Wenn es dunkel wird in dir, siehst du die Sterne

Wenn es dunkel wird in dir, siehst du die Sterne

Korsika im August, unser erster Abend auf der Insel. Mein Liebster und ich – damals ein frisch verliebtes Paar – wandern den steilen Hügel hinauf, vom Strand zum Apartment, das sich zu unserer Freude als perfektes Liebesnest entpuppt hat.

Die Luft ist lau, es riecht nach Sommer, das Leben ist gut. Und dann wird es sogar noch besser – denn plötzlich erlöschen die Straßenlaternen, und in den Bungalow-Anlagen und kleinen Dörfern ringsum gehen alle Lichter aus. Es wird stockfinster, und es wird sehr, sehr still. Ein Stromausfall.

Da stehen wir mitten auf der Straße, mein Liebster und ich, halten uns an den Händen und lauschen der Stille. Langsam gewöhnen sich unsere Augen an die Dunkelheit. Dann schweifen unsere Blicke nach oben in den Himmel. Und vielleicht ist dieser Eindruck nur der Verliebtheit dieses ersten gemeinsamen Urlaubs geschuldet ist –  aber in meiner Erinnerung spannt sich über unseren Köpfen der schönste Sternenhimmel, den ich jemals gesehen habe.

Ein gewisses Maß an Dunkelheit ist nötig, um die Sterne zu sehen.

~ Osho

An diese Nacht denke ich oft. Und ich rufe sie mir jedes Mal in Erinnerung, wenn es in mir dunkel wird.

Stromausfall im Inneren

Denn manchmal geschieht so etwas wie ein Stromausfall, und in mir wird es Nacht. Dann breitet sich Dunkelheit aus, und alles was sonst klar und hell erscheint, verschwindet. Nichts von dem, woran ich mich sonst festhalte, ist mehr da. Ich zweifle an mir, ich zweifle am Leben, und manchmal verzweifle ich auch an ihm. Ich zweifle daran, dass es die ganze Anstrengung wert ist. Ich zweifle daran, dass ich mit meinem Leben wirklich einen Unterschied machen kann. Ich zweifle an meinen Beziehungen und an meinem Beruf. Und alles, wofür ich mich normalerweise begeistere und engagiere, erscheint mir schal und nutzlos.

Es passiert nicht oft, aber manchmal bricht eine solche Dämmerung über mich herein. Wenn ich sie kommen spüre, werde ich erstmal kribbelig bis leicht panisch. Dann suche ich hektisch nach dem Lichtschalter, oder versuche krampfhaft, herauszufinden, was zu diesem plötzlichen Stromausfall geführt hat. Ich bekomme Angst vor der Dunkelheit, will das Licht anknipsen, will positive Gedanken affirmieren oder ein motivierendes Selbsthilfe-Buch lesen, oder zumindest auf einen hellen Bildschirm starren oder über einen bunten Handyscreen wischen.

Ich will sie nicht haben, meine dunklen Gefühle, ich will sie nicht haben, meine Zweifel, ich will sie nicht haben, meine Haltlosigkeit – wo mir doch all die strahlenden und selbstbewussten Coaches, Motivations-Gurus und selbsternannten spirituellen LehrerInnen tagein, tagaus erzählen, dass mein Leben immer hell und mein Gemüt immer sonnig sein würde, würde ich nur alles richtig machen und ihrer einzigartigen 7-Schritte-Methode zum vollkommenen Glück folgen, würde ich nur diese oder jene Meditation praktizieren, oder genug Eiweiß, Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel in mich hineinschütten.

Hast du die Ziele eines Toten?

Aber dann erinnere ich mich daran, dass an der Dunkelheit nichts Falsches ist. Ich erinnere mich daran, dass Tag und Nacht einander abwechseln MÜSSEN. Daran, dass wir nur dann heil und ganz sein können, wenn wir die Dunkelheit als Teil des Lebens – und des Lichts – akzeptieren. Nicht umsonst gibt es im weißen Teil des Yin-und-Yang-Symbols einen schwarzen Punkt.

Wer keinen Schmerz und keine dunklen Gefühle haben will, so die südafrikanische Psychologin Susan David in diesem großartigen TED-Talk, hat die Ziele eines Toten. Sie spricht darin auch von der „Tyrannei des Positivismus.“

Klar, wir können uns ablenken oder betäuben, wir können so tun, als gäbe es sie nicht, die Dunkelheit. Wir können immer künstliches Licht anknipsen und es so lange brennen lassen, bis es wieder Tag ist und die Sonne wieder scheint.

Aber dann werden wir niemals die Sterne sehen.

