Manchmal glaube ich es noch immer nicht.
Dann denke ich, ich muss am selben Tag ins Einrichtungshaus fahren und einen Workshop halten.
Dann denke ich, an ein und demselben Nachmittag meinen Vater zu besuchen, zwei Coachings abzuhalten und zur Gynäkologin zu gehen sei eine gute Idee.
Dann denke ich, sooo schlimm sind überfüllte Straßenbahen, Shoppingcenters und mit dem Fahrrad über dichtbevölkerte Einkaufsstraßen zu fahren auch wieder nicht.
Aber dann zahle ich den Preis.
Jedes Mal.
Jedes Mal, wenn ich vergesse, dass ich hochsensibel bin.
Jedes Mal, wenn ich vergesse, dass ALLES mir schnell zu viel, zu laut, zu grob, zu turbulent, zu anstrengend wird – sogar Dinge, die ich gerne tue.
Jedes Mal, wenn ich vergesse, dass mein feines Wahrnehmungssystem Schutz und Fürsorge braucht, antwortet mein Nervensystem mit Überreiztheit, weine ich grundlos, herrsche ich Herrn Sohn in einer Art und Weise an, in der ich niemals mit meinem Kind sprechen wollte, oder bekomme Migräne.
Und dann ist da die andere Seite dieser hübschen Hochsensibilitäts-Medaille.
Eine halbe Stunde vor Beginn der Yogaklasse höre ich die erste Teilnehmerin die Treppen heraufkeuchen. Plötzlich denke ich, ich könnte heute als Willkommensmusik Klänge des genialen Cellisten Yo-Yo Ma spielen. In meinen zehn Jahren als Yogalehrerin habe ich noch niemals Cello-Musik gespielt. Aber heute flüstert mir die Eingebung zu: Yo-Yo Ma! Tu’s einfach!
„Das gibt es nicht.“
Als die Yoga-Schülerin den Raum betritt, ist sie fassungslos. Sie greift in ihre Handtasche und fischt eine CD heraus.
Die CD ist von Yo-Yo Ma.
„Ich habe heute eine Freundin zur Yoga-Stunde eingeladen, sie kommt auch gleich. Und ich habe ihr versprochen, ihr diese CD zu borgen.“
Hochsensibel – das ganze Package
Ich kenne niemanden, der nicht das gesamte HSP-Package gebucht hätte. Niemanden, der die Gabe der Feinfühligkeit geschenkt bekommen hätte, ohne nicht auch den Herausforderungen Rechnung tragen zu müssen. Niemanden, der tief und viel wahrnimmt, spürt und fühlt, ohne lernen zu müssen, sich entsprechend zu schützen und sein Nervensystem auszugleichen.
Vielleicht gehörst du auch zu diesen Menschen.
Zu denen, die manchmal das Gefühl haben, sie seien zu zart für diese Welt.
Zu denen, deren Nervenkostüm bei allem, was laut, grob oder grell daherkommt, zu flattern beginnt.
Zu denen, die hören, was andere denken, und denen es manchmal schwer fällt, zwischen den eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer zu unterscheiden.
Zu denen, die besonders intuitiv und empathisch sind, verantwortungsvoll und hilfsbereit, die über einen feinen Sinn für Ästhetik verfügen und über einen hohen Gerechtigkeitssinn.
Manchmal denke ich: Nein, wir sind nicht zu zart für diese Welt, wir Hochsensiblen. Aber diese Welt ist zu hart, zu laut, zu unachtsam und zu wenig behutsam für uns!
Manchmal denke ich: Wir müssen (und können!) für uns eine neue, eine andere Welt kreieren. Eine, in der unsere feinfühligen Gaben eine Chance haben, aufzublühen, anstatt hinter einem „dickeren Fell“ oder einem harten Schutzpanzer zu verkümmern.
Manchmal denke ich, dass ich den Preis der immer wiederkehrenden Reizüberflutung gerne zahle – dafür, dass ich die Schönheit dieser Welt so intensiv wahrnehmen und dass ich so tief fühlen darf. Dafür, dass Kleinigkeiten, die anderen nicht mal auffallen, mich in ehrfurchtsvolles Staunen versetzen.
