Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ER anruft – aber wenn er es tut, hebe ich nicht ab.
Ich will ihm nah sein, und gleichzeitig stoße ich ihn weg, um zu demonstrieren, dass ich ihn nicht brauche.
Ich sehne mich nach Tiefe und Intimität, aber ich habe panische Angst davor.
Ständig habe ich das Gefühl, wenn er erst mal erkannt hat, wie ich WIRKLICH bin, wird er mich sofort verlassen.
Diese Angst sitzt mir ständig im Nacken. Ich versuche, eine Frau zu sein, die er lieben kann. Eine Frau, bei der ein Mann wie er BLEIBT.
Das war, als ich im zarten Alter von 24 den (sehr charismatischen) Menschen kennengelernt habe, der wenig später mein erster Mann sein sollte.
Dass irgendetwas an meinem Beziehungsmuster seltsam sein könnte, kam mir damals noch nicht in den Sinn – so qualvoll es auch war.
Erst als sich das Muster in späteren Beziehungen wiederholte, kam mir der Verdacht, irgendetwas könne hier nicht ganz in Ordnung sein. Die ständige Angst, im nächsten Moment verlassen zu werden. Das permanente Gefühl, „aufgedeckt“ werden zu können und damit alles zu verlieren. Die Sehnsucht nach Verbindlichkeit und Commitment, und gleichzeitig die Unfähigkeit, mich WIRKLICH auf einen anderen Menschen einzulassen.
Wieso läuft er nicht schreiend davon?
Ich erinnere mich, dass ich damals den Film „Unter dem Sand“ von François Ozon gesehen habe. In diesem Film machen Jean und Marie, ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, Urlaub an der Küste – doch eines Tages verschwindet Jean. Er ist wie vom Erdboden verschluckt und hinterlässt keinerlei Spuren. Ich erinnere mich auch, dass ich mit Schrecken erkannte: DAS ist meine größte Angst. Irgendetwas in mir ist praktisch sicher, dass ich einen geliebten Menschen von einem Moment auf den anderen verlieren werde – ohne Vorwarnung und ohne Erklärung. Fast forward ins Jahr 2012. Wieder habe ich einen Menschen kennengelernt, der wenig später mein Ehemann sein wird. Er berührt etwas in mir, das noch niemand zuvor berührt hat. Ich öffne mich ihm wie noch keinem Menschen in meinem Leben. Er ist der einzige, dem ich meine dunkelsten Seiten zeige, meine hässlichsten Wunden, meine tiefste Scham und meine furchterregendsten Schatten.
Und ich kann nicht glauben, dass er nicht schreiend davonläuft.
„Ich verstehe es einfach nicht“, sage ich nach einem halben Jahr Beziehung zu ihm. „Wieso bist du NOCH IMMER da?“
Meine dysfunktionalen Muster waren mir damals bereits bewusst, und ich hatte begonnen, die Ursachen zu verstehen – aber von Attachment Theory (Bindungstheorie) wusste ich noch nichts.
Welche Erleichterung, als ich dann wenig später über diese Theorie stolperte und alles aufsog, was ich darüber zu lesen und hören bekam!
Endlich Begriffe für das, was ich erlebte und empfand! Endlich ein tieferes Verständnis dafür, warum ich mich so sehr quälte mit meinen Ängsten und meiner Vermeidungshaltung!
“Attachment principles teach us that most people are only as needy as their unmet needs. When their emotional needs are met, and the earlier the better, they usually turn their attention outward.“ Amir Levine
Den eigenen Bindungstyp erkennen
Ich erkannte, dass ich ein „unsicher-ambivalenter Bindungstyp“ war. Plötzlich konnte ich die Zusammenhänge sehen zwischen dem, was ich im Mutterleib und in meinen ersten Lebensjahren erlebt hatte, und dem Stress und der Angst, denen ich in meinen Liebesbeziehungen permanent ausgeliefert war.
Mir fiel ein, dass meine Mutter mir erzählt hatte, ich sei ein unkompliziertes Baby gewesen – wenn sie mich allerdings auch nur für eine Sekunde allein ließ oder jemand anderer meinen Kinderwagen schob, sei ich in Panik geraten. All das machte plötzlich so viel Sinn! Sogar die Erfahrungen des existenziellen Verlassen-Werdens, die sowohl meine Mutter als auch mein Vater während des Krieges gemacht hatten, fanden ihren Platz in dem großen Bild, das sich nun zeigte.
Die „Attachment Theory“ wurde in den 1940er Jahren vom britischen Kinderpsychiater und Psychotherapeuten John Bowlby entwickelt, und seither ständig weiter erforscht, vertieft und differenziert.
