Mein Bruder und ich auf dem Sofa. Eine seltene Gelegenheit - nur wir beide, ohne den Rest der Familie, in einem Raum.
Es gibt etwas zu besprechen. Es geht um Familienfinanzen. Um Geld. Ein Thema, über das in unserer Familie nie besonders offen geredet wurde. Ein Thema, über das ich noch nie mit meinem Bruder unter vier Augen gesprochen habe. Jetzt ist es notwendig geworden - und das fühlt sich sehr, sehr unangenehm an.
Ich spüre schon lange, dass es Zeit für mich ist, klar Stellung zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Offen und direkt auszudrücken, wie ich die Sache sehe, was ich für eine gute Lösung halte, und auch, für mich einzustehen und keine faulen Kompromisse und Wischi-Waschi-Lösungen zu akzeptieren.
Gaaaaanz fest habe ich mir vorgenommen, bei diesem Gespräch nicht zu kneifen. Mit meinem Liebsten und mit meiner Coach habe ich mehrmals durchgekaut, was mir wichtig ist, was ich sagen will und wie.
Dann ist der Zeitpunkt gekommen - und weg sind all die Klarheit und die Entschlossenheit. Ich will einfach nur, dass dieses Gespräch vorbei ist und dass das unangenehme Gefühl verschwindet. Ich bin drauf und dran, der inneren Stimme Glauben zu schenken, die sagt: "Ach komm, ist doch nicht so wichtig. Vielleicht ist das einfach nicht der richtige Zeitpunkt, ihr könnt auch ein andermal darüber reden. Oder die Angelegenheit löst sich ganz von selbst ..."
Nein, tut sie nicht. Ich weiß das. Und ich entscheide mich, zu sprechen. Zögerlich. Nicht ganz so klar und selbstbewusst, wie ich mir das gewünscht hätte. Aber ich spreche.
Ich spreche meine Wahrheit.
Hinterher bin ich erschöpft.
Und stolz.
Ich bin gewachsen. Ich habe begonnen, ein hartnäckiges Familienmuster aufzulösen. Gleichzeitig bin ich in Berührung mit einem uralten Frauenthema gekommen, mit einer Limitierung, die weniger mit meinem eigenen Leben als mit einer jahrhundertealten gesellschaftlichen Schieflage zu tun hat.
Und das ist suuuuper-anstrengend.
Warum es so SCHWIERIG ist, Klartext zu sprechen. Und warum du geduldig mit dir selbst sein darfst!
"Warum schaffe ich es einfach nicht, meiner Mutter zu sagen, dass ich nicht will, dass sie jedes Mal ungefragt aufzuräumen beginnt, wenn sie uns besucht? "
"Warum verstumme ich jedes Mal, wenn meine Schwägerin ihre Ansichten über Kindererziehung breittritt, statt einfach zu sagen, dass ich das ganz anders sehe?"
"Warum beiße ich mir im Team-Meeting auf die Lippen, statt klar zu sagen, dass ich es nicht mag, wenn über andere hinter ihrem Rücken gelästert wird?"
"Warum fällt es mir so schwer, meinem Partner zu sagen, dass ich lieber Zeit alleine als mit ihm verbringe?"
Oft sitzen mir Coaching-Klientinnen gegenüber und sind unzufrieden mit sich selbst, weil sie nicht mutig genug sind, ihre Wahrheit auszusprechen. Manche gehen sogar ziemlich hart mit sich selbst ins Gericht. Sie verurteilen sich dafür.
Aber Selbstverurteilung führt garantiert NICHT dazu, dass wir mutiger werden. Im Gegenteil - hier beißt sich die Katze in den sprichwörtlichen Schwanz.
Wir wollen dazugehören. Harmonie bedeutet Sicherheit. Von "der Gruppe" akzeptiert zu werden war für unsere frühen Vorfahren überlebensnotwendig - und unser Gehirn weiß (noch) nicht, dass wir nicht kläglich verhungern, erfrieren oder von Hyänen aufgefressen werden, nur weil wir mal nicht mit den anderen konform gehen oder sogar deren Unmut auf uns ziehen.
Und: Die wenigsten von uns haben in ihren Familien und in der Schule gelernt, dass es okay ist, eine eigene Meinung zu haben, sie klar auszusprechen und auch mal kräftig anzuecken.
Das Absurde ist, dass wir uns selbst unsere Zuneigung und den emotionalen Rückhalt entziehen, statt zu verstehen, welche Prägungen da in uns wirken. Wir tun uns mit unserer Selbstverurteilung genau das an, was wir von anderen befürchten und wovor wir so viel Angst haben.
Und so lassen wir uns doppelt im Stich: Wir stehen nicht zu uns, und wir verurteilen uns dafür, dass wir noch nicht gelernt haben, zu uns zu stehen.
Wie wäre es also mit:
"Ja, ich sehe, dass du Angst hast, ich verstehe, dass es sich unangenehm anfühlt, und dass du das nicht von heute auf morgen ändern kannst. Komm, lass es uns einfach weiter versuchen, so lange, bis wir mutiger und selbstbewusster geworden sind!"
Statt:
"Warum schaffe ich es einfach nicht ...?"
