„Heute gab’s gar keine Tränen!“, ruft meine Coaching-Klientin am Ende der Session aus, und wir müssen beide herzhaft lachen.
Nicht jedes Mal gibt es Tränen – aber oft. Wenn sie zu fließen beginnen, ist das fast immer ein Zeichen dafür, dass etwas Eingefrorenes zu schmelzen beginnt, dass Betäubung der Lebendigkeit weicht.
Meine buddhistischen Lehrer behaupteten, die Tränenkanäle hätten eine direkte Verbindung zum Herzen. Anatomisch mag das eine fragwürdige Aussage sein – aber wer weiß schon so genau, welche Arten von Verbindung es im menschlichen Körper-Geist-Seele-System gibt!
Jedenfalls: Tränen sind willkommen. Und doch entschuldigen sich viele meiner Klientinnen für sie. Versuchen sie zurückzuhalten, hinunterzuschlucken, verstohlen wegzuwischen.
Sie wissen noch nicht, dass Tränen die Juwelen einer Königin sind, und dass durchlebter Schmerz ihr Herz veredelt.
Nicht, weil die Königin den Schmerz verherrlicht – sondern weil sie weiß, wie sie ihn empfangen, halten und verwandeln kann, wenn er sie besucht.
Sie leistet keinen Widerstand.
Sie lässt ihn kommen und gehen, und sie kennt die Gesichter dieses Besuchers gut.
Hier sind einige davon.
Der Schmerz über zu viel Liebe
Manchmal verhärtet sich das Herz einer Königin, weil sie verletzt wurde. Wenn ihre Liebe jedoch frei fließen kann, ist sie grenzenlos.
Für manche Menschen ist das zu viel.
Zu groß.
Zu beängstigend.
Die Königin liebt so intensiv, mit einer solchen Fülle an Gefühl, so rückhaltlos, dass manche Menschen sich davon überfordert fühlen. Die Königin ist ihnen „zu viel“ – deshalb verschließen sie sich, ziehen sie sich zurück.
Dass andere nicht genug emotionale Kapazität haben, um ihre Liebe in all ihrer Tiefe und Wahrhaftigkeit zu empfangen, schmerzt die Königin.
Dennoch ist sie nicht bereit, halbherzig zu lieben oder sich in ihrem Gefühlsausdruck zu beschränken.
Sie sucht nach jenen Menschen, denen sie nicht zu viel, zu intensiv, zu laut, zu schnell, zu mächtig, zu emotional ist.
Nach den Menschen, die bereit sind, tief zu graben und hoch zu fliegen – so wie sie.
“I like people too much or not at all. I’ve got to go down deep, to fall into people, to really know them.” ~ Sylvia Plath
Der Schmerz darüber, nicht erkannt zu werden
Wenn andere die Königin nicht als das erkennen, was sie ist, wenn sie sich verkannt fühlt, kann es sein, dass sie zu zweifeln beginnt.
Ist sie noch nicht sicher genug gegründet in ihrer wahren Natur – unabhängig davon, ob andere diese erkennen oder nicht -, dann kommt es vor, dass sie unter diesen unwissenden Blicken zu schrumpfen beginnt.
Ihre Krone wird zur Tarnkappe.
Plötzlich kann sie sich auch selbst nicht mehr als die verkörperte Würde, Kraft und Schönheit sehen, die sie ist.
Zum Glück gibt es Menschen, die sie immer wieder daran erinnern!
„By deficient eyes she is reduced to inferior states; by the evil eye of ignorance she is spellbound to banality and ugliness. But she is redeemed by the eyes of understanding.“ ~ Joseph Campbell
Der Schmerz darüber, sich selbst nicht erkannt zu haben
Wenn eine Königin sich im Laufe ihres Lebens immer mehr erkennt, spürt sie den Schmerz darüber, wie sie sich selbst behandelt hat. Sie trauert, weil sie sich nicht die Anerkennung, Fürsorge und Hochachtung zuteil werden hat lassen, die ihr Geburtsrecht sind. Sie betrauert, wie sehr sie sich selbst ausgebeutet, missachtet und im Stich gelassen hat.
