Das Wunder der Vorstellungskraft

Laya Commenda steht vor Gebäude in Wien

„Ich bin die, die ich erfinde“, sagt sie, die junge Frau mit den feinen, tiefgründigen Gesichtszügen – und fast stockt mir der Atem.

Was die junge Teilnehmerin eines meiner Seminare kürzlich in einen winzigen Satz gepackt hat, ringt mir Ehrfurcht ab. Und ein tief gefühltes, stilles JA.

Im Grunde hören wir es ja immer wieder: Erfinde dich neu!

Und es klingt so einfach.

Aber warum finden wir uns dann ständig in den alten Konstellationen wieder, statt in einem neuen Leben? Warum wiederholen wir dieselben Geschichten in unseren (Liebes-)Beziehungen? Warum finden wir keinen Weg heraus aus dem Job-Hamsterrad (oder machen uns selbstständig, nur um erst wieder dasselbe Muster abzuspulen)? Warum essen / arbeiten / trinken / netflixen wir zu viel, schlafen zu wenig, lenken uns ab, vergeuden unsere Zeit und Energie für die falschen Dinge?

Weil wir nicht nur Erfinderinnen sind. Nicht nur Menschen mit Visions- und Vorstellungskraft. Sondern auch Tiere.

Zwei Gehirne in meinem Kopf

Der Mensch ist, soweit wir wissen, das einzige Lebewesen, das Visionen für die Zukunft entwickeln kann. Das Pläne schmieden und Bilder und Szenarien heraufbeschwören kann, die mit dem bisher Dagewesenen nichts zu tun haben. Genau deshalb gehen unsere Evolution und unser Fortschritt so rasant vonstatten – zwar mit allerlei unerwünschten Nebenwirkungen, aber im Großen und Ganzen doch mit einer atemberaubenden Dynamik.

In unseren süßen Köpfchen feuert aber nicht nur der präfrontale Cortex, einer der jüngsten Gehirnteile, sekündlich eine unvorstellbare Zahl von Signalen ab, sondern auch unsere „primitiven“ Gehirnteile sind permanent aktiv. Und das erzeugt jede Menge Spannung.

Der präfrontale Cortex steuert unsere Aufmerksamkeit und unsere Entscheidungen. Er gilt als Sitz der Persönlichkeit; mit ihm denken wir nach, philosophieren und planen und erschaffen Zukunft – in unserem Geist. Erst mit 25 Jahren ist dieser hochentwickelte Gehirnteil beim Menschen ausgereift.

Unsere älteren Gehirnteile jedoch halten nicht viel von visionären Zukunftsplänen. Sie stammen aus einer Zeit, in der einzig das nackte Überleben im Mittelpunkt stand. Also bitte bloß keine Veränderungen, keine Risiken und nichts Unbekanntes! Alles höchst lebensbedrohlich.

Ich wette, du kennst das: Du hast einen feinsäuberlichen Plan davon, wie du dein Leben umkrempeln willst. Was du von nun an anders machen wirst, und was du ganz ganz ganz sicher nicht mehr tun wirst. Und dann: Bäm! Beobachtest du dich dabei, wie du, aller guten Vorsätze zum Trotz, wieder genau das tust, was du immer schon getan hast.

Jedes Mal, wenn wir müde oder unfokussiert, emotional aus der Mitte oder gestresst sind, übernehmen die alten Gehirnteile das Kommando – und alles bleibt beim Alten. 

Es sei denn, wir trainieren unser Gehirn bewusst.

Sei es, bevor du es bist

„Ich bin die, die ich erfinde“, reklamiert stolz und erhaben der präfrontale Cortex.

„Never! Du bist die, die du immer schon warst!“, kreischen die primitiven Gehirnteile, die ob solcher Ansagen unwillkürlich in Panik geraten.

Was also tun, um diese Quertreiber mit ins Boot zu holen? 

Erstens: Anerkennen, dass sie es gut mit uns meinen und uns schützen wollen. 

