Es hatte mich ziemlich schlimm erwischt. Drei Tage lang war mir so übel und schwindlig, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. Ich konnte nichts essen und kaum etwas trinken, geschweige denn telefonieren oder Mails schreiben. Mein Körper hatte den Reset-Knopf gedrückt.
Obwohl ich mich auch seelisch schon lange nicht mehr so elend gefühlt hatte, wusste ein Teil von mir, dass ich unendlich dankbar sein durfte für diese Krise. Ich hatte gespürt, dass sie auf mich zukam – aber ich hätte nicht gewusst, wie ich sie aufhalten hätte können.
Ich war übrigens nicht die einzige. Vielen Menschen in meinem Umfeld ging es in den letzten Wochen ähnlich. Bei manchen zeigte sich die Krise in Form von körperlichen Symptomen – heftige Rückenschmerzen, eine Schulter, die einfach nicht mehr wollte, oder ein Hexenschuss, der zu ein paar Tagen Bewegungslosigkeit zwang. Bei anderen waren es Erschöpfungszustände bis hin zum Burnout, massive Beziehungsprobleme oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz.
Ich musste mich zurückhalten, um den Menschen, die mir von ihren Krisen und Zusammenbrüchen erzählten, nicht allzu überschwänglich zu gratulieren. Natürlich ist mir klar, dass man in solchen Situationen in erster Linie Mitgefühl braucht. Aber ich weiß auch, dass uns oft nichts Besseres passieren kann als eine deftige Krise.
Auf Chinesisch heißt Krise weiji. Wei bedeutet Gefahr, ji Gelegenheit oder Chance.
Eine Krise ist gleichzeitig ein Tiefpunkt und ein Höhepunkt.
Sie ist ein Tiefpunkt, weil wir das Gefühl haben, in eine ausweglose Situation geraten zu sein. Wir müssen uns eingestehen, dass das, was wir bisher gedacht und getan haben, nicht mehr funktioniert, und neue Lösungsstrategien stehen uns noch nicht zur Verfügung.
Das Gute an einem Tiefpunkt ist, dass es von hier aus nur noch aufwärts gehen kann.
Eine Krise ist aber auch ein Höhepunkt. Das griechische Wort krisis bedeutet nicht etwa eine ausweglose Lage, sondern den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Situation. Oft spüren wir die Krise schon lange, bevor dieser Höhepunkt erreicht ist – etwas spitzt sich zu, irgendwie wird alles immer enger, wir fühlen, dass sich eine Eskalation anbahnt. Doch obwohl wir uns dessen bewusst sind, lässt sich die Krise oft nicht abwenden. Und das ist auch gut so.
Eine ,normale‘ Lebenskrise zu durchlaufen, gehört zu unseren stetigen Lebensaufgaben.
Von ihrer Thematik her ist sie immer wieder neu, von der Aufgabenstellung immer ähnlich: daran wachsen und ein Stück weit auch darüber hinauswachsen!
~ Lutz von Werder
Ich behaupte nicht, dass wir NUR durch Krisen wachsen können. Aber ich behaupte, dass JEDE persönliche Krise eine Wachstumschance beinhaltet. Ob wir an ihr zerbrechen oder reifen, liegt ganz bei uns.
{Ich spreche hier von „normalen“ Krisen, nicht von traumatischen Erfahrungen.}
Meist sind es gerade die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die uns einladen – oder dazu zwingen -, unser Leben zu überdenken, neue Perspektiven und Strategien zu entwickeln, etwas zu verändern, uns neu zu erfinden, in unsere Schöpferkraft zu kommen und unser Leben in die Hand zu nehmen.
Vielleicht sind wir gezwungen, uns einzugestehen, dass wir allein nicht weiterwissen. Vielleicht müssen wir um Hilfe bitten und lernen, Unterstützung anzunehmen. So lockt uns die Krise nach innen, um uns selbst besser kennenzulernen, und nach außen, um uns mit anderen zu verbinden.
