Ich bin super angespannt auf meinem Weg zum Busbahnhof im Süden von Boston.
Ich bin noch nie mit einem Greyhound gefahren. Ich will nicht acht Stunden lang ganz nah an einem fremden Menschen sitzen. Ich habe Sorge, den Bus zu verpassen. Ich befürchte, dass mir während der Fahrt übel wird, wie früher als Kind. Ich gehe wirklich ungern auf eine Bus-Toilette. Ich weiß nicht, was mich an der Grenze zu Kanada erwartet und hoffe inständig, dass ich alles griffbereit habe, was ich für den Grenzübertritt brauche.
Klar, ich nutze meine Tools. Embodiment, Atem, DEEP JOURNALING. All das hilft, aber ein Rest an Anspannung bleibt.
In mir gibt es eine harsche Stimme, die mich für meine Nervosität verurteilt. Sollte ich nicht schon viel WEITER sein? Tiefenentspannt, egal, was gerade geschieht? Vielleicht sind meine Tools ja doch nicht so toll, wenn ich es nicht mal in einer so lächerlich unkomplizierten Situation schaffe, gechillt zu sein?
Der klassische zweite Pfeil eben.
Und ein wunderbares Beispiel dafür, wie wir Mind Management manchmal GEGEN uns verwenden statt FÜR uns.
In diesem Goldstück möchte ich dich auf drei „Fehler“ aufmerksam machen, die viele Menschen machen, wenn sie beginnen, mit ihrem Mind zu arbeiten und ihre Gefühle und Gedanken bewusst zu managen.
Mind Management ist ungemein wirksam und kraftvoll. Umso wichtiger ist es, dass wir es liebevoll, geduldig, mitfühlend und zu unserem Besten einsetzen, statt es für die falschen Zwecke zu missbrauchen!
Was ist Mind Management eigentlich?
Bewusst wählen, was du denken und fühlen möchtest – das ist es auch schon.
Es ist einfach. Und gleichzeitig absolut revolutionär.
Den wenigsten Menschen ist klar, dass sie damit den Schlüssel zu praktisch ALLEM in der Hand haben. Zu tiefem innerem Glück, zu einem selbstbestimmten Leben, zu beruflicher Erfüllung, zu nährenden, Drama-freien Beziehungen.
Wer von uns hat gelernt, dass Gedanken einfach nur Sätze im Kopf sind, ohne jeglichen Wahrheitsgehalt? Und dass wir diese Standard-Sätze absichtsvoll durch andere ersetzen können?
Wer von uns hat gelernt, dass Gefühle niemals durch äußere Umstände – schon gar nicht durch das Verhalten anderer – ausgelöst werden, und dass wir WÄHLEN können, wie wir uns fühlen wollen?
Wenn ich mich in meinem Umfeld umblicke, lautet die Antwort eindeutig: Niemand.
Zumindest nicht in unserer Kindheit und Jugend.
Zum Glück brechen nun andere Zeiten an!
„I do not fix problems.
I fix my thinking.
Then problems fix themselves.“
Louise L. Hay
Das Prinzip ist einfach, aber …
Fast jeder Mensch, der beginnt, seinen Mind zu managen und ein neues Mindset zu entwickeln, kommt irgendwann an einen Punkt, an dem er zutiefst frustriert ist.
Wenn es so einfach ist, wieso „greift“ es dann nicht?
Wieso genügt es nicht, verstanden zu haben, worum es geht?
Wieso fühle ich mich noch immer oft SCHLECHT, obwohl ich doch schon so viele Seminare besucht, Bücher gekauft, Journal-Seiten gefüllt, meditiert, … (fill in the blank) habe?
Das Prinzip ist einfach – aber die Umsetzung hat’s in sich.
Wir brauchen dafür viel Geduld, einen langen Atem, eine solide Praxis und maßgeschneiderte Tools.
Klingt nicht sexy, ich weiß – auch ich hätte lieber eine Wunderpille 😉
Aber das ERGEBNIS ist sexy – versprochen. Vorausgesetzt, du vermeidest die folgenden drei Fehler.
Fehler #1: Mit Mind Management Gefühle vermeiden wollen
Oh ja, es klingt sehr verlockend. Wenn ich nur ausreichend „positiv denke“, muss ich sie alle nicht mehr fühlen – die Angst, die Wut, die Verzweiflung, die Scham, die Einsamkeit.
Aber wenn wir Mind Management missbrauchen, um unsere Gefühle nicht mehr spüren zu müssen, haben wir tatsächlich etwas missverstanden.
Unseren unangenehmen Gefühlen positive Gedanken „von der Stange“ entgegenzusetzen, bringt langfristig genau gar nichts. Versuch ruhig, dir tausend Mal weiszumachen, dass du selbstbewusst, liebenswert und glücklich bist – wenn all das nicht von deinem gesamten System VERKÖRPERT wird, bleibt es oberflächliches Blabla, während die Seele weiterhin hungert und dürstet.
Wir brauchen ALL unsere Gefühle. Nicht nur, um in jeder Faser lebendig zu sein, sondern auch, weil sie es sind, die uns zeigen, was in unserem Mind wirklich vor sich geht. Nur wenn wir bereit sind, Emotionen wirklich zu FÜHLEN, können wir erforschen, welche Gedanken sie hervorgerufen haben.
Nur dann können wir damit arbeiten – und zwar, indem wir ihnen die Energie entziehen und sie nach und nach durch maßgeschneiderte neue Glaubenssätzen ersetzen. Dazu brauchen wir geeignete Methoden, zum Beispiel Journaling-Tools oder auch Apps, mit denen wir unsere eigene Stimme aufnehmen und anhören können.
