Nur die Spitze ihres Mittelfingers berührt mein Brustbein.
Und auch das kaum merkbar.
Und doch steigt ein Schluchzen aus den Tiefen meines Körpers auf. Ein Zittern.
„Lass es durch, lass es durch“, sagt sie, und streicht mit unendlich zarten Wiederholungen mein Brustbein entlang von unten nach oben, Richtung Kehle, immer wieder.
Der emotionale Schmerz schüttelt meinen Körper, und er fließt, befreit sich aus meinem Zellgedächtnis.
Doch plötzlich schaltet sich mein Kopf ein, und mein Körper verspannt sich, beginnt sich zu wehren.
„Warum?“, frage ich.
„Falsche Frage“, sagt sie, die Frau mit den Zauberhänden. „Probier’s stattdessen mit ‚Danke‘.“
Und wir lachen herzhaft, sie und ich, wie so oft bei der Körpertherapie. Tiefster Schmerz und glockenhelle, ursprüngliche Freude – so nah beieinander.
Erkennst du den Unterschied?
Der Unterschied zwischen dem reinen Fühlen schmerzhafter Emotionen und der Frage nach dem Warum – das ist der Unterschied zwischen „clean and dirty pain“, zwischen erstem und zweitem Pfeil, zwischen Schmerz und Leiden.
Noch ein Beispiel.
Die Migräne tobt in meinem Kopf. Da ist Pulsieren und Pochen, da ist Übelkeit.
Nicht angenehm, aber: clean pain.
Menschen haben Körper. Körper schmerzen zuweilen, es ist unausweichlich.
„Warum habe ich immer noch Migräne? Warum bekomme ich das einfach nicht in den Griff? Was stimmt bloß nicht mit mir?“
Diese Fragen erzeugen dirty pain.
Erzeugen mentales Leiden.
Und DAS ist nicht unausweichlich, sondern optional.
Und noch eines.
Ich fühle Scham in mir aufsteigen. In der Begegnung mit einem Menschen, den ich für seine sprachlichen Fähigkeiten bewundere, fühle ich mich unterlegen, ungebildet, unzureichend.
Sie kündigt sich an, die Scham, als ein unterschwelliges Unbehagen, und dann trifft sie mich mit ihrer ganzen Wucht.
Kann ich ihr Raum geben? Kann ich zu ihr hin atmen, präsent bleiben, ganz körperlich, im FÜHLEN und SPÜREN? Wenn ja, dann bleibt es bei clean pain.
Oder verweigere ich mich ihr? Mache ich zu und dicht, gehe ich in Widerstand und flüchte mich in Gedanken wie „Ich sollte schon viel weiter sein, ich sollte mich nicht mehr minderwertig fühlen“?
Dann wird aus clean pain unweigerlich dirty pain.
Reiner und verschmutzter Schmerz
„Clean and dirty pain“, dieses Konzept wurde von Steven Hayes, dem Begründer der Acceptance and Commitment Therapy (ACT) geprägt.
Und obwohl Worte wie „clean“ und „dirty“ mit Vorsicht zu genießen sind, weil sie eine weitere Schicht von Urteil erzeugen, ist dieses Modell doch hilfreich.
Hilfreich, um zu erkennen, wo es unausweichlichen Schmerz zu fühlen gilt, und wo wir unnötig leiden.
„Clean and dirty pain“ meint etwas sehr Ähnliches wie die buddhistische Metapher vom ersten und vom zweiten Pfeil.
Der erste Pfeil ist der unausweichliche Schmerz, der zum menschlichen Leben gehört. Den zweiten Pfeil schießen wir selbst auf uns – und verursachen damit unnötiges Leid.
“Pain is physical; suffering is mental. Beyond the mind there is no suffering. Pain is essential for the survival of the body, but none compels you to suffer. Suffering is entirely due to clinging or resisting; it is a sign of our unwillingness to move on; to flow with life.”~ Nisargadatta Maharaj
“Schmerz ist etwas Körperliches; Leiden ist mental. Außerhalb deines Geistes gibt es kein Leid. Schmerz ist wichtig für dein körperliches Überleben, aber niemand zwingt dich dazu, zu leiden. Leiden entsteht ausschließlich aus Anhaftung oder Widerstand; es ist ein Zeichen dafür, dass du nicht bereit bist, weiterzugehen, mit dem Leben zu fließen.”~ Nisargadatta Maharaj
Reiner Schmerz – der erste Pfeil
Wir machen eine schmerzhafte Erfahrung. Jemand, der uns lieb und teuer ist, geht aus unserem Leben. Wir werden krank. Wir verlieren unseren Job. Jemand verletzt uns, weist uns zurück, beschämt uns. Dinge geschehen, die unweigerlich zum Spektrum menschlicher Existenz gehören.
