Mit 30 leide ich an einer Essstörung.
Mit 35 habe ich sie überwunden.
Mit 40 beginne ich langsam, darüber zu sprechen.
Mit 45 kann ich OHNE SCHAM davon erzählen.
Die Geschichte, die ich mir früher über diese Zeit in meinem Leben erzählt habe, war folgende:
Ich war einfach zu schwach. Ich habe es nicht geschafft, mein Leben als Single Mom mit einem kleinen Baby auf die Reihe zu bekommen. Ich habe mit der Essstörung nicht nur mir und meinem Körper geschadet, sondern auch meinem Kind. Es war die Hölle, und ich habe Angst davor, so etwas noch einmal erleben zu müssen.
Heute erzähle ich mir eine andere Geschichte.
Die einer jungen Frau, die lernen durfte, auch die intensivsten und schwierigsten Gefühle zu fühlen, ohne sich mit Essen zu betäuben. Die lernen durfte, ihren Körper bedingungslos zu lieben. Einer Frau, die ein tiefes Verständnis für die Zusammenhänge von Körper, Seele und Geist entwickeln durfte – und dafür, welche Auswirkungen traumatische Erfahrungen haben können. Die einer Frau, die erleben durfte, dass auch die dunkelste Nacht der Seele irgendwann endet, und dass die Morgendämmerung, die dieser Nacht folgt, alles Leiden zu transformieren vermag.
Keine dieser beiden Geschichten ist „wahrer“ als die andere. Keine erzählt DIE Wahrheit über meine Vergangenheit – weil es DIE Wahrheit nicht gibt.
Aber indem ich mich für jene Geschichte entscheide, die mir Dankbarkeit, Mut und Stärke schenkt, hole ich mir meine Macht über die Vergangenheit zurück.
Nichts von dem, was in unserer Vergangenheit geschehen ist, kann uns beschämen. Nichts davon kann uns verletzen, kränken oder limitieren. Nur unsere GEDANKEN über die Vergangenheit können das. Unser Bewertungen, die GESCHICHTEN, die wir uns über die Ereignisse unseres Lebens erzählen, kränken, verletzen und beschämen uns.
Vielleicht spürst du Widerstand gegen diese Sichtweise. Vielleicht denkst du „Aber Laya, ich habe wirklich Furchtbares erlebt, mir ist großes Unrecht widerfahren – wie sollte mich DAS nicht auch in der Gegenwart beeinflussen?“
Ich verstehe diesen Widerstand, denn ich kenne ihn von mir selbst. Ich BEHARRE darauf, dass meine Vergangenheit an allem möglichen Schuld ist – oder zumindest alles mögliche erklärt.
Dass meine Eltern so ängstlich waren, ist Schuld daran, dass auch ich unter Ängsten litt.
Dass die Geburt meines Sohnes so traumatisch verlaufen ist, ist Schuld daran, dass ich mein Vertrauen ins Leben völlig verloren habe.
Dass meine erste Partnerin in der Yogalounge gleich nach der Gründung wieder ausgestiegen ist, ist Schuld daran, dass ich alles alleine tragen musste und das unternehmerische Überleben zum Kampf wurde.
Auch wenn ein Körnchen Wahrheit in diesen Geschichten stecken mag, so ist doch keiner dieser Sätze an sich „wahr“ – denn das Leben und die menschliche Psyche sind mit Sicherheit viel komplexer, als unser Verstand, der einfache Ursache-Wirkung-Erklärungen liebt, akzeptieren möchte.
„The truth you believe and cling to makes you unavailable to hear anything new.“ ~ Pema Chödrön
Viel wichtiger als die Frage, ob meine Erklärungsmodelle „wahr“ sind, ist die Frage: SIND SIE HILFREICH?
Keiner dieser Sätze führt dazu, dass ich mich in der Gegenwart gut, mächtig und selbstbewusst fühle. Keiner führt dazu, dass ich mich JETZT so verhalte, dass meine Zukunft so aussieht, wie ich es mir wünsche.
Wir können nicht ändern, was geschehen ist – aber welche BEDEUTUNG wir dem gegen, was geschehen ist, liegt bei uns. Wir können unsere Geschichte umschreiben. Wir können sie neu schreiben. Und damit die Spur legen für die nächsten Kapitel unseres Lebensbuches.
Vielleicht fragst du dich: Wenn es sooo einfach ist, die Vergangenheit zu heilen – warum ist es dann so schwierig? Warum tauchen immer wieder dieselben Gedanken , Schuldzuweisungen, Vorwürfe und Opfergefühle auf?