Mind Management als Gefühls-Bypassing funktioniert nicht. Wer es versucht, schneidet sich von der eigenen Lebendigkeit ab – und von der Möglichkeit, dem Gehirn ECHTES Glück beizubringen, statt rosarote Tünche über eine stinkende Müllhalde zu gießen.
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MIND MANAGEMENT ALS GEFÜHLS-BYPASSING FUNKTIONIERT NICHT. WER ES VERSUCHT, SCHNEIDET SICH VON DER EIGENEN LEBENDIGKEIT AB.
Fehler #2: Dich für dein Denken / Fühlen verurteilen
Kürzlich habe ich ein Posting auf facebook gelesen, in dem eine selbst ernannte spirituelle Lehrerin dazu aufrief, doch endlich mit dem Vergleichen aufzuhören. Jeder Mensch sei einzigartig, und das Vergleichen sei völlig überflüssig.
Ich gebe ihr grundsätzlich recht. Und ich bekenne mich schuldig – auch ich habe früher ähnliche Appelle in die Welt posaunt.
Damals war mir allerdings noch nicht bewusst, dass soziale Vergleiche zu unserer neuronalen Standard-Programmierung gehören, dass wir ohne sie als menschliche Spezies nicht überlebt hätten, und welche Rolle dabei der Neurotransmitter Serotonin spielt.
Ja, wir können bewusst wählen, unsere Einzigartigkeit zu feiern, statt uns mit anderen zu vergleichen.
Aber uns dafür zu verurteilen, DASS wir uns vergleichen, bedeutet, uns dafür zu verurteilen, dass wir ein Mensch mit einem bestens funktionierenden menschlichen Gehirn sind.
Vergleiche sind da, weil sie zu unserer Grundausstattung gehören. Daran ist nichts Falsches. Genauso wenig wie an meiner Anspannung vor einer Busreise etwas Falsches ist, oder daran, dass dir eben NICHT egal ist, was andere von dir denken.
Die Idee, wir sollten doch schon „weiter“ sein und bestimmte Gedanken oder Gefühle nicht mehr haben, ist zutiefst respekt- und lieblos uns selbst und unserer Geschichte gegenüber.
Wenn wir Babystep für Babystep unsere „Software“ umprogrammieren und auf diese Weise nach und nach auch unsere Hardware verändern, durchbrechen wir JAHRTAUSENDE alte Muster und Prägungen. Zu glauben, dass diese sich innerhalb weniger Wochen oder Monate in Luft auflösen könnten, ist absurd.
Wir sind genau so „weit“, wie wir sein können.
Amen.
Fehler #3: Mind Management für Selbstoptimierung missbrauchen
Kürzlich habe ich in einer Podcast-Episode der glorreichen Kara Loewentheil zum ersten Mal den Begriff „Healthism“ gehört. Healthism ist eine Art Überbeschäftigung mit der eigenen Gesundheit (*), die fast schon an Hysterie grenzen kann. Das beinhaltet auch die Idee, unser Körper würde endlich aufhören, gewisse Symptome zu zeigen oder krank zu werden, wenn wir es nur schaffen würden, unser Leben optimal zu gestalten.
(*) oder mit der Gesundheit anderer bzw. der ganzen Gesellschaft
Auch wenn mir dieser Begriff neu war, kenne ich das Phänomen gut aus meiner Zeit in der Yoga-Bubble. In diesem Umfeld musste frau schon fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich mal steif und unbeweglich fühlte, Menstruationsbeschwerden hatte oder einen Schnupfen (Naaaaa, was kannst du denn nicht mehr riechen? Und du hast wohl deinen Zugang zu deiner göttlichen Weiblichkeit verloren, sonst würdest du eine Woche lang am Sofa liegen und dich ausruhen, wenn du deine Periode bekommst, statt Unterleibskrämpfe zu haben!)
Dass ich NOCH IMMER ab und an einen Anflug von Migräne habe, wage ich fast schon nicht mehr öffentlich zu erwähnen – denn ich kann mir sicher sein, dass ich dann eine Handvoll (mehr oder weniger gut gemeinter) Angebote von Menschen bekomme, die glauben, ausgerechnet sie könnten mich endlich, endlich von meiner körperlich-menschlichen Existenz erlösen, die nun mal mit gelegentlichem Schmerz und Dysbalancen einhergeht.
Genauso wenig, wie Yoga dazu da ist, uns zu perfektionieren, ist Mind Management dazu da, uns zu perfekten Menschen zu machen.
Ganz im Gegenteil. Mind Management ermöglicht uns, trotz oder gerade wegen unserer herrlichen Unperfektheit glücklich, lebendig und zufrieden zu sein.
„Wer glaubt, immer alles in seinem Leben im Griff haben zu können, vergreift sich an seiner Lebendigkeit.’’
Ernst Fernstl
Buchtipps:
- Lisa Feldman Barrett: How Emotions Are Made. The Secret Life of the Brain.
- Loretta Graziano Breunign: Habits of a Happy Brain. Retrain Your Brain to Boost Your Serotonin, Dopamin, Oxytocin & Endorphin Levels.
- Rita Schulte: Think This Not That: Rewiring Your Brain to Eliminate Toxic Thinking
- Dr Carol Dweck: Mindset: Changing The Way You think To Fulfil Your Potential
- Rick Hanson: Achtsam wie ein Buddha: Mit Meditation und Neurowissenschaft zum wahren Ich – Die 7 Stufen: von mehr Gelassenheit bis zum erwachten Geist