„Meine Tochter macht richtiges Yoga“, sagt sie nach der Yogastunde zu mir. Fragend schaue ich die neue Schülerin an. „Naja“, fährt sie fort. „Mit ewig auf dem Kopf stehen und so. Nicht so wie hier.“
Aha. Nicht so wie hier. Nicht so SANFT. Nicht so ruhig, nach innen gekehrt und unspektakulär. Richtiges Yoga eben – körperbetont, sportlich, akrobatisch.
Autsch.
Ich praktiziere zwar manchmal den Kopfstand, aber ich unterrichte ihn nur äußerst ungern. Ich finde auch nicht, dass es ohne Kopfstand kein richtiger Yoga ist, selbst wenn er hundertmal „König der Asanas“ genannt wird.
Aber das ist nur ein Nebenschauplatz. Worum es hier wirklich geht ist die alte Wunde, die der Kommentar meiner neuen Schülerin in mir berührt, das altbekannte Gefühl, das er in mir getriggert hat:
Das Gefühl, so wie ich bin, nicht „richtig“ zu sein.
Als Kind habe ich hauptsächlich gelesen. Ich war ruhig und introvertiert, mochte Tiere, hatte Angst vor lauten Menschen, schrieb am liebsten Geschichten und erfand neue Schriftzeichen anstatt des Alphabets, das ich in der Schule gelernt hatte.
Der Sportunterricht hingegen war die Hölle für mich, denn ich war weder sportlich noch schnell, und Spiele wie Handball oder Basketball waren mir viel zu grob. Wasser war nie mein Element, also war ich auch keine gute Schwimmerin – vom Skifahren ganz zu schweigen. Mathematik und Physik waren meine schwächsten Fächer.
Dafür hatte ich schon immer eine feine Wahrnehmung und ein ausgeprägtes Gefühl dafür, wie es anderen Menschen gerade ging. Menschenmengen und laute Umgebungen überschwemmten mein filigranes Nervensystem daher völlig.
Warum, um alles in der Welt, habe ich mich dann durch eine Mathematik- und Physikstudium gequält (und es sogar mir Auszeichnung abgeschlossen)? Warum habe ich verbissen verschiedenste Sportarten ausgeübt, ohne jemals Freude daran zu haben? Und warum habe ich mich immer wieder in Situationen gebracht, die mich völlig überforderten, weil ich ihnen mit meiner feinen Wahrnehmung nicht gewachsen war?
Darum:
Weil ich begonnen hatte, meine wahre Natur zu verstecken. Weil ich begonnen hatte, mich zu schützen.
Schon sehr früh habe ich nämlich die Erfahrung gemacht, dass die Lauten sich durchsetzen und die Leisen immer zu kurz kommen. Dass diese Welt kein freundlicher Ort ist für zarte und empfindsame Menschen wie mich. Den Sportlichen galt der Applaus, die Langsamen wurden ausgelacht. Schöne Geschichten zu schreiben fand wenig Beachtung, und meine Hochsensibilität führte dazu, dass die Menschen in meinem Umfeld mich als zu empfindlich und zu emotional kritisierten.
So hat sich in mir der Glaubenssatz festgesetzt, dass es sicherer ist, mein wahres Wesen zu verbergen. Ich wurde zu der, die ich meiner Meinung nach sein sollte, anstatt die zu werden, als die ich gemeint war.
Ich glaube, viele von uns haben ähnliche Erfahrungen gemacht – und um den Schmerz, den diese Erfahrungen in unserem System hinterlassen haben, nicht mehr spüren zu müssen, zeigen wir uns nicht so, wie wir wirklich sind.
Wir spielen die Starken, obwohl wir uns schwach fühlen.
Wir tun Dinge, die uns keine Freude machen, weil sie „normal“ sind oder weil alle anderen sie auch tun.
Wir quälen uns mit Jobs, die sicher, anerkannt und gut bezahlt sind, in Wahrheit aber unsere Seelen verkümmern lassen.
Wir unterdrücken unsere Gefühle, weil wir nicht als „zu emotional“ kritisiert werden wollen.
Wir misstrauen unserer Intuition, weil wir nicht als irrational dastehen wollen.
Wir wollen eine Eiche sein, obwohl wir als Klatschmohn gemeint sind. Wir wollen Pippi sein, obwohl in uns eine Annika steckt. Wir wollen eine Gazelle sein, obwohl wir uns als Schildkröte viel wohler fühlen würden – oder umgekehrt.
Kurz: Wir verraten uns.
Wir verraten unsere wahre Natur, wir verraten den Menschen, als der wir gemeint sind.
Oft wissen wir nicht einmal mehr, wie wir gemeint waren, bevor wir begonnen haben, uns selbst zu verleugnen, Masken aufzusetzen und hinter einem Schutzpanzer zu leben. Tief verschüttet und vergraben ist er, der Schatz in unserem Inneren.
Aber irgendwann beginnt unsere Seele zu rufen. Irgendwann gibt der Körper uns Zeichen. Irgendwann wird das Versteckspiel derart anstrengend, dass wir nur noch erschöpft sind. In unseren Schutzpanzern zeigen sich erste Risse, in unseren Masken entstehen Sprünge. Dann sind wir gezwungen, aufzuwachen und uns auf die Suche zu machen nach dem, was tief in uns verschüttet darauf wartet, gefunden und geborgen zu werden.
Ich lade dich ein:
Lass für einen Moment alle SOLLTEST und MÜSSTEST beiseite und frag dich ganz ehrlich:
1. WIE BIST DU GEMEINT?
{Eine schöne Möglichkeit, eine Antwort zu finden, ist die Schreib-Übung aus diesem Video!}
und
2. ZU WIE VIEL PROZENT ENTSPRICHT DAS LEBEN, DAS DU IM MOMENT FÜHRST, DEINER WAHREN NATUR?
Es kann sein, dass die Antworten auf diese beiden Fragen – sofern du mutig genug bist, der Wahrheit zu begegnen – dich traurig machen, wütend oder frustriert.
Lass es zu. Das Einverstandensein mit dem, was sich jetzt gerade zeigt, ist die Voraussetzung für Veränderung.
Und dann stell dir noch eine dritte Frage:
3. WELCHE BEDINGUNGEN MÜSSTE ICH KREIEREN, DAMIT DER MENSCH, ALS DER ICH GEMEINT BIN, SICH ZUR VOLLEN BLÜTE ENTFALTEN KANN?
Vielleicht kommen die Antworten nicht gleich. Vielleicht kannst du dir noch nicht mal vorstellen, dass es dir zusteht, optimale Bedingungen vorzufinden. Vielleicht hast du Angst davor, dich zu entfalten und in deine Größe hineinzuwachsen. Vielleicht ist dein erster Impuls, dich weiterhin zu verstecken.
Das ist völlig in Ordnung, und du musst auch nicht sofort irgendwelche Schritte setzen oder dein Leben von heute auf morgen umkrempeln.
Für den Moment genügt es, Fragen zu stellen – und zu lauschen.
Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.
~ Rainer Maria Rilke