Das Frühstücksbuffet lässt keine Wünsche offen, das Personal ist superfreundlich, der Liebste sitzt neben mir und ich fühle mich ihm nah.
Die erste Auszeit seit einer Ewigkeit.
Doch was ist das?
Ich fühle mich nicht beglückt, sondern bedrückt.
Denn da ist diese Frau.
Die Frau im grünen Dirndlkleid.
Bei unserer Ankunft am Freitag hat sie uns an der Rezeption willkommen geheißen, spät am Samstagabend hat sie uns Käsehappen mit Trüffelhonig zum hervorragenden Wein serviert, und zeitig am Sonntagmorgen schwirrt sie nun durch den Frühstücksraum und achtet darauf, dass alle Gäste alles haben, was sie für ihr Wohlbefinden brauchen.
Ihr Rücken ist sehr rund. Ich sehe die Last auf ihren Schultern. Und ich meine, hinter ihrem herzlichen Lächeln eine tiefe Müdigkeit zu erkennen.
Szenenwechsel.
Die Frau mit den Zauberhänden deckt mich fürsorglich zu, während ich auf ihrer Liege ruhe. Loslassen und Abschalten ist angesagt.
Doch was ist das?
Ein Gedanke bringt mich vom Spüren zurück ins Kopfkino.
„Was passiert?“, fragt die Frau mit den Zauberhänden, der wie immer NICHTS entgeht.
„Ich habe mich gerade gefragt, wie anstrengend diese Körperarbeit eigentlich für dich ist“, antworte ich.
Dann lachen wir beide schallend – denn sie kennt mich gut, und ich kenne mich gut, und wir beide wissen, wie gerne ich mich mit Gedanken um das Wohlergehen anderer von mir selbst ablenke.
Wir Menschen sind dafür gemacht, mit anderen zu fühlen. Unser Gehirn ist darauf programmiert. Wenn meine Spiegelneuronen funken, rundet sich mein Rücken unweigerlich mit, wenn ich den runden Rücken der emsigen Hotelmitarbeiterin im grünen Dirndl sehe. Und im Gegensatz zum viel (und falsch) zitierten „Survival of the fittest“ (das übrigens nicht von Charles Darwin, sondern von Herbert Spencer stammt) sind heute zahlreiche Wissenschafter*innen vom Prinzip „Survival of the kindest“ überzeugt. Auch Darwin selbst betonte, dass Mitgefühl einer unserer natürlichsten Instinkte ist, und dass eine Gemeinschaft dann am meisten floriert, wenn ihre Mitglieder Empathie füreinander empfinden. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere.
Aber was, wenn wir vor lauter Mitfühlen uns selbst nicht mehr spüren? Wenn wir unser eigenes Glück nicht mehr genießen können, weil das Unwohlsein, der Schmerz und das Leid anderer uns viel zu nahe gehen?
Dann, ja dann – leiden wir unter Mitgefühl-Erschöpfungssyndrom.
Zu intensives und tiefes Mitfühlen kann ein Grund für emotionale und seelische Erschöpfung sein, die sich manchmal durch körperliche Erschöpfung ausdrückt. Aber es gibt auch noch andere mögliche Ursachen.
5 häufige Ursachen seelischer Erschöpfung
# 1 Du bist erschöpft, weil du zu sehr mitfühlst
Der Trauma- und Stressforscher Charles Figley prägte in den 1990er Jahren den Begriff Compassion Fatigue („Mitgefühls-Erschöpfung“). Ursprünglich bezog sich dieser Begriff auf Menschen in helfenden Berufen, die tagtäglich mit dem Leid und dem Schmerz anderer Menschen in Berührung kamen. Am größten war die Erschöpfung bei denjenigen, die sich am intensivsten engagierten und die am tiefsten mitfühlten.
„There is a cost to caring“, brachte Figley es auf den Punkt.
Heute ist das Phänomen der Mitgefühls-Erschöpfung längst nicht mehr auf professionelle Helfer*innen beschränkt. Die Welt ist näher gerückt. TV und Internet sorgen dafür, dass wir tagein, tagaus mit Bildern von leidenden Wesen überall auf der Welt konfrontiert sind. Wir reisen in fernere Länder, und wir erleben mehr als die Menschen in früheren Zeiten.
Es ist wichtig, berührbar zu bleiben für das Leid anderer. Es ist wichtig, nicht abzustumpfen.
Es ist aber auch wichtig, ein gutes Maß zu finden – wie viel davon ist „gesund“ für uns? Können wir das, was in unserem eigenen Leben gut und schön ist, genießen, auch wenn es anderen nicht so gut geht wie uns? Können wir Dankbarkeit und andere gute Gefühle willkommen heißen und kultivieren, statt uns dafür schuldig zu fühlen?
