aus der etwas aufs Papier fließt, das nicht von dieser Welt zu sein scheint.
Für diese Augenblicke werden wir vielleicht nie eine wissenschaftliche Erklärung finden.
Sie sind es, die dem Schreiben seine Magie verleihen.
Sie sind es, warum ich schreibe.
Und sie sind es, warum ich dafür brenne, andere Menschen zum Schreiben zu verführen – und ihnen damit einen Schlüssel für das Tor zu ihrer inneren Schatzkammer in die Hand zu legen.
„Lassen Sie sich selbst beiseite. Hören Sie auf, gut sein zu wollen. Wir werden zum Vehikel von ETWAS, das sich ausdrücken will.“ ~ Henry Miller