Du hast recht: Es ist einfach UND es ist schwierig.
Das Prinzip ist einfach. Aber wenn wir es in die Tat umsetzen wollen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dem einen oder anderen Gespenst zu begegnen, das furchterregend mit den Ketten rasselt, laut „Huuuuhuuuu“ macht und die Tür bewacht, hinter der die Freiheit auf uns wartet.
Warum es so schwierig ist, die Vergangenheit loszulassen
# 1 Wir wollen gesehen werden
Es ist unendlich heilsam, jemandem von unseren tiefsten Wunden und Verletzungen erzählen zu können. Es ist unendlich heilsam, wenn dieser jemand uns SIEHT, mit all unseren Schrammen und Sprüngen und mit unserer Scham. Und es ist wichtig, dass wir auch selbst anerkennen, dass wir schwierige Erfahrungen gemacht haben und dass uns Unrecht widerfahren ist.
„If we share our story with someone who responds with empathy and understandingshame can’t survive.“ ~ Brené Brown
Es ist schwierig, die Vergangenheit loszulassen, solange all das nicht ausreichend Anerkennung erfahren hat, solange wir es nicht ausdrücken können und dürfen.
Oft fällt es uns schwer, darüber zu sprechen, weil wir nicht jammern und niemandem zur Last fallen wollen. Oder weil die Scham (noch) zu groß ist.
Interessanterweise führt das authentische Ausdrücken selbst oft schon dazu, dass wir uns emotional von unserer Vergangenheit lösen können und unsere Geschichte über die Vergangenheit sich wandelt. Wir brauchen dazu nicht einmal unbedingt ein Gegenüber – auch über belastende Ereignisse zu SCHREIBEN wirkt heilsam und befreiend!
Es ist wichtig, dass wir uns selbst SEHEN in unserer menschlichen Erfahrung mit all ihrer Schönheit – aber auch mit allem Schwierigen, Verwirrenden, Schmerzhaften. Es ist wichtig, dass wir anerkennen, dass so ein Menschenleben oft wirklich alles andere als einfach ist.
Wir können all das sehen – aber wir müssen uns nicht darauf fixieren.
Wir können all das anerkennen – aber wir müssen uns nicht damit limitieren.
Wir können uns und unser Leben mit dem zärtlichen Blick der Liebe betrachten – und darauf vertrauen, dass unter diesem Blick die Gespenster sich in hilfreiche Geister wandeln werden, die uns den Weg in die Freiheit weisen.
# 2 Wir wollen Opfer bleiben
Solange wir unserer Vergangenheit die Schuld an allem Möglichen geben, können wir in der Opferhaltung bleiben. Das lähmt zwar und raubt uns unsere Macht – aber es bewahrt uns davor, radikale Selbstverantwortung übernehmen zu müssen.
Manchmal ist es uns lieber, nicht das Leben zu führen, das wir eigentlich führen wollen, als diese Verantwortung zu übernehmen. Weil es einfacher ist. Weil es weniger Mut und Risikobereitschaft von uns fordert.
Aus der Opfer-Rolle auszusteigen bedeutet nicht, zu negieren, dass wir in einer vergangenen Situation das Opfer waren – zum Beispiel als Kind, zu einer Zeit, in der wir tatsächlich abhängig und manchmal auch hilflos waren.
Aus der Opfer-Rolle auszusteigen bedeutet, uns dafür zu entscheiden, in der Gegenwart und in der Zukunft nicht das Opfer unserer Vergangenheit zu sein.
Es bedeutet, zu wählen, wie viel – oder wenig – Macht wir den vergangenen Ereignissen geben.
# 3 Wir wollen Recht haben
Immer wenn wir denken, dass etwas in der Vergangenheit anders sein hätte sollen, als es war, schaffen wir uns unsere eigene Hölle.
Meine Mutter hätte nicht eine solche Glucke sein sollen.
Meine Lehrerin hätte mich nicht vor allen anderen beschämen sollen.
Ich hätte genauso viel erben sollen wie meine Cousinen.
Ich hätte schon viel früher einen anderen beruflichen Weg einschlagen sollen.
Wir können seeeehr viel Zeit und seeeehr viel mentale Energie darauf verschwenden, mit der Vergangenheit darüber zu verhandeln, wie sie sein hätte sollen.
Aber was macht es mit uns, solche Gedanken zu denken?
Es macht uns erst recht zu Opfern.
Wir maßen uns an, zu wissen, wie etwas sein hätte sollen. Wir denken, es stehe uns zu, das Leben zu kontrollieren.
