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Berufung leben: Wenn die Zukunft dich ruft 

 März 8, 2021

Wir wandern durch die sanfte Hügellandschaft des Mühlviertels, mein erster Mann und ich.

Es ist August. 

August 1999.

In meinem Rucksack klingelt es. (Ja, damals gab es schon Handys!)

Ich krame das klingelnde Riesending aus der Seitentasche des Rucksacks und schaue aufs Display. Erkenne die Nummer des Landesschulrats. Spüre, wie mein Magen sich verkrampft. Und hebe ab. 

Schon die dritte Stelle, die mir als Physik- und Mathematiklehrerin angeboten wird. Diesmal in einer Technischen Lehranstalt. Nochmal Magenkrampfen. 

Bald muss ich mich entscheiden. Das nächste Schuljahr beginnt und ich habe keinen Plan B. 

Gemessen an meiner Vergangenheit ist der weitere Weg klar: Ich habe Lehramt studiert, habe in verschiedenen Gymnasien unterrichtet, jetzt kommt der nächste Schritt. 

Ich packe das Handy zurück in den Rucksack und lasse meinen Blick über die braungrünen Hügel schweifen. 

Ich sehe breite, asphaltierte Straßen und schmale, kaum erkennbare Wege. Ich sehe Kreuzungen und Weggabelungen. 

Und plötzlich wird mir bewusst: GAR NICHTS ist klar. 

"Positive Psychologie [...] ist von der Idee untermauert, dass Menschen von ihrer Zukunft angezogen werden", meint Martin Seligman, der Gründervater der Positiven Psychologie. 

Und ich muss darüber lächeln, wie sich hier der Kreis schließt. 

In der Physik gab es vor langer Zeit einen bahnbrechenden Paradigmenwechsel. Hatte man früher geglaubt, die Zukunft sei von der Vergangenheit und der Gegenwart eindeutig vorherbestimmt, so erkannte man nun, dass man in den meisten Situationen bestenfalls voraussagen kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit welches Ereignis eintritt; später kam noch die Erkenntnis dazu, dass die Tatsache, dass jemand einen Vorgang beobachtet, dessen Ausgang verändern kann. 

Die vergangenen zwanzig Jahre haben in der Psychologie einen vergleichbaren Paradigmenwechsel gebracht (*). Früher hat man hauptsächlich in die Vergangenheit eines Menschen geblickt und dort nach Ursachen für sein Verhalten (und vor allem  für seine "Probleme") in der Gegenwart gesucht. Nun wurde der Ruf laut, den Fokus auf etwas anderes zu legen: Auf das, was in einem Menschen liegt. Auf das, was ihn ruft - darauf, welchen "Ruf" er aus der Zukunft erhält. Auf das, was diese Zukunft potenziell für ihn bereithält, wenn er sich nicht länger von seinen vergangenen Erfahrungen bestimmen lässt. 

„Ich bin nicht das, was mir passiert ist, sondern was ich beschlossen habe zu werden.“  ~ Carl Gustav Jung

(*) Das ist sehr verkürzt und vereinfacht ausgedrückt. Viele Vertreter*innen der Positiven Psychologie sehen sie eher als eine Bewegung, weniger als eine neue Fachrichtung. Und sie ist bei weitem nicht der erste Ansatz in Psychologie, Philosophie und anderen Zugängen, der den Fokus auf das Positive und auf die Entfaltung von Potenzialen legt. 


Was ruft dich aus der Zukunft? 

In jenem denkwürdigen Sommer schreibe ich eine Liste. Eine Liste der Berufe, die mich rufen. "Schriftstellerin" steht an erster Stelle, "Journalistin" an zweiter.

Und mit dieser winzigen Bewegung meines Stiftes auf einem Stück Papier kommt etwas Größeres in Bewegung; von diesem Moment an fügt sich eines zum anderen. 

Ich habe kein Geld für ein kostspieliges Masterstudium, aber durch das Zusammenspiel verrückter Umstände bekomme ich das einzige Stipendium, das für den gesamten Jahrgang zur Verfügung steht. Ich beginne wieder zu schreiben und gewinne prompt den Kurzgeschichtenwettbewerb einer renommierten Zeitschrift. Ich treffe Menschen, die meinen Horizont erweitern und mir auch heute, mehr als zwanzig Jahre später, treue Wegbegleiter*innen sind. 