Manchmal denke ich an Schmetterlinge, zart-lila Vergissmeinnichtblüten und an Herrn Sohn, dessen psychologisches Feingefühl mich immer wieder verblüfft – und der seit jüngster Kindheit Menschenansammlungen, Schul-Skikurse und laute Jahrmärkte verabscheut hat. Und der auch jetzt, mit knapp 18 Jahren, lieber allein spazieren geht als mit Freunden auf ein Bier.
Was wäre die Welt ohne diese zarten Wesen? Ohne diese Wesen, die uns daran erinnern, dass nicht nur das zählt, was sich an der Oberfläche groß, laut und glitzernd zeigt?
Spür dein Herz: Dein Herz soll gesegnet sein.Dein Herz, das zart und weich und kraftvoll ist, das dir die Möglichkeit gibt, dich zu freuen und glücklich zu sein, das dich Schönheit empfinden lässt und dich berührbar macht, das lieben kann und das dich Verbundenheit mit allem fühlen lässt. Atme in dein Herz und bedanke dich bei ihm.~ Richard Stiegler
Was Hochsensibilität ist – und was nicht
Was Hochsensibilität nicht ist: eine Krankheit.
Hochsensibilität ist auch nicht dasselbe wie Introvertiertheit (etwa 30 % aller Hochsensiblen sind extravertiert) oder Schüchternheit.
Hochsensitiv, dünnhäutig, empfindsam, feinfühlig, wahrnemungsbegabt, zart besaitet – es gibt viele verschieden Worte für das Phänomen Hochsensibilität. Die Psychologin und Psychotherapeutin Elaine Aron prägte in den 1990er Jahren die Begriffe „Highly Sensitive Person (HSP)“ und “High Sensory-Processing-Sensitivity (HSPS)”. Darin schwingt bereits mit, dass Hochsensibilität etwas mit der Verarbeitung von Sinnesreizen zu tun hat.
Wie mittlerweile auch zahlreiche andere Forscher*innen schätzt Elaine Aron Hochsensibilität eher als Aspekt unseres Temperaments ein, weniger als Persönlichkeitsmerkmal. Das bedeutet: Diese Eigenschaft ist in uns angelegt, durch genetische und pränatale Faktoren geprägt, und bleibt im Laufe unseres relativ stabil. (Tatsächlich nimmt die Sensibilität mit zunehmendem Alter sogar tendenziell zu.)
Hochsensible Menschen reagieren stärker auf psychische und sensorische Reize – sie nehmen mehr und intensiver wahr, und sie verarbeiten Informationen anders. Sie sind schneller reizüberflutet und brauchen mehr Rückzug, um die über die Sinne aufgenommenen Information zu verarbeiten.
Was genau die Ursache dafür ist, ist noch nicht klar. Filtern und dämpfen die neuronalen Verarbeitungssysteme von Hochsensiblen die Reize weniger stark? Oder stuft ihr Nervensystem mehr Reize als „wichtig“ oder „bedeutsam“ ein? Arbeitet der Hypothalamus – quasi unser „Gefühlsregler“ – anders als bei Nicht-Hochsensiblen, womöglich durch pränatale Stress-Erfahrungen verursacht?
Klar ist jedenfalls: HSP nehmen offener und subtiler wahr und ihr Nervensystem verarbeitet innere und äußere Reize intensiver. Dies wiederum führt schnell zu Übererregung und Reizüberflutung.
Es gibt übrigens Hinweise darauf, dass Hochsensible vermehrt zu Ängsten, Depressionen und negativer Emotionalität neigen. Forscher*innen gehen jedoch davon aus, dass diese Tendenz nicht von der Veranlagung zur Hochsensibilität selbst stammt – sondern dass negative Einflüsse durch das Umfeld bei HSP eine stärkere und tiefere Wirkung entfalten als bei anderen Menschen.
15 bis 20 von hundert Menschen sind hochsensibel, manche Studien sprechen auch von rund 30 Prozent. Und wusstest du, dass auch etwa 20 Prozent mancher Tierarten hochsensibel sind?
HSP, HSS und Scanner-Persönlichkeiten
Offen, neugierig, schnell gelangweilt, hungrig nach Inspiration und geistiger Nahrung, immer wieder verliebt in neue Menschen, Hobbies und Ideen?