Wir werden niemals jenes Licht sehen, das uns als Kompass dient. Jenes Licht, das auch dann noch da ist, wenn alles andere im Dunkel verschwindet und die Sonne unseres Lebens gerade nicht am Himmel steht.

Das Licht der Sterne ist ein anderes als das der Sonne. Es leitet uns. Es gibt uns Orientierung und zeigt uns die Himmelsrichtungen. Es strahlt aus einer anderen Dimension zu uns, und offenbart uns die herzzerreißende Schönheit dessen, was viel, viel größer ist als alles, das sich im Tageslicht jemals zeigen wird. Es verbindet uns mit jener Unbegrenztheit in uns, die vom Auf und Ab des alltäglichen Lebens völlig unberührt bleibt. Es berichtet uns von dem, was wirklich zählt – und wonach wir uns wirklich sehnen.

Dieses Licht erinnert uns daran, dass wir mehr sind als Knochen und Muskeln und Organe, als Verstand und Gedanken, als all unsere Identitäten hier auf Erden. Dieses Licht ist immer da. Sehen können wir es aber nur, wenn wir uns der Dunkelheit anvertrauen.

Ich spreche hier übrigens nicht davon, sich in Negativspiralen und düsteren Gedanken zu verfangen. Ich spreche auch nicht davon, sich der negativity bias widerstandslos zu ergeben, den Selbstzweifeln das Ruder zu überlassen oder jeder kleinen Stimmungsschwankung und jedem Anflug von schlechter Laune nachzugeben. Ich spreche auch nicht davon, sich in Selbstmitleid und Opfergefühlen zu suhlen – ein solches Schlammbad hin und wieder ist zwar etwas Feines, aber mit dem bewussten Hinabsteigen in die Dunkelheit, das ich meine, hat es nichts zu tun.

Ins Dunkel gehen und ganz werden

Ich spreche von dem, was MystikerInnen die dunkle Nacht der Seele nennen. Ich spreche von dem, was jeder Mensch, der in die Tiefe geht, unweigerlich erleben wird. Ich spreche von jenen Orten in uns, an die wir nur ganz alleine gehen können. Ich spreche von einem bewussten Akt der Ganzwerdung als Mensch.

Traue nicht deinen Augen, traue deinen Ohren nicht.Du siehst Dunkel, vielleicht ist es Licht.~ Bertolt Brecht

Wir können uns der Dunkelheit verweigern. Aber dann werden wir nicht nur niemals die Sterne sehen, sondern wir werden auch nie jenen Moment erleben, in dem der neue Tag anbricht. Jenen Moment, in dem wir neu geboren werden, in dem wir spüren: Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Wir sind um eine Illusion ärmer, aber um ein neues Maß an Tiefe reicher geworden. Wir glauben ein Stück weniger an schönen Schein, sind aber dafür viel näher am wahren Sein. Wir haben im Außen etwas verloren, und im Inneren etwas Essenzielles gewonnen. Wir haben uns mit der Dunkelheit vertraut gemacht, und müssen sie nicht mehr so sehr fürchten. Wir haben in der Haltlosigkeit Halt gefunden, und müssen uns ein Stück weniger an Menschen, Identitäten und Dingen festklammern.

Und jener Moment ist magisch: Kurz bevor die Morgendämmerung ihr zartes, verheißungsvolles Licht an den Himmel wirft, wird die Nacht noch dunkler, ihr Schwarz noch dichter und undurchdringlicher. Für einen Moment hält die Welt den Atem an. Und dann … beginnt der neue Tag.

In der Nacht nach dem Tod meiner Mutter saßen wir lange zusammen, mein Vater, mein Onkel, mein Bruder und ich. Wir schwiegen, wir redeten, wir trösteten einander, wir weinten still. Doch irgendwann kam der Moment, in dem wir meinen Vater alleine lassen mussten, und ich werde nie vergessen, wie mein Onkel ihm – seinem Bruder – die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Auch diese Nacht geht vorüber. Auch diese Nacht geht vorbei.“

Und so ist es. Darauf dürfen wir vertrauen, daran dürfen wir glauben: Jede Nacht geht vorüber, auch die dunkelste, auch die längste. Und wenn wir lang genug in den Sternenhimmel geblickt haben, geht eine neue Sonne auf.

Trauer bringt Tiefe. Freude bringt Höhe. Trauer bringt Wurzeln. Freude bringt Äste. Freude ist wie ein Baum der sich dem Himmel entgegenstreckt und Trauer ist wie die Wurzeln die in das Erdinnere hineinwachsen. Beides wird benötigt – je höher ein Baum wächst, desto tiefer verwurzelt er sich in der der Erde. So wird die Balance aufrechterhalten.~ Osho

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