Gleichzeitig schenkt sie sich ihr Mitgefühl. Sie kennt die Ursachen für ihre Blindheit, Härte und Kälte. Und mit jedem Erkennen, mit jedem staunenden Blick in ihr eigenes Spiegelbild, wächst auch ihr Mitgefühl für all die anderen Menschen, die blind durchs Leben gehen.
Der Schmerz über das Leiden auf der Welt
Die Königin weiß um die Polaritäten des Lebens. Sie wünscht sich nicht, es wäre anders. Sie weiß, dass sie nur dann anmutig mit dem Leben (und dem Tod) tanzen kann, wenn sie sich allem bedingungslos hingibt, dem tiefsten Leid und der höchsten Freude, dem hellsten Licht und dem schwärzesten Dunkel.
Sie schaut nicht weg. Sie weicht nicht aus. Sie betäubt sich nicht. Sie lässt das Leiden dieser Welt nahe an sich herankommen. Sie berührt es mit ihrer Liebe und begrüßt den Schmerz, den süßen und den bitteren, den scharfen und den dumpfen, den verzweifelten und den hoffnungsvollen.
Lebendig, lebendig.
Lebendig ist sie, die Königin.
In allen Facetten.
SIE SCHAUT NICHT WEG, SIE WEICHT NICHT AUS, SIE BETÄUBT SICH NICHT.
SIE LÄSST DAS LEID NAHE AN SICH HERAN.
SIE BERÜHRT ES MIT IHRER LIEBE UND BEGRÜSST DEN SCHMERZ.
Der Schmerz über Menschen ohne Vision
Die Königin denkt in Möglichkeiten, nicht in Tatsachen. Sie sieht Potenzial, nicht Beschränkungen. Sie richtet sich an ihrer Vision aus, nicht an der Ordnung der Vergangenheit.
Manchmal fällt es ihr schwer zu glauben, dass andere Menschen so ganz anders sind.
Für die Königin wäre ein Leben ohne Vision, ohne große Träume, ein vergeudetes Leben – selbst wenn sie diese Vision niemals erreichen, diese Träume niemals ganz verwirklichen wird. Der Gedanke, nicht nach Erfüllung zu streben, sich mit weniger zufrieden zu geben als mit der Totalität aller Dinge, macht ihr Angst.
Langsam aber versteht sie, dass es nicht an ihr ist, zu urteilen. Langsam wächst ihr Respekt vor der Andersartigkeit aller Wesen.
Und doch gibt es ihr einen Stich, zu sehen, dass es Menschen gibt, die kaum Visionen und Ambitionen haben; die nicht bestrebt sind, das Wunder im Alltäglichen zu sehen UND sich mit der Kraft und Weite ihres Geistes über das Alltägliche zu erheben.
„I have a deeply hidden and inarticulate desire for something beyond the daily life.“ ~ Virginia Woolf
Die meisten Menschen wollen ihren Schmerz „reparieren“, bevor sie ihn gefühlt haben.
Sie wollen ihre Tränen wegwischen, noch ehe sie sie geweint haben, sie wollen vom Boden aufstehen, noch ehe sie den Aufprall auf dem harten Beton gefühlt haben, sie wollen sich den Staub von den Kleidern klopfen, noch ehe er sie wirklich bedeckt hat.
Nicht so die Königin.
Sie weiß, dass der Schmerz seine transformative Kraft nur entfalten kann, wenn sie durch ihn hindurch geht. Ausweichmanöver und Betäubungsversuche verlängern ihn nur oder machen ihn chronisch.
Und dafür hat die Königin keine Zeit – denn die braucht sie für ihre Mission.
Hast DU deine innere Königin schon wachgeküsst?