Dass mein Weg mich vom Wissenschaftsjournalismus über unzählige Zwischenstationen zu einem eigenen Yoga- und Seminarzentrum führen würde, dazu, meine eigene Methode zu entwickeln und schließlich Coach und Expertin für Positive Psychologie zu werden, konnte ich damals natürlich nicht wissen.

Alles, was ich wusste, war, dass mich etwas rief.

Aus der Zukunft.

Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich diesem Etwas wirklich vertraut habe. 

Gefolgt bin ich ihm trotzdem.

30 bis 40 Prozent aller Menschen tragen Umfragen zufolge einen solchen inneren Ruf in sich, und die Forschung zeigt uns, dass Menschen, die tun, wozu sie sich berufen fühlen, mit einem erfüllteren Leben und überdurchschnittlich hohem psychologischen Wohlbefinden belohnt werden.   

“Persistence. Perfection. Patience. Power. Prioritize your passion. It keeps you sane.”
~  Criss Jami
“Beharrlichkeit. Perfektion. Geduld.  Kraft. Priorisiere deine Leidenschaft. Es hält dich gesund.”
~  Criss Jami
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Und wenn dieser Ruf mich in die Irre führt? 

Das wird er - mit Sicherheit. Denn wenn wir glauben, der Weg der Berufung sei eine gut beschilderte Autobahn, werden wir ihn sehr schnell wieder verlassen und uns mit einem "gewöhnlichen" Leben begnügen, weil uns alles andere zu anspruchsvoll - oder zu beängstigend - ist.  

Aber das wäre schade, denn was an Erfahrungen auf jenen kaum beschrittenen, verwachsenen und verworrenen Pfaden auf uns wartet, die den Weg der Berufung auszeichnen, ist bei weitem kostbarer, als schnell ans Ziel zu gelangen.

Von außen - oder aus der Zukunft - betrachtet, zeigt sich der organische, grüne Faden. Aber solange wir uns noch unseren Weg durchs Dickicht bahnen, während wir von Berggipfeln und anderen herrlichen Landschaften träumen, fühlt es sich oft wie ein orientierungsloses Umher-Irren an. 

Im Menschen ist etwas, das stärker ist als er, das ihn Wege gehen lässt, die ohne Ziel scheinen. Dennoch ist glücklich, wer auf ihnen geht.
~ Alexandra David-Néel


Die dunkle Seite des Berufungsweges 

Stell dir vor, du bist frisch verliebt. Die Schmetterlinge kribbeln in deinem Bauch, und plötzlich ist da genau das Lebensgefühl, nach dem du dich so lange gesehnt hat. 

Gleichzeitig ist da auch etwas anderes. Etwas Dunkles und Schmerzhaftes.

Alte Scham-Wunden kommen an die Oberfläche. Alte Ängste.

Die Angst, nicht gut genug zu sein; die Angst davor, verlassen zu werden oder davor, dass jemand dir ganz nahe kommt und dich WIRKLICH SIEHT; die Angst vor Kontrollverlust oder das Gefühl, du hättest so viel Glück gar nicht verdient. 

Aber wenn du dich, der Angst zum Trotz, der Person, in die du verliebt bist, tatsächlich öffnest, dann wird diese Beziehung dich möglicherweise in die Tiefe deines Seins führen, und viel intimer noch als die Beziehung zu diesem Menschen wird die Beziehung zu dir selbst werden - vorausgesetzt, ihr seid beide bereit, eure Schatten liebevoll anzunehmen euch von ihnen in eure Ganzheit führen zu lassen. 

Genau so ist es mit dem Weg der Berufung. Es ist wie in einer Beziehung, mit all ihren jubelnden Höhen und ihren erschreckenden Abgründen. Wenn wir uns diesem Weg anvertrauen, führt er uns zu uns selbst - und in unsere Ganzheit.


