Frühmorgens, draußen ist es noch stockdunkel. Der Tageslicht-Wecker strahlt sanftes Licht in mein Schlafzimmer. Langsam kehre ich aus dem Land der Träume zurück in meinen Körper. Setze mich auf. Wie von selbst greift meine Hand zu meinem schönen, in rotbraunes Leder gebundenen Tagebuch. Und zu meiner Füllfeder, die auf dem Nachttisch liegt.
Das leise, kratzende Geräusch der Feder, die übers Papier gleitet, während es rund um mich noch ganz still ist. Die Buchstaben, Worte und Sätze, die ganz von selbst aus meinem Kopf in mein Journal fließen. Die schwarze Tinte, die meine wirren Gedanken klärt, strukturiert und aussortiert.
Ich schreibe Morgenseiten.
MEINE Version von Morgenseiten.
Ganz ehrlich: Ich habe noch nie erlebt, dass es mir danach nicht besser gegangen wäre als davor. Dass ich mich nach dem Schreiben nicht leichter, ruhiger und motivierter gefühlt hätte.
Kürzlich habe ich einer Coaching-Klientin den Klassiker „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron empfohlen. In unserer nächsten Session erzählte sie mir, sie habe daraufhin begonnen, die von Cameron empfohlenen Morgenseiten zu schreiben. Und das schenke ihr viel Klarheit.
Ja, denke ich. Ich weiß.
Mir auch. Mir auch.
Dabei sieht es zunächst oft ganz anders aus. Denn das, was als erstes aus meinem Gehirn heraus und aufs Papier fließt, ist oft alles andere als erbaulich, und schon gar nicht ist es klar. Manchmal ist es einfach belanglos oder sogar langweilig. Manchmal zeigen sich Ängste, Frustration, Wut, Selbstmitleid, Selbstzweifel oder Selbstkritik, … der ganze Müll eben.
Aber genau darum geht es. Was auf dem Papier steht, spukt nicht mehr in meinem Kopf herum. Und ohne dass ich etwas dazu tun müsste, verändert sich der Grundton meines Schreibens nach einiger Zeit. Plötzlich melden sich da andere Stimmen. Hey, Layakind, ich bin’s, deine Kreativität! Hey, Layakind, ich bin’s, dein Humor! Hey, Layakind, ich bin’s, dein Optimismus! Ah, und da tauchen ja auch schon die Freude und die Lebendigkeit auf, die Lebenslust und der Gestaltungsdrang!
All dieses wütende, weinerliche, unbedeutende Zeug, das Sie auf Ihren Morgenseiten festhalten, steht zwischen Ihnen und Ihrer Kreativität. Angst um den Job, die Wäsche, die Beule am Auto, der seltsame Blick unseres Freundes oder unserer Freundin – all diese Dinge wirbeln durch unser Unterbewusstsein und überlagern unseren Tag.Bringen Sie es zu Papier.
~ Julia Cameron
Was sind Morgenseiten?
„Sie könnten auch Gehirnentleerung genannt werden, denn das ist eine ihrer Hauptfunktionen“, so Julia Cameron. Sie empfiehlt, jeden Morgen drei Seiten zu füllen, und dabei einfach alles aufzuschreiben, was in unserem Bewusstsein so herumgeistert.
Das Schreiben der Morgenseiten ähnelt also der „Stream-of-Consciousness“-Technik, bei der wir ebenso ungefiltert die Inhalte unseres Bewusstseinsstrom aufs Papier fließen lassen.
Und was bringt das?
Cameron empfiehlt die Morgenseiten als eine von zwei grundlegenden Techniken, um unsere Blockaden zu lösen und unsere Kreativität zu entfachen (die zweite sind wöchentliche „Künstlertreffs“ mit uns selbst).
Am frühen Morgen sind wir noch nicht ganz im Tagesbewusstsein angekommen. Dadurch ist es einfacher, Zugang zu unserem Unbewussten zu bekommen. Und wie gesagt: Alles, was auf dem Papier landet, spukt nicht mehr in unserem Kopf herum! Den Tag schreibend zu beginnen wirkt also befreiend und klärend.
Was aber vielleicht noch wichtiger ist: Die Morgenseiten sind ein RITUAL. Und wie Rituale es so an sich haben, werden sie irgendwann zur Selbstverständlichkeit. Wenn wir uns morgens Zeit zum Schreiben nehmen, dann wird das Schreiben ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens. Und davon profitieren wir auf allen Ebenen!