Niemandem ist geholfen, wenn wir es nicht tun. Denn genau diese guten Gefühle sind es, die dazu führen, dass wir ein Teil der Lösung werden. Genau diese Gefühle machen uns kreativer, lösungsorientierter und offener für andere.
Mitgefühl ist etwas Wunderbares, Verbindendes und Heilsames.
Aber zu viel davon – oder an der falschen Stelle – raubt uns Lebensfreude und Energie.
While we can offer our guidance and a shoulder to cry on,
our responsibility does not lie in fixing others and their problems.We need to draw the line when it comes to giving help
and remember that other people must ultimately
take responsibility for their happiness, not us.”
~ Aletheia Luna
# 2 Du bist erschöpft, weil du nicht dein Tempo gehst
Vor gut zehn Jahren erklomm ich den Traunstein, einen schroffen Gipfel in Oberösterreich, an den sich eigentlich (!) nur erfahrene Bergsteiger*innen wagen sollten. Einer meiner Begleiter war ein Ironman-Thriathlon-erfahrener Bergfex, der besagten Berg in einem Bruchteil der Zeit hinauf- und hinunterwieseln hätte können, die ich dafür brauchte – aber er war so nett, sich meinem Tempo anzupassen.
Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit wieder am Fuß des Berges ankamen und zur Erfrischung ins kühle Nass des Traunsees sprangen, gestand Mister Bergfex, dass dies die anstrengendste Traunstein-Besteigung seines Lebens gewesen war. Meine Langsamkeit hatte ihn völlig ermüdet.
Ich bin vielleicht langsam beim Berge-Besteigen, aber ich bin ziemlich schnell beim Denken, Planen und Anpacken. Deshalb ermüdet es mich, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die diesbezüglich gemächlicher unterwegs sind.
Kein Tempo ist richtig und keines ist falsch, keines ist besser und keines ist schlechter. Und es ist auch völlig in Ordnung, wenn wir uns da und dort dem Tempo anderer anpassen – vor allem, wenn diese anderen kleine Kinder oder alte Menschen sind.
Aber ich habe noch nie erlebt, dass eine schnelle Gazelle extra langsam neben einer gemächlichen Elefantenherde dahintrabt. Okay, okay, ich habe bisher weder Gazellen noch Elefanten in freier Wildbahn erlebt 😉 Aber ich habe auch noch nie gesehen, dass ein flotter Feldhase freiwillig sein Tempo auf das einer Schnecke reduziert – oder umgekehrt.
Auf Dauer macht es uns müde, nicht unser eigenes Tempo zu gehen, zu schwimmen, zu fliegen oder zu kraxeln!
Nur im eigenen Lebensrhythmus kann ein Mensch
erfolgreich werden und Erfüllung finden.
~ Christian Bischoff
# 3 Du bist erschöpft, weil du in der Vergangenheit lebst
Es gibt Dinge in meinem Leben, die ich bereue. Es gibt sogar ein paar Dinge, bei denen es mir schwer fällt, sie mir selbst zu vergeben. Aber ich arbeite daran, denn, wie eine meiner Mentorinnen zu sagen pflegt: „Your past is perfect!“
Darüber nachzudenken, dass die Vergangenheit anders sein hätte können oder sollen, als sie war, macht mich blind für die Chancen und Gelegenheiten der Gegenwart – und es bindet meine Energie. Die fehlt mir dann im Hier und Jetzt, und das wiederum führt zu Erschöpfung.
# 4 Du bist erschöpft, weil du in der Zukunft lebst
Es gibt Dinge, um die ich mir Sorgen mache. Zum Beispiel darüber, ob jemand für mich da sein wird, falls ich einmal alt und pflegebedürftig sein sollte. Oder darüber, wie es um unsere Welt stehen und ob es überhaupt noch so etwas wie „Natur“ geben wird, wenn Herr Sohn in dem Alter ist, dass er selbst Kinder bekommen möchte.
Wenn diese Gedanken dazu führen, dass ich meinen ökologischen Fußabdruck verkleinere, achtsamer lebe und damit vielleicht sogar andere anstecke: Gut.
Wenn sie dazu führen, dass ich mich gelähmt fühle und denke, dass die Menschheit ohnehin verloren und es zu spät für jeden Rettungsversuch ist: Weniger gut.
Sich darüber Sorgen zu machen, was in der Zukunft alles Schlimmes passieren könnte, lässt unseren Stresshormon-Spiegel steigen, noch ehe überhaupt eine Stress-Situation eingetreten ist. Die Folge: Wir können nicht mehr entspannen und regenerieren, und unser Immunsystem läuft auf Sparflamme. Erschöpfung ist vorprogrammiert.