Beinahe jeder tiefgehenden Transformation, jedem Schritt hin zu einer befreiteren Lebensweise oder zu einer höheren Sicht geht eine Krise voraus.
Krisen sind ein wesentlicher Bestandteil der natürlichen Entwicklung. Ohne Winter kein Frühling, ohne Sturm keine reine Luft, ohne Gewitter keine Entspannung, ohne engen Geburtskanal kein Neuwerden!
Und doch wehren wir uns dagegen. Wir wollen sie nicht haben. Wir möchten so bleiben, wie wir sind, wollen uns und unser Leben nicht in Frage stellen, würden gerne in unserem kleinen Ei bleiben – dort, wo es so schön warm und vertraut ist, ein bisschen eng vielleicht und dunkel, aber was soll’s … Hauptsache gemütlich!
Krisen sind unangenehm, sie kratzen an unserem ICH, an unserem Selbstbild, daran, wie wir uns selbst gerne sehen und von anderen gesehen werden wollen.
Im Tibetischen Buddhismus gibt es den Begriff des Bardo. Ein Bardo ist ein Zwischenzustand, der Übergang zwischen einem alten und einem neuen Bewusstsein. Von seiner Natur her ist ein Bardo weder gut noch schlecht, sondern neutral. Jeder Bardo hat seine Berechtigung, ist Teil einer übergeordneten zyklischen Entwicklung, eines größeren Zusammenhangs.
Und so sind auch Krisen Zwischenzustände, die an sich neutral sind und einfach zum Leben gehören.
Wir können in ihnen eine Bedrohung sehen, von einem Katastrophenszenario ausgehen, uns in Widerstand verstricken, in Selbstmitleid versinken oder in Opferstarre verfallen.
Wir können sie aber auch als Chance zur Weiterentwicklung willkommen heißen.
Welche Brille wir aufsetzen, entscheiden wir selbst!
7 Schritte, wie du die Krise als Wachstumschance nutzt
1. Nimm die Krise an und heiße sie willkommen!
Hab Vertrauen, dass sie ein notwendiger Teil deines Transformationsprozesses ist und dir helfen wird, das abzulegen, was nicht wirklich DU bist, um auf diese Weise ein Stücken mehr du selbst zu werden. Krisen, die angenommen werden, setzen unglaubliche Kräfte frei!
2. Identifiziere dich nicht mit der Krise!
Du bist weder ihr Opfer noch hast du sie verursacht. Versuche, spielerisch damit umzugehen, Gestaltungsspielräume zu finden. Lass dich von der Krise herausfordern in dem Wissen, dass du ihr gewachsen bist! Sie gibt dir die Gelegenheit, zur Heldin deines Lebens zu werden. Das kann übrigens auch heißen, damit aufzuhören, immer die Heldin zu spielen. Der Mut zur Kapitulation kann die größte Heldentat überhaupt sein! Wahre HeldInnen wissen, welche Schlachtfelder es zu verlassen gilt, weil es dort nichts mehr zu gewinnen gibt.
3. Schenke dir Selbstliebe und Mitgefühl – aber kein Selbstmitleid!
In Krisenzeiten ist es besonders wichtig, liebevoll zu dir selbst zu sein. Umsorge dich zärtlich, nimm dir Zeit, sei ganz behutsam, und setze nicht noch eins drauf, indem du dich dafür fertig machst, dass du immer noch Krisen brauchst, um dich zu entwickeln, oder dafür, dass du noch immer nicht gelernt hast, besser mit ihnen umzugehen.
Versuche jedoch, nicht in Selbstmitleid zu versinken, denn das raubt dir die Tatkraft und dir fehlt die nötige Power, um die Ärmel hochzukrempeln, Zähne zu zeigen und etwas zu verändern.