Bindungstheorie ist komplex, wie fast alles, was mit menschlichen Beziehungen zu tun hat. Ich kann dir hier nur einen kurzen, Überblick über die vier Bindungstypen geben – aber falls du dich in einem der drei „unsicher gebundenen“ Typen wiederfindest, empfehle ich dir von Herzen, dich genauer damit auseinanderzusetzen. Ressourcen und Anknüpfungspunkte dazu findest du ganz am Ende dieses Artikels!
Warum Bindung so wichtig ist
Die Beziehung zu unseren wichtigsten Bezugspersonen in der frühen Kindheit entscheidet darüber, wie wir uns, andere und die Welt sehen.
Im Idealfall erfährt ein Kind so viel Zuverlässigkeit, emotionale Präsenz und Geborgenheit, dass es sich immer weiter in die Welt hinaus traut. Es weiß: Es kann jederzeit zurückkehren in die Sicherheit, die ihm seine wichtigsten Bezugspersonen geben.
Sicher gebundene Kinder erleben sich selbst als „gut“; sie empfinden auch andere Menschen als grundsätzlich „gut“, und diese Welt ist für sie ein sicherer Ort – eine Art Abenteuerspielplatz. Aufregend, aber nicht gefährlich.
Die meisten Menschen erleben ihre Kindheit jedoch ganz anders; das führt dazu, dass sie sich selbst als ungenügend empfinden – im Sinne von „nicht wert, dass jemand für mich sorgt“. Oder dazu, dass sie anderen grundsätzlich misstrauen. Oder dazu, dass sie die Welt als einen riskanten Ort begreifen.
Oder eine Mischung aus all dem.
„Gipfelstürmer brauchen ein Basislager.“ John Bowlby
UNSER BINDUNGSTYP ENTSCHEIDET DARÜBER, WIE WIR UNS SELBST SEHEN, WIR WIE ANDERE SEHEN, UND WELCHER ORT DIESE ERDE FÜR UNS IST: EIN SICHERER ODER EIN GEFÄHRLICHER.
Die vier Bindungstypen
Es gibt vier Bindungstypen – einer davon ist sicher gebunden, die anderen sind unsicher gebunden. Fühl mal, bei welchem dieser Typen du die stärkste Resonanz verspürst! Denn obwohl sich alles auf einem Kontinuum abspielt und wir meistens kein „reiner“ Typ sind, gibt es meist doch EIN Bindungsmuster, das unsere Konditionierung dominiert.
Bindungstyp 1: Die sichere Bindung
Das ist es, was wir uns alle wünschen würden – für uns selbst und für alle Kinder dieser Welt!
Kinder, die sicher gebunden sind, haben erlebt, dass zuverlässig auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird und dass ihre wichtigsten Bezugspersonen emotional präsent bzw. erreichbar sind. Sie haben einen „sicheren Hafen“, ein Basislager. So können sie sich frei entfalten und die Welt erkunden. Sie gehen offen und vertrauensvoll auf andere zu und zeigen eine robuste emotionale Resilienz.
Sicher gebundene Kinder reagieren zwar mit Weinen und Schreien, wenn ihre Bezugsperson sich entfernt, regulieren sich aber schnell wieder, wenn diese zurückkehrt. Sie zeigen Freude und Erleichterung und vertiefen sich dann wieder in ihr Spiel.Als Erwachsene fällt es ihnen leicht, gesunde Grenzen zu ziehen, soziale Beziehungen zu pflegen und eine freudvolle-fließende Intimität zu genießen. Sie sind selbstbewusst und ausgewogen, und können Liebe und Zuneigung sowohl geben als auch empfangen.
Grundsätzlich sind Menschen mit sicherem Bindungstyp überzeugt davon, dass sie selbst wertvoll und in Ordnung sind, und dass andere vertrauenswürdig und ihnen gut gesinnt sind. Sowohl ihr Level an Angst als auch an Vermeidung sind niedrig.
Bindungstyp 2: Die unsicher-ambivalente Bindung
Diese Ausprägung wird auch „unsicher-ängstlich“ genannt. Menschen diesen Bindungstyps haben in ihrer Kindheit meistens widersprüchliche und unvorhersagbare Reaktionen auf ihre Bedürfnisse erlebt. Manchmal war die Bezugsperson zugewandt und präsent, dann wieder abwesend, emotional nicht verfügbar oder sogar ablehnend.Das führt dazu, dass diese Kinder ständig abzuschätzen versuchen, woran sie gerade sind. Sie haben kein Vertrauen, dass sie geliebt und dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Sie suchen ständig nach Bestätigung, und wenn sie diese nicht von außen bekommen, fällt es ihnen schwer, sich zu regulieren. Wenn sich bei Kindern mit diesem Bindungstyp die Bezugsperson zuerst entfernt und dann wiederkommt, können sie sich dennoch nicht entspannen. Sie klammern und suchen ständig nach Nähe. Bei Erwachsenen mit diesem Bindungstyp zeigt sich eine chronische Unzufriedenheit – es ist „nie genug“, egal, wie viele Liebesbezeugungen sie bekommen. Solche Menschen lassen sich oft vorschnell auf andere ein, „überspringen“ die Schritte, die zu echter Intimität führen, und überfordern ihre Partner*innen mit ihrem Nähe-Bedürfnis.