Wenn du dich darin wiedererkennst, dann gehörst du wahrscheinlich zu einer Untergruppe der Hochsensiblen – zu den „High Sensation Seekers (HSS)“. Vielleicht hast du oft den Wohnort, den Arbeitsplatz oder sogar den Beruf gewechselt, hast dich immer wieder neu erfunden, und empfindest Routine-Arbeiten als absolute Energieräuber.
Dann geht es dir wie mir.
In Kombination mit der Feinspürigkeit der Hochsensiblen ist es eine besondere Herausforderung, ein HSS zu sein, also die angenehme Aufregung des Neuen zu lieben – und gleichzeitig sehr schnell davon überfordert zu sein und sich wieder nach heiliger Ruhe zu sehnen … bis diese dich wieder zutiefst langweilt …. und alles von vorne beginnt 😉
Etwa ein Drittel aller Hochsensiblen sind auch High Sensation Seekers.
Und dann sind da natürlich auch noch meine geliebten Scanner / Multipassionates. Seeehr viele meiner Coaching-Klientinnen gehören dazu – und ich selbst natürlich auch!
Während andere verzweifelt nach neuen Ideen suchen, können wir uns der kreativen Eingebungen kaum erwehren – und natürlich wollen wir jede davon sofort verwirklichen. Und wie, bitte, soll frau Prioritäten setzen, wenn doch so vieles gleichzeitig verlockend und interessant ist? Bei sämtlichen Persönlichkeits-Typologien – von Chakras über Myers-Briggs bis zum Enneagramm – erkennen wir uns in ALLEN Typen wieder. Und irgendwie haben wir das Gefühl, wir könnten ALLES sein – von der Modedesignerin über die Wissenschafterin bis zu Mutter Teresa.
Erkennst du dich wieder? Dann herzlich willkommen in der aufregenden Welt der Scanner!
Warum Tagebuch-Schreiben für Hochsensible besonders wohltuend ist
Schreiben kann für dich als Hochsensible genau DER Rückzugsort sein, nach dem du dich sehnst. Es hilft dir, deine aufgewühlten Gedanken und Gefühle zu ordnen. Es ermöglicht dir, auszudrücken, was dich bewegt. Alle Überforderung, alles Zuviel, all die intensiven Emotionen dürfen ungefiltert aufs Papier fließen. Schreiben kann dir helfen, dein Nervensystem zu beruhigen und aus der Überreiztheit auszusteigen. Es ist wie ein Zuhause, in dem du immer willkommen bist, und wo du genau die Geborgenheit erfährst, die deiner Zartheit gut tut.
Viele feinfühlige Menschen haben außerdem ein ausgeprägtes kreatives Potenzial – das allerdings Freiräume braucht, um sich zu entfalten. Unter Druck und mit strengen Vorgaben zieht sich diese kreative Gabe nämlich ganz schnell in ihr Schneckenhaus zurück. Deshalb sind liebevolle Schreib-Rituale und die Möglichkeit, mit Stift und Papier frei zu experimentieren, für Hochsensible eine wundervolle Gelegenheit, ihren inneren Reichtum kreativ auszudrücken.
Drei Schreib-Impulse für Hochsensible
# 1 Expressives Schreiben
Über belastende Erlebnisse zu schreiben fördert die körperliche und psychische Gesundheit auf verschiedensten Ebenen – zum Beispiel stärkt es das Immunsystem und bewirkt eine Abnahme depressiver Symptome. Alles Belastende, das aufs Papier fließen darf, verlässt ein Stück weit unser Körper-Geist-Seele-System. Das Schreiben klärt und beruhigt – und manchmal hilft es sogar, einen höheren Sinn in allem zu entdecken.
So funktioniert’s:In der klassischen Anleitung wird empfohlen, an drei aufeinander folgenden Tagen jeweils 20 – 30 Minuten lang über ein Ereignis, das dich emotional aufgewühlt hat, zu schreiben. Du kannst diese Anleitung natürlich an deine persönlichen Lebensumstände anpassen, und es ist auch nicht unbedingt notwendig, an aneinanderfolgenden Tagen zu schreiben. Wichtig ist nur, dass es einen klaren Anfang und ein klares Ende gibt.