Wir werden geformt und gestaltet durch das, was wir lieben. 
~ Johann Wolfgang von Goethe


Was du an dir ablehnst, ist deine Super-Power

Wie viel Zeit hast du bereits damit verbracht, anders sein zu wollen als du bist? Wie oft hast du schon gedacht: Klar, wenn ich DIE Gaben, DEN Mut, DAS Selbstbewusstsein, DIE Lebensumstände hätte wie XYZ, ja DANN könnte auch ich erfolgreich sein mit dem, was ich liebe! 

Und damit flüchtest du. 

Denn genau die Dinge, die du an dir selbst als Schwäche, als Mangel, als Unzulänglichkeit erachtest, sind deine Super-Power.

Wie du in einem alchemistischen Prozess aus etwas vermeintlich Wertlosem Gold erzeugen kannst - das ist genau das, was der Weg der Berufung dich lehren will. 

GENAU DIE DINGE, DIE DU AN DIR SELBST ALS SCHWÄCHE, ALS MANGEL, ALS UNZULÄNGLICHKEIT ERACHTEST, SIND DEINE SUPER-POWER.

in einem alchemistischen prozess AUS etwas vermeintlich wertlosem gold zu erzeUgen IST genau das, was der weg der berufung dich lehren will. 


Nicht an einer einzigen Sache dranbleiben zu können habe ich immer als eine meiner größten Schwächen angesehen. Zu emotional und zu zartbesaitet zu sein auch. Wie sich herausstellte, haben aber genau diese ungeliebten Eigenschaften dazu geführt, dass ich heute so arbeiten kann wie ich es tue - und dazu, dass ich erfolgreich bin, indem ich die unterschiedlichsten Zugänge, die ich erforscht habe, verbinde, und indem ich den Menschen, die ich begleite, mit größter Empathie und höchstem Respekt vor ihrer Zartheit begegne.   

Das war aber erst möglich, nachdem ich diese Anteile nicht nur anerkannt, sondern mich in sie verliebt habe. Nachdem ich mich, aller Angst vor Zurückweisung zum Trotz, mit ihnen gezeigt habe. Seither lebe ich diese Anteile geradezu lustvoll exzessiv - und berühre damit genau DIE Menschen, die genau DAS brauchen, was ich zu geben habe.

Ach - und glaub bitte nicht, ich hätte keine Ängste und keine Zweifel mehr. Angst und Zweifel sind meine täglichen Begleiter, und mit jedem neuen Schritt auf meinem Weg tauchen sie in neuen Verkleidungen auf. 

Ich versuche, sie willkommen zu heißen, so gut es geht. 

Wir müssen verstehen, dass wir ein Leben kreieren können, das maßgeschneidert für unsere Einzigartigkeit ist. 

Wir müssen uns erlauben, das zu tun.

Und wir brauchen sehr, sehr viel Mut dafür.


Auf dem Weg zum Supermarkt

Martin Seligman schlägt folgende Übung vor:

Stell dir vor, du bis zuhause und willst zum nächstgelegenen Supermarkt gehen. Stell dir vor, wie du den üblichen Weg einschlägst - du gehst bei der Haustür raus, wendest dich in die vertraute Richtung und läufst den bekannten Weg entlang, bis du dein Ziel erreichst. 

Nun spulst du zurück bis zu dem Moment, in dem du das Haus verlässt. Geh diesmal in die andere Richtung - nach links, wenn du normalerweise nach rechts gehst, und umgekehrt.

  • Wie fühlt sich das an? 
  • Was passiert in deinem Kopf, in deinem Körper bei dieser Vorstellung? 
  • Und wo in deinem Leben könntest du das nächste Mal nach links statt nach rechts gehen? 

Egal, ob wir auf dem Weg zum Supermarkt sind oder auf dem Weg der Berufung - es gibt immer eine andere Richtung. Eine unkonventionelle. Eine beängstigend unbekannte. 

Es gibt ein Abenteuer, das auf uns wartet. 

Niemand zwingt uns, diesem Ruf zu folgen, und niemand kann es statt uns tun. 

Wir können nach links gehen oder nach rechts. Wir sind frei, zu entscheiden. 

Und vermutlich werden wir, egal, wohin wir uns wenden, immer irgendwo einen Supermarkt finden 😉

Buchtipps und Ressourcen:

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