Die Menschen rund um mich lachen und kreischen. Immer, wenn eine Fontäne aus Wasser auf sie spritzt, johlen sie synchron auf. Einige tragen billige Plastik-Regenanzüge.
Die Menschen rund um mich. Kinder und Erwachsene. Sie alle haben Spaß, während ich die Tränen kaum zurückhalten kann.
Fühlen sie nicht diesen Schmerz? Diesen Schmerz, den ich empfinde, während ich Zeugin eines zutiefst entwürdigenden und beschämenden Spektaktels bin?
Ich bin in einem Tierpark, obwohl ich Tierparks hasse.
Ich bin in einem Tierpark, weil es das ist, was Mütter zehnjähriger Söhne tun, wenn sie auf Urlaub sind: Sie gehen in Tierparks.
Die Tierparks, die ich aus Österreich kenne, sind anders. Es gibt nicht nur kleine Käfige, sondern auch große Gehege, Spazierwege und Luft zum Atmen. Immerhin.
Hier im Loro Parque auf Teneriffa treffe ich auf die künstlichste Welt, die ich je erlebt habe. Auf einem Förderband werden die Besucher*innen – ähnlich wie Lebensmittel an der Supermarktkassa – an Pinguinen vorbeimanövriert, die zu Hunderten unter grellem Neonlicht hinter einer Glaswand stehen und mit Kulleraugen auf die vorbeiziehenden Menschen blicken. In winzigen Becken vollführen Seehunde Kunststücke, zu denen Männer und Frauen in Neoprenanzügen sie animieren, während die Besucher gleichgültig klatschen.
Und irgendwann sitze ich bei der Wal-Show auf einer Plastikbank inmitten johlender Tourist*innen.
Schwarz-weiß schimmernde Tiere schwimmen in einem winzigen Pool und spritzen auf Kommando Wasser auf Menschen in seltsamen Plastikverpackungen.
Ich sitze auf meiner Bank und mir schnürt es das Herz zu. Mein Sohn sitzt neben mir und lacht. Ich will am liebsten davonlaufen – aber das ist nicht das, was Mütter tun, die glauben, ihren Kindern unvergessliche Urlaubserlebnisse schuldig zu sein.
Ich sehe eine Wal-Familie vor mir, die in den unendlichen Weiten des Ozeans majestätisch ihre Bahnen zieht. Wal-Gesänge klingen in meinen Ohren – und plötzlich BIN ich einer dieser Wale. Plötzlich bin ICH es, aus deren tiefstem Inneren ein Gesang auftaucht. Ein Gesang der Freude über die eigene Freiheit, über das pure Sein in meinem natürlichen Habitat, über mein wildes, ungezähmtes Wesen.
„Komm, wir gehen“, sage ich zu meinem Sohn, und er blickt mich ungläubig an.
Die Stimme der Sehnsucht
Viele Jahre meines Lebens habe ich in einem winzigen Pool verbracht, den ich für das Meer hielt. Die Stimme der Sehnsucht war zu leise, als dass ich sie hören hätte können. Nur manchmal, wenn ich am Abend über meine Physik-Bücher gebeugt am Schreibtisch saß, den Kopf hob und mein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickte, war da ein leises Wispern.
Schnell habe ich dann den Kopf wieder gesenkt.
Doch eines Tages begannen die Wände meines Pools zu beben, und das zuvor so stille Wasser bäumte sich zu hohen Wellen auf. Da wurde die Stimme lauter – und unüberhörbar.
Die nächsten zehn Jahre verbrachte ich damit, mir meine Nase an unsichtbaren Wänden blutig zu stoßen, Fluchtwege zu suchen, an Gitterstäben zu rütteln, alte Gefängnisse zu verlassen, nur um mich in neue zu begeben, neue Auswege zu finden und langsam, langsam mein verstummtes Lied wiederzuentdecken.
Personal growth is misleading,because it sounds like it’s going to be funbut if we called it ‚deliberately making yourself so uncomfortable it’ll feel like you’re dying.’nobody would do it.
~ Emily McDowell
Ich dachte, ich sei die einzige mit einem Sehnsuchtslied im Herzen. Aber als ich begann, es zaghaft und leise zu singen, tauchten rund um mich plötzlich andere Wale auf. Meine Familie hatte mich gehört. Und gefunden.
Ich schmecke Salzwasser
Ich bin ziemlich sicher, dass die Gewässer, in denen ich mich heute bewege, nicht das große, weite Meer sind. Aber ich schmecke Salzwasser. Ich rieche Freiheit und Unendlichkeit. Vielleicht schwimme ich in einem Fluss, der bald im Meer münden wird – oder noch nicht ganz so bald.
Ich gehe in keine Tierparks mehr. Ich glaube nicht mehr, dass ich meinem Sohn irgendetwas schuldig bin. Ich beginne langsam zu glauben, dass meine Wa(h)lfamilie mich tatsächlich so liebt, wie ich bin, und ich mich nicht verbiegen, totstellen oder als Goldfisch verkleiden muss, damit sie mich nicht wieder verlässt.
Sehr, sehr oft treffe ich den falschen Ton, und mein Lied klingt nicht authentisch, sondern verzerrt. Sehr, sehr oft will ich noch immer ein imaginäres Publikum für mich gewinnen und im richtigen Moment zum Lachen bringen, damit es nicht das Gefühl hat, die Show wäre den Eintrittspreis nicht wert. Das macht mich unglücklich und manchmal auch verzweifelt.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,die sich über die Dinge ziehn.Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,und ich kreise jahrtausendelang;und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturmoder ein großer Gesang.
~ Rainer Maria Rilke
Noch viele Jahrtausende lang werde ich meine Kreise ziehen und nicht wissen, wer ich wirklich bin.
Aber ich weiß, dass jeder Kreis, der sich öffnet und schließt, in sich vollkommen ist, auch wenn ich den letzten nie vollbringen werde. Ich weiß, dass mein Gesang, mit jedem falschen Ton, mit jedem Zittern in der Stimme und jedem Schluchzen, das aus dem Ozean meiner Trauer über das ungelebte Leben an die Oberfläche steigt, zu einer großen Symphonie gehört. Und ich weiß, dass ich Teil des einen großen Liedes bin – jenes Liedes, das sich selbst aus der Leere erschaffen hat und hineinklingen wird in die Ewigkeit.