Emotions, so strong at first, can easily shift into apathy.
The subsequent guilt is paralyzing;
it can prevent us from ever doing anything and freeze us into inaction.No wonder some people live for themselves,
unaware of or unengaged with those who desperately need help.When global problems overwhelm,
the human tendency is to do nothing.”
~ Chris Marlow
# 5 Du bist erschöpft, weil du an deiner Berufung vorbeilebst
Kürzlich habe ich Herrn Sohn gebeten, zwei Bücherregale die Treppen hinaufzutragen. Er tat es ohne Murren, doch wenig später ließ er mich wissen: „Mama, wenn du so etwas von mir verlangst, dann fühle ich mich VERGEUDET.“
Mag sein, dass diese Aussage seiner jugendlicher Bequemlichkeit geschuldet war – aber ich hatte eher das Gefühl, dass mein Riesenbaby sehr genau weiß, worin seine Talente liegen und worin nicht.
Und ganz ehrlich: Auch ich habe mich VERGEUDET gefühlt, als ich noch als Mathe-Lehrerin gearbeitet habe, als Wissenschaftsjournalistin oder als Bildungsmanagerin – obwohl das alles sinnvolle, tolle und ehrenwerte Berufe sind. Für andere mögen es genau DIE Berufe sein, in denen ihre Talente am besten zum Einsatz kommen. Ich hingegen lief damals vor meiner Berufung davon.
Manchmal wundere ich mich selbst darüber, wie viel Energie, Geduld und Durchhaltevermögen ich für Dinge aufbringe, die ich mich begeistern – und wie schnell ich mit meiner Kraft und Geduld am Ende bin, wenn es sich um Dinge handelt, die einfach nicht meinen Gaben und Leidenschaften entsprechen.
Natürlich ist auch meine Arbeit manchmal anstrengend, und manchmal bin ich müde. Aber es ist eine freudvolle Anstrengung, die vor Sinn nur so strotzt. Es ist eine gute Art von Müdigkeit – eine, die mich stolz und zufrieden macht. Und das ist etwas ganz anderes als jene seelische Erschöpfung, die mein täglicher Begleiter war, als ich noch an meiner Berufung vorbei gelebt habe!
Berufung ist das Schöpferische,
das in jedem Menschen liegt.
~ Gizella Hartmann
Was als hilft gegen seelische Erschöpfung?
Bleib empfänglich für den Schmerz anderer – aber leide nicht mit ihnen. Schaffe Räume in deinem Leben, in denen es ausschließlich um dein eigenes Wohlbefinden geht. Erlaub dir dein eigenes Lebensglück und schöpfe Kraft daraus – umso mehr kannst du für andere da sein, ohne auszubrennen.
Erforsche, welches Tempo DIR gut tut, und wie DEIN natürlicher Rhythmus pulsiert. Mach es dir zum Prinzip, dein Leben DANACH auszurichten. Wenn du das zu weiten Teilen tust, wird es dir leicht fallen und nicht allzu viel Energie kosten, dich auch mal flexibel an andere oder an besondere Umstände anzupassen.
Wenn du schon gedanklich in die Vergangenheit reist, dann lass die guten und schönen Erinnerungen aufleben, anstatt mit dem zu hadern, was nicht so lief, wie du es dir vorgestellt hast. Vor allem aber: Erzähl dir DIE Geschichte über dich und dein bisheriges Leben, die dazu führt, dass du dankbar zurückschauen, in der Gegenwart kraftvoll handeln und zuversichtlich in die Zukunft blicken kannst!
Wenn du deine Imaginationskraft nutzt, um in die Zukunft zu reisen, dann wähle die guten Visionen, nicht das Worst-Case-Szenario! Nicht, um dir etwas schönzureden oder vor den Herausforderungen unserer Zeit zu flüchten. Sondern um deinen Geist dafür zu öffnen, dass es Möglichkeiten und Chancen gibt, einen besseren Weg einzuschlagen, und dass es an uns ist, das JETZT zu tun.
Und: Folge deiner Freude, deiner Leidenschaft und deiner Begeisterung! Je mehr Sinn du in deinem Tun findest, desto mehr Energie fließt dir zu – und du wirst über dich hinaus wachsen, wenn du deinem Leben eine Bedeutung gibst, die über dich selbst hinaus geht.
Was erschöpft DICH – und was macht dich zur Schöpferin? Ich freue mich auf Inspirationen von dir in den Kommentaren!
Quellen:
https://www.scientificamerican.com/article/kindness-emotions-psychology/
David B. Drake: Narrative Coaching: The Definitive Guide to Bringing New Stories to Life