Aber das tut es nicht.
Was uns jedoch zusteht – und wovon wir unbedingt Gebrauch machen sollten – ist, die Kontrolle über unsere Gedanken, Urteile und Bewertungen zurückzuerobern.
Aus einer relativen Perspektive ist es vielleicht sogar „wahr“. Ja, Mütter sollten ihre Kinder nicht überbehüten. Lehrer*innen sollten ihre Schüler*innen nicht beschämen. Menschen sollten keine Nachteile haben, weil ihnen weniger Geld zur Verfügung steht als anderen.
Aus einer höheren, universellen Perspektive betrachtet gibt es dieses „Sollte“ nicht. Es gibt Raum, es gibt Zeit, und darin geschehen Dinge. Aus einer universellen Perspektive ist nichts davon gut oder schlecht, und es gibt weder Richtig noch Falsch.
Dafür gibt es ein UND.
Meine Mutter war übervorsichtig UND ich habe mich aus diesem engen Käfig befreit und bin ein mutiger Mensch geworden.
Meine Lehrerin hat mich vor allen anderen bloßgestellt UND es ist mir gelungen, diese Wunde zu heilen und meinen Wert und meine Würde als Mensch bedingungslos anzuerkennen.
Meine Cousinen haben mehr Geld geerbt als ich UND es ist mir gelungen, durch smarte Entscheidungen meinen Startnachteil wettzumachen.
Ich habe meine Berufung erst spät gefunden UND ich lebe sie dafür umso intensiver und dankbarer.
Wir können nicht kontrollieren, was vor dem UND kommt. Aber wir haben Einfluss auf das, was danach kommt.
Ist das nicht absolut befreiend?
3 Wege, die Vergangenheit loszulassen
# 1 Vergebung
“Ich bin wirklich eine spirituelle Pragmatikerin.Ich habe in diesem Leben so vielen Leuten so viel verrücktes Zeug vergeben, nur um Frieden und Glück zu erlangen. Im Gegensatz dazu, verletzende Taten einfach nur hinzunehmen, macht echte Vergebung dich frei.” ~ Tosha Silver
In vielen Fällen ist Vergebung wirklich ein Zaubermittel.
Manchmal denken wir, einer Person zu vergeben, bedeutet, alles hinnehmen und diese Person weiterhin in unserer Nähe haben zu müssen.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich kann meinem Partner VERGEBEN. dass er mich betrogen hat UND ich kann beschließen, nicht mehr mit jemandem zusammen sein zu wollen, der so etwas tut.
Ich kann meiner Freundin VERGEBEN, dass sie gegenüber anderen schlecht über mich geredet hat UND ich kann mich dafür entscheiden, die Freundschaft zu beenden.
Vergeben löst emotionale Verstrickungen, statt sie zu intensivieren.
Menschen, die bereit sind, sich selbst und anderen zu vergeben, finden erwiesenermaßen mehr Sinn im Leben, sind zufriedener, und leiden weniger häufig unter Aggressionen, Angst und Depressionen. Sie sind optimistischer, dankbarer und sozial aufgeschlossener.
Na, sind das nicht gute Gründe dafür, über unseren Schatten zu springen und großzügig Vergebungs-Geschenke zu verteilen?
{Übrigens: Vergebung setzt voraus, dass es so etwas wie „Schuld“ gibt, und dass wir in einer Trennung zwischen Du und Ich leben. So erleben die meisten Menschen (mich eingeschlossen 🙂 ) die Welt. Es ist gut zu wissen, dass Vergebungsbereitschaft in DIESER Wahrnehmungsdimension eine wunderbare Haltung ist, dass es aber auch noch eine andere Dimension gibt, in der es nichts zu vergeben gibt – einfach weil es keine Schuld gibt.}
# 2 Akzeptanz und Selbstmitgefühl
Achtsames Selbstmitgefühl, so die Psychologin und Pionierin auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls Kristin Neff, ist eine sehr gesunde Form der Selbstakzeptanz. Dazu gehört, die universelle Menschlichkeit anzuerkennen, die unseren schmerzhaften Erfahrungen innewohnt. Es ist wichtig, zu akzeptieren – und uns selbst Mitgefühl dafür zu schenken – dass es ganz schön viel von uns erfordert, in einem Menschenkörper auf diesem Planeten zu wandeln, und dass Schmerz und Leiden nun mal zu dieser menschlichen Erfahrung gehören. Beziehung zu anderen einzugehen kann eine der wundervollsten Erfahrungen dieses Menschenlebens sein, aber es ist unweigerlich auch mit Schmerz verbunden – und sei es nur der Schmerz, einen geliebten Menschen zu verlieren.