Tipp:
Manchmal tut es unglaublich gut, einfach mal in Selbstmitleid zu baden. Tu es, wenn dir danach ist! Aber setz dir ein Zeitlimit. Zum Beispiel: Heute Abend tu ich mir einfach mal selbst unglaublich Leid. Ich erlaube mir zu jammern, allen anderen die Schuld zu geben, ich erlaube mir, die ganze Packung Pralinen auf einmal zu essen und mir einzubilden, ich hätte keine andere Wahl gehabt, und dann erlaube ich mir auch noch, mich deshalb noch schlechter zu fühlen und auch dafür allen anderen die Schuld zu geben. Aber ab morgen übernehme ich wieder Verantwortung für mich, meine Gefühle und mein Leben!
4. Hol dir Unterstützung!
Egal, ob Coach, Therapeutin oder guter Freund: Such dir ein Gegenüber, mit dem du deine Sorgen, deinen Kummer und deine Ratlosigkeit teilen kannst! Achte aber gut darauf, wem du erzählst, wie es dir geht. Leider neigen viele Menschen dazu, ihre eigenen Geschichten auf andere zu projizieren und haben gleich jede Menge tolle Ratschläge zur Hand. Die sind zwar meist gut gemeint, aber sie passen eben nur zu den Problemen dieser Menschen – nicht zu den deinen! Du trägst deine eigenen Lösungen in dir. Finde Menschen, die gut zuhören können und dir den Raum geben, diese Lösungen zu finden.
5. Ruf dir in Erinnerung, was dir in früheren Krisen geholfen hat!
Und mach dir bewusst, dass du viel stärker bist als du glaubst. Wie sagte Winnie Puh so schön: Du bist mutiger als du meinst, stärker als du scheinst, und klüger als du denkst!
6. Moment by moment, day by day!
Oft erscheinen uns die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, unüberwindbar. Das liegt daran, dass wir glauben, alles auf einmal lösen zu müssen. Müssen wir aber nicht. Es genügt, einen Tag nach dem anderen zu bewältigen. Es genügt, Moment für Moment bewusst und präsent zu bleiben und sich auf das zu fokussieren, was gerade ansteht. Wenn dich die Panik überkommt oder Sorgen, Ängste und Verunsicherung dich zu überwältigen drohen, richte deine Aufmerksamkeit auf den jetzigen Moment. Spür deinen Atem, nimm deinen Körper wahr, spür deine Füße auf dem Boden, oder lenke deine Wahrnehmung auf deine Sinne.
Gibt es jetzt, in diesem Moment, etwas zu befürchten? Gibt es eine reelle Bedrohung? Ist deine Existenz gefährdet? Nein. Also tief durchatmen und dann tun, was vor der Nase liegt.
7. One up, one down – one down, one up!
Es geht gar nicht anders. Das Leben verläuft in Wellen, und jedes Wellental trägt schon den Keim des nächsten Berges in sich (umgekehrt gilt das leider auch 😉 ). Auch wenn dir im Moment die Perspektive fehlt oder alles zu stagnieren scheint – irgendwann wirst du dich wieder in luftiger Höhe befinden, in die Unendlichkeit des Himmels blicken und dich wunderbar frei und lebendig fühlen!
Wenn die Dinge wacklig werden und nichts mehr funktioniert, erkennen wir, dass wir an der Kante von irgendetwas stehen. Wir merken vielleicht, dass dies ein sehr schutzloser und empfindlicher Punkt ist, und dass diese Zartheit in zwei Richtungen gehen kann. Wir können uns verschließen und in Selbstmitleid versinken, oder wir können uns auf die pulsierende Qualität der Situation einstimmen. Bodenlosigkeit hat eindeutig immer etwas Zartes und Pulsierendes an sich. Es handelt sich um einen Test – die Art von Prüfung, die spirituelle Krieger oder Boddhisattvas brauchen, um ihr Herz zu erwecken.
~ Pema Chödron
Welches Geschenk mir meine tiefste Krise gemacht hat, kannst du in diesem Interview nachlesen.
(*) Als Bodhisattva bezeichnen Buddhisten ein Wesen, das unermüdlich nach höchster Erkenntnis strebt, um sie zum Wohle aller lebenden Wesen einzusetzen.