„Schau doch auf das Positive“, sagt sie – und ich fühle mich alleingelassen mit meinem Schmerz und meiner Enttäuschung.
„Es hätte viel schlimmer kommen können“, sagt sie – und ich fühle mich schuldig, weil ich keine so positive Einstellung habe wie sie.
„Kopf hoch, das wird schon wieder“, sagt sie, und ich schäme mich dafür, dass es mir gerade nicht gut geht.
Meine frühere Arbeitskollegin war das, was man eine durch und durch positive Person nennen könnte.
Jedes Mal, wenn ich versucht habe, ihr zu erzählen, wie es mir wirklich geht, würgte sie mich mit positiven K.O.-Sprüchen ab, statt mir zuzuhören.
Und jedes Mal fühlte ich mich, als hätte mir jemand einen Tesa-Streifen über den Mund geklebt, um zu verhindern, dass irgendetwas Negatives, Schwieriges oder auch nur Ambivalentes aus ihm dringt.
Das verursachte mir nicht nur einen Kloß im Hals, sondern führte auch dazu, dass ich mich noch schlechter fühlte.
Positivität kann – genauso wie Negativität – toxisch sein, wenn sie einseitig wird. Ich finde, sie kann sogar etwas Gewalttätiges an sich haben.
Dann nämlich, wenn sie leugnet, dass wir Menschen sind, Menschen mit einem breiten Gefühlsspektrum, Menschen mit einem manchmal umwerfend prachtvollen und manchmal schmerzhaft schwierigen Menschenleben, Menschen mit menschlichen Erfahrungen, die gewürdigt werden wollen, egal ob „positiv“ oder „negativ“.
Oder dann, wenn Menschen, die auf die Sonnenseite des Lebens gespült wurden, keine Traumata oder Mangel-Erfahrungen erlebt haben, weniger privilegierten Menschen einreden wollen, Erfolg und Glück seien ausschließlich eine Frage des Mindsets und der positiven Einstellung.
Oder dann, wenn die Probleme und Schieflagen unserer Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems dorthin verschoben werden, wo sie nicht entstanden sind und auch nicht gelöst werden können: zum Individuum, zum einzelnen Menschen, der sich nun nicht nur damit abfinden muss, einen Startnachteil zu haben, sondern sich auch noch schuldig fühlt, weil er es nicht schafft, positiv genug zu denken, um endlich auch super-reich, super-schön und super-erfolgreich zu sein.
{Im englischsprachigen Raum kursiert der Begriff „toxic positivity“ schön länger, im deutschsprachigen Raum bekommt er erst in letzter Zeit gebührende Aufmerksamkeit.
Versteh mich nicht falsch:
Ich bin zu hundert Prozent dafür, radikale Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.
Aber ich bin nicht dafür, so zu tun, als wären wir an allem „selbst schuld“, indem wir verleugnen, dass das Leben manchmal verdammt schwierig und schmerzhaft ist, und dass es auf dieser Welt haarsträubende Ungerechtigkeiten, Machtspiele und ein oft menschenverachtendes Wirtschaftssystem gibt.
Ich bin auch zu hundert Prozent dafür, aus der Opferhaltung auszusteigen.
Aber ich bin nicht dafür, nicht anzuerkennen, dass wir in manchen Situationen Opfer waren oder sind: Opfer von Missbrauch oder Beschämung, Opfer von Ungerechtigkeit oder Diskriminierung.
Aus der Opferhaltung auszusteigen bedeutet für mich, anzuerkennen, was ist und was war, aber uns nicht zu Opfern unserer Vergangenheit machen, sondern stattdessen mit allem, was zu uns gehört, unsere Gegenwart und unsere Zukunft aktiv gestalten. Mit all unseren Gaben und Talenten – aber auch mit all unseren Wunden und Narben.
Verantwortung zu übernehmen bedeutet für mich, meine Antwort auf all das Schwierige, Dunkle, Ungerechte, Haarsträubende auf dieser Welt bewusst zu wählen, und mich für ein TROTZDEM zu entscheiden, statt in Zynismus, Verzagtheit oder lähmender Wut steckenzubleiben.
Wenn das Positive giftig wird
Ich weiß nicht, wie es dir geht – aber mir persönlich helfen gut gemeinte Sprüche wie „Am Ende wird alles gut“ oder „Good vibes only“ nicht dabei, wahrhaftige Antworten auf die wahrhaft komplexen Fragen des Lebens zu finden.
Stell dir vor, jemand verliert seine Beine und lernt gerade mühsam und in winzigen Schritten, mit Prothesen zu laufen. Was würde diesen Jemand wohl mehr motivieren?