In solchen Situationen emotionalen Schmerz zu fühlen ist eine völlig gesunde und angemessene Reaktion.
Es ist eine körperliche Reaktion, die sich im ersten Augenblick meist sehr „scharf“ anfühlt, dann verebbt und in Wellen wiederkommt. Mit der Zeit nimmt die Intensität von alleine ab, wenn wir bereit sind, diese Reaktion zuzulassen.
Diesen Schmerz zu fühlen, ihm körperlich Raum zu geben, mit ihm zu sein, hat etwas Pures und Reinigendes an sich. Danach mögen wir uns vorübergehend erschöpft fühlen – aber in Summe erleben wir einen Zuwachs an Energie, fühlen uns erleichtert, befreit und gelöst.
Derart „pure“ Emotionen dauern nicht lange an, wenn wir bereit sind, sie zu fühlen. Wenn wir ihnen Raum geben, befreien sie sich selbst.
„Verschmutzter“ Schmerz – der zweite Pfeil
Der zweite Pfeil bedeutet, dass wir dem unausweichlichen Schmerz unnötiges Leid hinzufügen – und zwar durch unsere eigenen Gedanken. Indem wir in Widerstand gegen eben diese Unausweichlichkeit gehen. Indem wir denken, das Leben sollte anders sein, als es ist. Indem wir an der Idee festhalten, wir sollten uns immer gut fühlen, und das Leben möge doch bitte zu mindestens 108 Prozent aus Friede, Freude und Sternenstaub bestehen.
Einen zweiten Pfeil schießen wir zum Beispiel auf uns selbst, indem wir uns dafür schämen oder verurteilen, dass wir Scham empfinden.
Oder indem wir denken „Ich sollte keinen Liebeskummer haben, da sollte ich längst drüberstehen!“
Oder indem wir beginnen, mit der Realität zu argumentieren: „Das hätte nie passieren dürfen – hätte ich mich mehr angestrengt, hätte ich meinen Job nicht verloren!“
Auf diese Weise flüchten wir vor der körperlichen, vibrationalen Empfindung des Schmerzes – vor der wir oft so viel Angst haben – in eine mentale Endlosschleife.
Das Leiden, das dadurch entsteht, mag weniger heftig und „scharf“ sein als der Schmerz des ersten Pfeils – dafür hält es uns gefangen. Die Emotion kann nicht fließen, bleibt stecken. Und statt ein paar kurzer, heftiger Wellen emotionalen Schmerzes begleitet uns das dumpfe Leiden mentalen Widerstandes oft über Wochen, Monate oder sogar Jahre.
❝
INDEM WIR UNS FÜR UNSERE GEFÜHLE VERURTEILEN ODER SIE NICHT HABEN WOLLEN, SCHIESSEN WIR EINEN ZWEITEN PFEIL AUF UNS SELBST.
STATT EINEN KURZEN, SCHARFEN SCHMERZ ZU FÜHLEN, FLÜCHTEN WIR UNS IN DIE MENTALE ENDLOSSCHLEIFE EINES DUMPFEN, LANGANHALTENDEN LEIDENS.
Schmerz fühlen statt leiden – so geht’s
„Schmerz ist unausweichlich – Leiden ist optional“ – das klingt schon mal ganz gut als Leitstern, oder?
Aber wie geht das konkret, wo es doch so viel Mut erfordert, schmerzhafte Gefühle zuzulassen – und wo doch die meisten von uns einfach keine Möglichkeit hatten, es zu lernen?
Für mich persönlich war es ein langer Weg; immer wieder hatte ich große Angst davor, meine Emotionen würden mich einfach hinwegschwemmen, wenn ich sie wirklich zulassen würde.
Zum Glück gibt es ein paar Prinzipien, auf die wir uns verlassen können – und die uns helfen, die Gefühlswellen durch uns schwappen zu lassen, ohne Widerstand zu leisten.