Einer Studie zufolge sind Menschen, die gelernt haben, sich selbst Mitgefühl zu schenken, glücklicher, optimistischer und weiser. Sie zeigen mehr persönliche Initiative, sind neugieriger und zeigen weniger negative Emotionen und Neurotizismus.
# 3 Die Geschichte ändern
„Was einst unsere unhinterfragte Wahrheit war,können wir nun einfach als eine von mehreren Optionen sehen,aus denen wir wählen können.“~ David B. Brake
Die Geschichten, die wir uns über unser Vergangenheit erzählen, prägen unser Selbstbild, unsere Wahrnehmung der Gegenwart und unsere Vorstellung davon, was für uns in Zukunft möglich ist und was nicht. Diese Geschichten können ein Gefängnis sein, sie können unseren Selbstwert untergraben und unser Potenzial, ein freies, kreatives und erfülltes Leben zu führen, verkümmern lassen.
ODER sie können uns ermutigen, uns unsere Stärken und unsere Resilienz bewusst machen, uns einen liebevoll-realistischen Blick auf uns und unser Gewordensein ermöglichen und uns helfen, unser weiteres „Werden“ selbst in die Hand zu nehmen.
Wir können anerkennen, dass all unsere Prägungen und Erfahrungen uns zu dem Menschen gemacht haben, der wir heute sind. UND wir können darüber hinausgehen. Wir können dem allen die Bedeutung geben, die wir ihm geben WOLLEN. Wir können uns entscheiden, ob wir die Heldin oder das Opfer unserer Vergangenheit sein wollen.
Wir müssen unsere Identität nicht aus unserer Vergangenheit heraus kreieren. Wir können eine Identität kreieren, die dem entspricht, wer wir in Zukunft sein wollen!
“Ich bin nicht das, was mir passiert ist. Ich bin das, was ich entscheide zu werden.“~ C.G. Jung
Unsere Geschichte(n) zu verändern ist nicht immer einfach, da wir gewohnt sind, an dem festzuhalten, was wir uns schon seit Ewigkeiten erzählen, und was wir deshalb für „die Wahrheit“ halten. Zum Glück gibt es wunderbare Methoden, zum Beispiel aus Schreibtherapie und narrativem Coaching, mit denen wir unsere Vergangenheit kreativ und mit Leichtigkeit verändern können!
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Zum Abschluss noch ein wichtiger Hinweis: Für Menschen, die Traumata erlebt haben, an post-traumatischer Belastungsstörung, etc. leiden können diese Zugänge und Haltungen zwar hilfreich sein, sie sind aber keinesfalls ausreichend. Traumatische Erfahrungen sind keine Erinnerungen, sondern verändern die Funktion des Nervensystems. Diese Veränderung kann nicht durch das „Neu-Erzählen“ oder „Auslöschen“ schmerzhafter Erinnerungen geheilt werden, sondern nur durch Wiedererlangen eines resilienten Nervensystems. Es ist ein Segen, dass es heute wirksame Therapien gibt, die schon vielen Menschen mit Trauma-Erfahrungen zur Heilung verholfen haben!
Was sind deine Strategien, die Vergangenheit hinter dir zu lassen, die Gegenwart zu genießen und die Zukunft zu gestalten? Ich freue mich auf Inspirationen von dir in den Kommentaren!
Quellen:
- D. E. Davis et al: Forgiving the self and physical and mental health correlates: A meta-analytic review. Journal of Counseling Psychology, 2015.
- I. Yalçın & A. Malkoç: The Relationship Between Meaning in Life and Subjective Well-Being: Forgiveness and Hope as Mediators, Journal of Happiness Studies, 2014.
- M. A. Warren et al: Applying Positive Psychology to Advance Relationship Science. In: M. Warren & S. Donaldson: Toward a Positive Psychology of Relationships, 2017.
- J.W. Pennebaker & C.K. Chung: Expressive Writing: Connections to physical and mental health. In: S. Friedmann: Die Oxford Handbook of Health Psychology, 2011.
- K. Neff et al: An examination of self-compassion in relation to positive psychological functioning and personality traits, Journal of Research in Personality, 2004.
- https://www.somaticexperiencing.at/trauma/trauma-und-korper/
- Bessel van der Kolk: The Body Keeps the Score. Mind, brain and body in the transformation of trauma