Achte weder auf Rechtschreibung noch auf Grammatik, sondern schreib einfach drauf los.
Manche Menschen fühlen sich direkt nach dem Schreiben traurig oder erschöpft. Meistens klingen diese Gefühle schnell ab, und langfristig gesehen steigert das expressive Schreiben das psychologische Wohlbefinden. Wenn du allerdings merkst, dass das Schreiben dich sehr aufwühlt, dann unterbrich oder beende es, oder schreib einfach über ein anderes Thema!
# 2 Schreib deine Geschichte um
Welche Geschichten wir uns über uns selbst erzählen, hat einen enormen Einfluss auf unser Fühlen und unser Verhalten – und dadurch auf die Resultate, die wir in unserem Leben kreieren. Natürlich sind diese Geschichten davon beeinflusst, wie andere uns im Laufe unseres Lebens begegnet sind. Vielleicht hast du schon öfter diese oder ähnliche Sätze gehört:
Nimm dir doch nicht immer alles so zu Herzen!
Du bist so über-emotional.
Du bist viel zu nah am Wasser gebaut.
Sei doch nicht so empfindlich!
Du brauchst einfach ein dickeres Fell.
All diese Aussagen – von wem auch immer sie stammen mögen – waren vielleicht sogar gut gemeint. Aber sie haben dir das Gefühl gegeben, dass du so, wie du bist, nicht richtig bist. Entsprechend sieht deine Geschichte über dich selbst aus.
Die gute Nachricht ist: Du kannst deine Geschichte umschreiben! Du kannst sie NEU schreiben – und zwar voller Wertschätzung und Verständnis für alles, was dich ausmacht, inklusive deiner Feinfühligkeit.
So funktioniert’s:Schreib eine Erzählung über dich selbst, in der deine Hochsensibilität im Mittelpunkt steht, und in der du sie als besondere Gabe hervorhebst. Zum Beispiel könntest du so beginnen:
„Es war einmal ein kleines Mädchen, das besonders tief fühlte. Auf wundersame Weise wusste es sofort, wenn es jemand anderem schlecht ging …“
Du kannst auch darüber schreiben, dass es nicht immer einfach war, als hochsensibler Mensch auf dieser Erde zu leben – und darüber, wie du gelernt hast, liebevoll damit umzugehen.
Ich bin stärker als die Wörter, die andere sagen, und größer als die Schublade, in die sie mich stecken wollen. ~ David Levithan
# 3 Gebrauchs-Anweisung für ein zartes Wesen
Für jedes technische Gerät gibt es eine Gebrauchsanweisung. Jeder Akku muss hin und wieder aufgeladen werden, jedes Auto benötigt Wartung und Pflege, jede Pflanze braucht die richtige Erde und das richtige Maß an Sonne und Wasser, um zu gedeihen.
Du bist ein Unikat, und du hast das Recht auf ein maßgeschneidertes Leben. Dazu gehört auch, dass du einerseits weißt, was du brauchst, um aufzublühen, und andererseits auch, dass du es anderen gegenüber kommunizierst.
So funktioniert’s:Schreib eine Gebrauchs-Anweisung für das besondere und zarte Wesen, das du bist! Welche Umgebung brauchst du, um dich wohlzufühlen? Welche körperliche, geistige und seelische Nahrung benötigst du, um zu wachsen und aufzublühen? Wie müssen andere dir begegnen, damit du dich ihnen gegenüber öffnen kannst? Was lässt dich verkümmern und ist daher unbedingt zu vermeiden? Schreib alles auf, was dir dazu einfällt, die wichtigen und die weniger wichtigen Dinge. Je mehr du dir deine Bedürfnisse bewusst machst, desto leichter wird es dir fallen, sie zu beachten und auch anderen gegenüber auszudrücken!
Bist auch du eine HSP, ein HSS oder eine Scannerin? Was sind deine besten Strategien, um die Gabe deiner Feinfühligkeit zum Strahlen zu bringen? Wie schützt du persönlich deine zarte Seele? Schreib in die Kommentare – ich freue mich auf Inspiration von dir!