„Komm schon, sei nicht so negativ, ein bisschen positives Mindset und schon läufst du wieder, als hättest du deine Beine nie verloren!“
Oder:
„Ich kann mir vorstellen, wie schwierig das ist, und du hast sicher einiges durchgemacht. Toll, dass du so konsequent trainierst, um wieder laufen zu lernen!“
Eine positive Grundeinstellung ist gesund.
Eine positive Grundeinstellung, die aus Angst vor schwierigen Gefühlen nichts anderes mehr zulässt als das Positive, ist toxisch.
Gott bewahre uns vor der Übertreibung des Guten.~ Quelle unbekannt
Warum toxische Positivität uns unglücklich macht
# 1 Toxische Positivität verhindert eine der heilsamsten menschlichen Erfahrungen: Das Gehört- und Gesehenwerden
Jemandem, dem wir vertrauen, ehrlich von uns erzählen zu können – von unserer Verzweiflung, unserer Überforderung und Unsicherheit, von unseren inneren Kämpfen und unserer Scham -, ist an sich schon eine unglaublich erleichternde Erfahrung. Wenn dieser Jemand uns dann auch noch wirklich, wirklich zuhört – empathisch, urteilsfrei und zugewandt -, dann ist das etwas ungemein Nährendes und Heilsames.
Wenn dieser Jemand uns hingegen mit aufmunternden Sprüchen bombardiert, ehe wir noch zu Ende gesprochen haben, dann bewirkt das das genaue Gegenteil – wir fühlen uns einsam und unverstanden.
Von anderen gehört und gesehen zu werden, und uns dadurch zutiefst verbunden zu fühlen, lindert erwiesenermaßen Ängste und Depressionen, während das Gefühl der Isolation diese verstärkt.
# 2 Toxische Positivität führt dazu, dass wir Gefühle unterdrücken
Du öffnest deine facebook App und siehst nichts als glückliche, fantastisch aussehende Menschen, die dir empfehlen, Liebe ein- und alles andere auszuatmen, in dich hineinzulächeln und daran zu glauben, dass alles möglich ist.
Klingt gut, denkst du, eigentlich ganz einfach! Doch dann bemerkst du, dass deine Katze Durchfall, dein Kind Masern und dein Kontostand ein fettes Minus hat. Kein Problem, denkst du, ich atme einfach ein wenig Liebe ein und alles andere aus … aber dummerweise hinterlässt genau in diesem Moment die Katze ein stinkendes braunes Etwas auf deinem Badezimmerteppich, das Kind kreischt, weil es seine Medizin nicht nehmen will, und dir flattert eine unerwartet hohe Zahnarzt-Rechnung ins Haus.
Na schön, denkst du, dann probiere ich es eben mit Lächeln, so richtig tief in mich hinein, und dabei glaube ich ganz fest daran, dass es möglich ist, dass mein Konto sich wie durch ein Wunder wieder auffüllt, mein Kind eine Spontanheilung erfährt und die Katze ihr Geschäft selbst wegputzt.
Doch dann fällt dir auf, dass dir eigentlich nach Heulen zumute ist, nicht nach Lächeln. Und endlich, endlich erlaubst du dir, die Tränen fließen zu lassen, während du zusammengekauert auf dem Badezimmerteppich liegst. Die Katze kommt und schleckt mit ihrer rauen Zunge über dein Haar, du schluchzst und schniefst ein paar Mal lautstark, prustest in dein Taschentuch … und siehe da: Plötzlich geht es dir besser. Womöglich taucht sogar ganz von selbst ein zaghaftes Lächeln auf – oder ein tiefes, erleichtertes Seufzen.
Manchmal kann es tatsächlich helfen, uns mit Atmen, Visualisierungen, Lächeln, Dankbarkeit oder positiven Affirmationen aus einem Stimmungstief oder negativen Gewohnheitsgefühlen herauszukatapultieren.
Manchmal aber wollen Gefühle einfach gefühlt, wollen Tränen einfach geweint, will Wut einfach hinausgeschrien werden.
Diese Gefühle zu unterdrücken lässt sie nicht verschwinden, sondern verstärkt sie oft sogar, und kann nachweislich zu körperlichen Stress-Symptomen führen.
Darum: Lass dir nicht von gut gemeinten Kalendersprüchen das Recht absprechen, zu fühlen, was du fühlst!
Während wir die verbannten und unbewussten Teile von uns selbst annehmen, weben wir den zerfledderten Wandteppich unserer zerbrochenen Welt zurück in die Ganzheit.~ Chameli Ardagh
# 3 Toxische Positivität führt zu Scham- und Schuldgefühlen
Unsere Gedanken, unser Mindset, unsere Perspektive auf die Welt haben großen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen, wie wir unser Leben gestalten, welche Ziele wir uns setzen und ob wir sie erreichen.