# 1 Mit Neugier und Mitgefühl
Kannst du dem, was in dir vorgeht, mit Forschergeist und Neugier begegnen, ohne es zu bewerten? Kannst du die Bereitschaft in dir finden, ALLES zu fühlen, was es für dich zu fühlen gibt? Und den Mut – weil du weißt, dass du dich selbst nicht verurteilen, sondern dir mit achtsamem Selbstmitgefühl begegnen wirst?
In diesem Klima freundlicher Neugier und Akzeptanz entsteht Raum, in dem die Gefühlswelle hochsteigen und wieder verebben kann, hochsteigen und verebben … so lange, bis alles gefühlt ist, was es da zu fühlen gab.
# 2 Körper, Atem, Vibration
Wenn wir ein Gefühl aufsteigen spüren, das wir nicht fühlen wollen, machen wir oft unbewusst „dicht“. Unser Körper verspannt sich, unser Atem wird flach.
Umgekehrt kann es helfen, bewusst weich zu werden und den Atem zu vertiefen, sodass die Emotion fließen kann. Und dann können wir ganz achtsam unsere Aufmerksamkeit auf die körperliche Empfindung lenken. So wie Freude und Liebe im Körper spürbar sind, so eben auch Wut, Angst, Trauer oder Scham. Können wir diese Wellen einfach als körperliche Vibration wahrnehmen, uns für sie öffnen, und sie auch wieder gehen lassen?
# 3 Bemerken, dass der zweite Pfeil im Anflug ist
Achte genau auf deine Gedanken. Ist da ein Urteil? Ein „Es sollte anders sein, als es ist“? Gibt es eine Stimme in dir, die behauptet, es sei nicht richtig, dieses oder jenes zu fühlen – und mit dir würde irgendetwas nicht stimmen?
Interessanterweise genügt es meistens, diese Gedanken mit einem „Aha!“ wahrzunehmen. Mehr müssen wir gar nicht tun – der zweite Pfeil bleibt einfach in der Luft stehen, ohne uns zu treffen.
# 4 Zuerst fühlen, dann verändern
Manchmal missbrauchen wir das so unglaublich machtvolle Tool des Gedanken-Managements, um nicht fühlen zu müssen. Aber so funktioniert es nicht.
ZUERST kommt das Fühlen, das Akzeptieren, das Präsent-Sein mit dem, was ist. Und DANN können wir wählen. Wie MÖCHTE ich mich fühlen? Und welche Gedanken kann ich denken, um die erwünschten Gefühle hervorzurufen?
Um schwierige Gefühle kommen wir nicht umhin – und wenn wir noch so geübt darin sind, unser Denken zu beobachten und neu auszurichten.
Nur wer bereit ist, zu fühlen, kann die Botschaft der Gefühle verstehen und etwas verändern.
# 5 Vertrauen
Ja, sie können intensiv sein und heftig, diese Emotionen. Ja, er trifft uns oft mitten ins Herz, dieser erste Pfeil.
Aber noch kein Gefühl hat jemals einen Menschen umgebracht, und noch jede Emotion ist irgendwann verebbt.
Je mehr wir darauf vertrauen und uns hingeben, desto widerstandsfreier steigen und fallen die Gefühlswellen, desto schneller überraschen wir uns selbst damit, dass nach ein paar reinigenden Tränen plötzlich wieder Gelächter erschallt, dass Schwere sich in Leichtigkeit verwandelt und Trauer in Lebensfreude.
Kürzlich ein Email.
Ein Mensch, dem gegenüber ich mich sehr geöffnet hatte, teilt mir mit, dass er sich aus meinem Leben verabschieden wird.
Erster Impuls: Flucht.
Flucht in Gedanken wie „Ach, das ist okay, ich verstehe seine Beweggründe!“
Und: „Ist nicht so schlimm, Menschen kommen und gehen.“
Dann: Stopp. No dirty pain.
Was fühlst du WIRKLICH, Layakind?
Während ich in der Küche stehe und einen Topf abwasche, lehne ich meine Stirn an den Küchenschrank. Bin mutig und FÜHLE. Lasse meine Traurigkeit zu. Ich schluchze, mein Makeup zerrinnt, und ein paar Tränen tropfen ins Abwaschwasser.
Ja, dieser Mensch lag mir am Herzen. Ja, ich will um ihn trauern.
Alles ist gut, so wie es ist.
Und kurz darauf ist alles schon wieder ganz anders.