Zweitens: Ihnen kein Wort glauben. 

Und drittens: Langsam in die Vision unserer selbst hineinwachsen, um diese Anteile behutsam an unsere neue Identität zu gewöhnen.

Das bedeutet: Wir können üben und praktizieren. Wir können Tag für Tag unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen immer mehr der Person angleichen, die wir in unserer Vorstellung kreiert haben, noch bevor im Außen die geringste Veränderung zu bemerken ist.

Wir nutzen also unsere Vorstellungskraft. Einerseits, um Zukunftsbilder zu entwerfen. Und andererseits, um uns schon jetzt in jene „Schwingung“ zu versetzen, in der wir sein werden, wenn wir in unsere Vision hineingewachsen sind. 

Zwei Beispiele. 

Eine gute Freundin von mir war lange Single, wünschte sich jedoch einen Partner. Also begann sie, den Tisch für zwei Personen zu decken. Sie führte – stille – Gespräche mit ihrem Partner. Sie hatte zwei Kopfkissen und zwei Decken in ihrem Bett. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihrem imaginären Partner sogar Gute Nacht wünschte? Irgendwann war dieser Partner völlig greifbar, er hing quasi in der Luft. Und kurz darauf saß er tatsächlich an ihrem Esstisch – und lag in ihrem Bett.

Eines meiner Ziele für das kommende Jahr ist, meine Assistentin, die im Moment geringfügig für mich arbeitet, in Vollzeit anzustellen. Meinen primitiven Gehirnteilen macht diese Idee natürlich Angst – ein großer Sprung bei den Ausgaben, mehr finanzielles Risiko, mehr Verantwortung … oh neeeiiin, können wir nicht alles beim Alten lassen? Funktioniert doch wunderbar!

Wir könnten, aber wir wollen nicht.

Also schreibe ich eine Liste mit all den Aufgaben, die ich abgeben werde – und freue mich wie ein Honigkuchenpferd darüber. Jedes Mal, wenn ich eine dieser Aufgaben (noch) selbst mache, stelle ich mir vor, wie ich sie stattdessen delegiere. Noch mehr Honigkuchenpferdgrinsen! Ich spiele mit Zahlen und lasse mir von Excel eine Grafik kreieren, die mir zeigt, dass meine Einnahmen um ein Vielfaches mehr steigen werden als meine Ausgaben (natürlich habe ich auch einen Plan, wie das funktionieren wird). Und ich erzähle jedem, der es wissen will (oder auch nicht – aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen ☺), dass es kommendes Jahr so weit sein wird: die erste Vollzeit-Mitarbeiterin in meiner zehnjährigen Laufbahn als Entrepreneuse!

Scary.

Und glorreich.

Übrigens: Auch wenn all das  nach esoterischem Woo-Woo klingen mag, gibt es doch handfeste neurobiologische Erklärungen dafür, wie diese Praxis wirkt. Wir programmieren unsere Wahrnehmungsfilter, unsere Gedanken- und Gefühlsmuster neu. Wir bringen unserem Gehirn bei, in Möglichkeiten statt in Tatsachen zu denken. Dadurch verändert sich unser Verhalten. Und dadurch unsere äußere Welt.

Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich, was ich sein könnte. Wenn ich loslasse, was ich habe, bekomme ich was ich brauche. ~ Laotse

Der Haken an der Sache

So leid es mir tut: Es gibt einen Haken. Deshalb gibt es so viele Menschen, die über eine großartige Vorstellungskraft verfügen, ihre Träume und Visionen aber nie verwirklichen.

Sie kreieren Vision Boards. Sie meditieren und visualisieren. Sie affirmieren und tagträumen.

Und das fühlt sich soooo gut an.

So gut, dass sie gar keinen Grund haben, jemals ins Handeln und Umsetzen zu kommen!