Von den bis zu 80.000 Gedanken, die unser Gehirn täglich produziert, ist der allergrößte Teil unbewusst. Das bedeutet aber nicht, dass diese Gedanken keinen Einfluss auf unsere Gefühle und unser Handeln haben – im Gegenteil! Manche dieser Gedanken sind relativ neutral. Manche positiv. Viele aber auch negativ, selbstkritisch, pessimistisch, düster oder auf andere Weise limitierend. Regelmäßig zu schreiben hilft uns zu erkennen, was sich zwischen unseren hübschen Ohren so abspielt. Nur so können wir beginnen, ÜBER UNSER DENKEN NACHZUDENKEN. Wir können entscheiden, welche der Gedanken, die wir nun Schwarz auf Weiß vor uns haben, wir wieder in unser Gehirn pflanzen wollen – und welche nicht.
Müssen es wirklich drei Seiten sein – und das jeden Tag?
Julia Cameron meint: Ja 🙂
Ich persönlich sehe das wesentlich pragmatischer. Besser hin und wieder und nur kurz, als gar nicht! Es gibt Phasen in meinem Leben, da schreibe ich sie fast jeden Tag, meine Morgenseiten. Dann werde ich ihnen wieder monatelang untreu – nur um irgendwann doch wieder zu ihnen zurückzukehren. Ich achte auch nicht darauf, wie viel oder wie lange ich schreibe. Wenn ich fertig bin, bin ich fertig. Oder wenn ein Termin auf mich wartet 😉
Jeder, der die Morgenseiten treu schreibt, wird zu einer Quelle innerer Weisheit geführt werden, mit der er sich verbinden kann.
Wenn ich in einer schmerzhaften Situation oder einem Problem feststecke und nicht weiß, was ich tun soll, dann vertraue ich mich den Seiten an und bitte um Führung.
~ Julia Cameron
Kann ich stattdessen auch am Abend schreiben?
Natürlich kannst du! Aber es hat einfach eine andere Qualität. Am Abend werden vermutlich die Eindrücke des Tages überwiegen, am Morgen gleich nach dem Aufwachen befindet sich unser Geist noch in einem anderen Bewusstseinszustand.
Probier es einfach aus, und du wirst den Unterschied feststellen!
Kann man dabei auch irgendetwas falsch machen?
Im Grunde nicht viel. Nur falls du bemerkst, dass du dich in Endlos-Schleifen von Gejammer, Selbstmitleid, Ärger oder Verzweiflung verfängst (was beim Schreiben äußerst selten vorkommt – aber manchmal eben doch), dann sind die Morgenseiten vermutlich im Moment nicht der richtige Zugang für dich. Meine Empfehlung: Probier‘ es stattdessen mit den Big 4!
Und was ist, wenn mir nichts einfällt?
Keine Sorge – es gibt praktisch IMMER irgendwelche Gedanken in deinem Kopf, die du zu Papier bringen kannst. Zum Beispiel könnte es der Gedanke „Mir fällt nichts ein“ sein – dann schreibst du einfach diesen Gedanken auf, und dann den nächsten und den nächsten. Was du schreibst, musst weder sinnvoll noch geistreich noch irgendwie wohlklingend, durchdacht oder „schön“ sein.
Und was mache ich mit den vielen vollgeschriebenen Seiten?
Gar nichts – außer du willst. Das Schreiben an sich – der Prozess – ist das, worum es geht, nicht das Ergebnis.
Andererseits kann es natürlich erhellend sein, nach einiger Zeit das Geschriebene nochmal zu überfliegen – vielleicht zeigen sich Muster, vielleicht erscheint ein roter Faden. Vielleicht findest du sogar mittendrin ein Goldnugget, und es wird ein literarischer Text daraus. Für manche Künstler*innen sind frei assoziierend geschriebene Texte ein wundervolles und reichhaltiges Ausgangsmaterial für Gedichte, Erzählungen oder andere Werke.
Garbage and flowers depend on each other to grow.Night and day depend on each other to establish themselves.This is the wisdom of nondiscrimination.
~ Thich Nhat Hanh
Was sind DEINE liebsten Schreibrituale, Schreiborte, Schreibzeiten? Poste in die Kommentare – ich freue mich darauf, von dir zu erfahren!