Aber es gibt auch eine ganze Menge anderer Einflussfaktoren – und genau die werden von der monochromen Sichtweise der toxischen Positivität negiert. Das führt dazu, dass wir uns schuldig oder sogar unfähig fühlen, wenn nicht alles so läuft, wie wir es uns feinsäuberlich zurechtvisualisiert und herbeiaffirmiert haben.
Manchmal schämen wir uns sogar dafür, dass wir noch immer nicht in jeder Minute des Tages die Göttin in uns spüren, oder dass wir den perfekten Partner, das perfekte Haus, den perfekten Körper und die perfekte Karriere noch immer nicht manifestiert haben. Scham und Schuld aber führen garantiert nicht dazu, dass wir uns besser fühlen.
Kurz: Ein Zuviel an „good vibes“ verstärkt unsere „bad vibes“, und die Tyrannei der Positivität kann uns schnurstracks in eine Negativspirale führen. Mehr noch: Sie beraubt uns unserer Lebendigkeit und unserer Wahrhaftigkeit.
Leid und Schmerz anzuerkennen ist etwas anderes, als süchtig danach zu sein.
Uns zuzugestehen, dass manches schwierig für uns ist, ist etwas anderes, als uns auf unsere Probleme zu fixieren.
Authentisch auszudrücken, wie es uns WIRKLICH geht, ist etwas anderes als zu jammern.
Jemandem aufrichtig von uns zu erzählen ist etwas anderes, als diesem Jemand ungefragt unseren Seelenmüll vor die Haustür zu kippen.
Schwierige Gefühle zu akzeptieren ist etwas anderes, als uns in ihnen zu suhlen.
Covid-19: good vibes, bad vibes und alles dazwischen
2020, das mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Geschichte eingehen wird, hat diese Unterschiede noch deutlicher aufgezeigt.
Manche Menschen ließen sich von ihren Ängsten und Sorgen auffressen, konnten rein gar nichts Positives an der Situation erkennen, oder ergingen sich in Verschwörungstheorien.
Andere wiederum waren der Meinung, hätten wir während des Lockdowns nicht zumindest zwei neue Fremdsprachen oder ein Instrument erlernt oder uns ein Sixpack antrainiert, hätten wir DIE Chance des Jahrhunderts verpasst. (Genau, ihr Mütter, die ihr euch redlich bemüht habt, sämtliche Homeschooling-Bälle eurer Nachkommenschaft in der Luft zu halten, während ihr Pizza gebacken und im Homeoffice gearbeitet habt – hättet ihr nicht wenigstens während eurer schlaflosen Nächte etwas DAZULERNEN können???)
Ein nuancierter Umgang mit dieser Situation – ohne toxische Negativität, aber auch ohne toxische Positivität – bedeutet für mich, anzuerkennen, dass wir zwar eine kollektive Erfahrung machen, aber jede und jeder von uns auch eine ganz persönliche – und die können höchst unterschiedlich aussehen. Ich glaube, wir alle haben einiges zu bewältigen und zu verarbeiten. Gleichzeitig möchte ich auch sehen, welche Chancen und Möglichkeiten diese besondere Zeit uns eröffnet hat.
Wer hat Angst vor Negativität?
Ich habe ein interessantes Muster festgestellt: Genau jenen Menschen, die sich von den schwierigen Erfahrungen und Gefühlen anderer in ihrer „good vibes only“ Seligkeit gestört fühlen und die lieber „Kopf hoch“ schmettern, als wirklich zuzuhören, fällt es schwer, ihre eigene Negativität anzuerkennen. Es scheint, dass sie nicht gelernt haben, schwierige Gefühle „auszuhalten“, zu fühlen und dabei präsent zu bleiben, ohne zu urteilen – und dass sie deshalb auch von den schwierigen Gefühlen anderer so unangenehm berührt sind.
Ich habe mir vorgenommen, solchen Menschen in Zukunft ehrlich zu sagen, wie ich mich fühle, wenn sie glauben, Binsenweisheiten seien die Lösung für meine Herausforderungen. Ich habe mir auch vorgenommen, keinen Mindset-Gurus auf Social Media mehr zu folgen, die ein allzu einseitiges Bild vom Leben und ein simplifiziertes Bild der menschlichen Erfahrung hier auf Erden propagieren.
Ich habe mir vorgenommen, keine Patentrezepte mehr haben zu wollen.
Die Expertin für mein Leben bin immer noch ich. Und was in welcher Situation hilft – das Anerkennen des Schwierigen, der Fokus auf das Positive, oder eine Mischung aus beidem -, kann ich nur herausfinden, indem ich es ausprobiere.
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PS: Hast du auch schon mal erlebt, dass Positivität toxisch wird? Was sind deine Erfahrungen mit diesem Phänomen? Schreib in die Kommentare – ich freue mich darauf, von dir zu lesen!