Meine Freundin hat aber nicht nur ihren imaginären Partner Gute-Nacht-geküsst, sondern auch ein Profil auf einer Dating-Plattform erstellt und eine ganze Menge Dates erlebt, die bestenfalls „Meh“ waren, ehe der Traummann in ihr Leben tanzte.

Sie hat alles ausgehalten, was dazugehört: Das Unwohlsein, die Enttäuschung, die Ernüchterung, die Selbstzweifel.

BIST DU BEREIT, ALLES AUSZUHALTEN, WAS DAZU GEHÖRT?

DAS UNWOHLSEIN, DIE ENTTÄUSCHUNG, DIE ERNÜCHTERUNG UND DIE SELBSTZWEIFEL?

Ich sende jede Menge Emails, wenn ich einen neuen Kurs anbiete, und jedes Mal melden sich eine Menge Menschen von meiner Email-Liste ab; manchmal bekomme ich auch erzürnte Rückmeldungen (und auch nach zehn Jahren tut das noch immer weh). Ich erlebe Flops und Flauten, und nicht immer verläuft alles nach Plan. Aber ich bin bereit, all das willkommen zu heißen. Meistens jedenfalls ?

Wenn wir also schon visualisieren, über unser Best Possible Self schreiben und unser Visionen laut aussprechen, dann sollten wir gleichzeitig auch mögliche Hindernisse und Herausforderungen visualisieren – und natürlich, wie wir sie überwinden und meistern werden. Wir brauchen AUCH konkrete Handlungspläne. Und Tools, mit denen wir unseren primitiven Gehirnteilen liebevoll das Steuer aus der Hand nehmen können.

Geht alles in Erfüllung, was wir uns vorstellen? 

Ich glaube nicht.

Jedenfalls bin ich demütig genug, um anzuerkennen, dass das Leben manchmal andere Pläne hat als ich.

Manchmal scheinen meine Visionen völlig im Einklang mit meinem „Seelenauftrag“ (schon wieder Woo!) zu sein; dann kann ich ziemlich sicher sein, dass ich sie verwirklichen werde.

Manchmal sind sie aber auch ziemlich verkrampft, verkopft und herbeigedacht;  dann scheinen sie eher ein Fabrikat meines Ego und seines Bedürfnisses nach Anerkennung zu sein. 

Ich gebe zu, ich kann den Unterschied nicht immer erkennen. 

Aber wie auch immer: Unsere Vorstellungskraft ist eine Superpower. Wohin sie uns führen wird, ist nicht gewiss – sicher aber an Orte im Innen und im Außen, an denen es viel zu entdecken und zu lernen gibt.

 

Aber Laya, müssen wir wirklich ständig wachsen und lernen? 

Ja, ich höre sie, diese Frage, und ich nehme sie ernst.

Wir müssen gar nichts. 

Wir alle haben Potenzial und wir alle verwirklichen nur einen Bruchteil davon. 

Es ist okay, nicht mehr zu wollen. Niemand von uns hat eine moralische Verpflichtung dazu, mehr zu kreieren oder über sein altes Ich hinauszuwachsen. Und ich bin sehr, sehr dankbar dafür, dass es Menschen in meinem Leben gibt, die viel beständiger sind als ich und mir in jenen Momenten einen sicheren Hafen bieten, in denen ich überwältigt, erschöpft und zerzaust von meinen Abenteuern zurückkehre. 

Aber diejenigen, die diesen inneren Drang spüren. Diejenigen, die etwas in sich tragen, das sie immer wieder anstupst und keine Ruhe gibt. Diejenigen, die von der Idee, sich selbst zu erfinden und die eigene Evolution zu steuern, faszinierend sind. Die tun gut daran, sich stupsen zu lassen – und all das Unbehagen zu umarmen, das nun mal der siamesische Zwilling der Freude an der Selbst-Entwicklung ist. 

„Wie wird man ein Schmetterling?“, fragte die Raupe.“ Du musst so sehr fliegen wollen, dass du bereit bist, deine Existenz als Raupe aufzugeben!“sagte der Schmetterling. ~ Trina Paulus

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