Sollte jedoch ein potenzieller oder tatsächliche Partner dann tatsächlich „verfügbar“ und zugewandt sein, sind SIE es, die sich distanzieren; sie können Liebe und Zuneigung gar nicht annehmen, weil sie sich ihrer nicht würdig fühlen. Oft kreieren Menschen vom unsicher-ambivalenten Bindungstyp mit diesem Verhalten genau das, was sie am meisten fürchten: Sie werden verlassen. Grundsätzlich sind Menschen mit diesem Bindungstyp überzeugt davon, dass sie selbst nicht in Ordnung bzw. wertvoll sind, während sie von anderen eine hohe Meinung haben. Ihr Level an Angst ist hoch, während ihr Level an Vermeidung niedrig ist.
Bindungstyp 3: Die unsicher-vermeidende Bindung
Menschen mit diesem Typ haben als Kinder erlebt, dass ihre Bezugspersonen nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen, emotional nicht erreichbar, manchmal sogar ablehnend oder feindselig sind. Solche Kinder entwickeln oft die Strategie, sich emotional zu entkoppeln, keine Wünsche mehr zu äußern und keine Reaktionen mehr zu zeigen, wenn die Bezugsperson sich entfernt – aber auch nicht, wenn sie wiederkommt. Sie tun so, als wären sie völlig gleichgültig und unbeeindruckt – Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass durchaus körperliche Stressreaktionen stattfinden.
Als Erwachsene können sich Menschen von diesem Bindungstyp kaum auf andere einlassen. Selbst wenn sie in einer Partnerschaft leben, bleibt diese oft an der Oberfläche. Sie sind die typischen „einsamen Wölf*innen“. Sie vermeiden emotionale Tiefe, Commitment und Hingabe.
Grundsätzlich sind Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster überzeugt davon, dass sie selbst in Ordnung bzw. wertvoll sind, andere jedoch entsprechen nicht ihren hohen Standards. Ihr Level an Angst ist niedrig, während ihr Level an Vermeidung hoch ist.
Bindungstyp 4: Die unsicher-desorganisierte Bindung
Kinder mit diesem Bindungstyp waren häufig ausweglosen Situationen ausgeliefert; sie konnten es ihren Eltern nie recht machen, haben manchmal sogar Gewalt erlebt. Oft haben sie in ihren frühesten Lebensjahren traumatisierende Erfahrungen gemacht, die sie nicht ausreichend verarbeiten konnten.
Solche Kinder reagieren häufig konfus, aggressiv oder mit Stimmungsschwankungen auf die Bezugsperson, wenn diese sich entfernt und dann wiederkommt.
Als Erwachsene sind Menschen von diesem Bindungstyp emotional permanent zerrissen; sie sehnen sich nach Intimität, haben aber große Angst davor.
Bei Menschen mit unsicher-desorganisiertem Bindungstyp ist sowohl der Level an Angst als auch der an Vermeidung hoch. Sie halten sich selbst und auch andere für wertlos und nicht vertrauenswürdig.
Was ist, muss nicht so bleiben
„Egal, ob wir für immer zusammen bleiben oder nicht“, sage ich zu meinem Coach, und Tränen steigen in meine Augen, „ich werde meinem Mann ein Leben lang dankbar sein. Er hat meine Bindungswunden geheilt. Er hat mich von einem unsicher zu einem sicher gebundenen Menschen gemacht.“
„Hat er nicht“, antwortet mein Coach. „Du selbst warst das. Aber er hat dich dabei unterstützt.“
Was ich damit sagen will:
Unser Bindungsstil ist nicht in Stein gemeißelt. Die Zeit vor und die ersten Jahre nach der Geburt sind prägend, keine Frage. Aber das bedeutet nicht, dass wir (und unsere Beziehungen) ein Leben lang zu einem unsicheren Bindungsstil verdammt sind!
Alles ist formbar. Andere Menschen können uns „nachnähren“ und „beeltern“, und auch wir selbst können das tun.
Hallelujah!
„I hope you experience a love that inspires dancing instead of walking on eggshells. I hope you are able to breathe deeply in their presence instead of holding your breath.“ Author unknown
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