"Verletzlichkeit bedeutet Wahrheit und Mut. Wahrheit und Mut sind nicht immer angenehm, doch niemals als Schwäche anzusehen."
~ Brene Brown
Warum es so WICHTIG ist, Klartext zu sprechen. Und warum es viel zu gewinnen gibt.
Jaaaa, wir dürfen mitfühlend und geduldig mit uns sein. UND wir dürfen dranbleiben und beherzt weiterüben! Denn wir riskieren zwar einerseits die (Schein-)Harmonie und das vertraute, kuschelige Gefühl - aber andererseits gibt es auch richtig viel zu gewinnen, wenn wir Klartext sprechen!
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ECHTE ZUGEHÖRIGKEIT SETZT WAHRHAFTIGKEIT VORAUS.
wie soll unser Wolfsrudel uns finden, wenn wir ständig blöken wie ein Schaf, statt im Mondlicht zu heulen, wie es unsere Natur ist?
“An etwas zu glauben und es nicht zu leben, ist unehrlich.” ~ Mahatma Gandhi
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Lebenslügen binden unendlich viel Energie.
Klartext zu sprechen setzt diese Energie frei.
Wahr und klar - wie geht das? Fünf Tipps.
# 1 Beginne mit einem kleinen Schritt
Du musst nicht gleich deiner Chefin alles vor den Latz knallen, was du ihr schon seit Monaten sagen willst (und dich nie getraut hast). Du musst auch nicht deiner Schwiegermutter alle 15.756 Dinge an den Kopf werfen, die dir schon immer gegen den Strich gehen, oder deinem Partner offenbaren, dass du den Sex mit ihm schon seit Jahren nicht mehr aufregend findest.
Fang klein an, bist du Selbstbewusstsein getankt und Vertrauen aufgebaut hast; Vertrauen in die Tatsache, dass die Welt nicht untergeht, nur weil du deine Wahrheit klar und deutlich ausdrückst.
Sag der Zahnarzthelferin, dass die Kopfstütze drückt.
Sag dem Kellner, dass dein Apfelsaft zu kalt ist.
Sag deiner Schwester, dass du das Treffen mit ihr verschieben willst, weil dir gerade alles zu viel wird.
Und dann: Feiere dich und deinen wachsenden Mut!
# 2 Verschieß dein Pulver nicht umsonst
Natürlich geht es beim Wahrheit-Sprechen viel mehr darum, wer wir werden, wenn wir es tun, als um unser Gegenüber.
Dennoch gibt es Menschen, bei denen dein Wille zur Wahrhaftigkeit vergebene Liebesmüh ist. Sie werden dich nicht hören und nicht verstehen.
Wenn es also um die großen Brocken geht, dann überlege sorgfältig, wer dir wichtig genug ist, um ihm oder ihr deine Wahrheit zuzumuten.
Bewusst und innerlich friedlich, strategisch und gelassen die Wahrheit für dich zu behalten, ist etwas anderes, als sie herunterzuschlucken und dich hinterher darüber zu ärgern. Aber nur solange, wie du diese Entscheidung nicht als Ausrede benutzt, um dich vor Situationen zu drücken, die zwar unangenehm, aber wichtig für deine Entwicklung sind!
# 3 Benutze einen Avatar
Gibt es jemanden, den du für seine klare Sprache und seinen Mut zur Wahrhaftigkeit bewunderst? Dann hol dir dieses Wesen an deine Seite, wenn der entscheidende Moment gekommen ist! Egal, ob es deine Großtante ist, die sich noch nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, oder Glennon Doyle oder der brüllende Löwe aus einer Fabel.
Ein Avatar ist ein Wesen, das genau das verkörpert, was wir entwickeln wollen; wir können uns seine Kräfte leihen - in dem Wissen, dass diese Kräfte auch in uns schlummern und nur darauf warten, wachgeküsst zu werden.
Übrigens: Dieser Avatar kann auch dein Zukunfts-Ich sein!
# 4 Bereite dich vor
Abgesehen vom Avatar kannst du die Situation auch im Vorhinein visualisieren und dich selbst dabei beobachten, wie du Klartext sprichst. Du kannst auch über diese Szene schreiben - aus der Perspektive eines neutralen Zuschauers, der dich und alle anderen Beteiligten aus der Distanz betrachtet. Und: Erzähle einem Menschen deines Vertrauens von deinem Plan und bitte ihn, dich hinterher zu fragen, wie es gelaufen ist! Das hilft ungemein, in der Situation stark zu bleiben, statt einen Rückzieher zu machen.
Vor allem aber: Versprich dir selbst, dass du gut zu dir sein und dich keinesfalls selbst verurteilen wirst. Egal, wie die Sache ausgeht!
# 5 Energetisiere dein "Nadelöhr"
Unsere Kehle ist ein Nadelöhr. So etwas wie ein dünner Flaschenhals. Wie durchlässig dieser Flaschenhals ist, entscheidet darüber, ob das, was in uns ist, jemals nach außen dringt und für andere sichtbar und hörbar wird.
Bei vielen Menschen ist diese energetische Passage ziemlich verstopft. Das liegt zum Teil an kollektiven alten Scham-Wunden; oder daran, dass wir als Kinder nicht gehört oder gesehen wurden; oder daran, dass wir unsere eigene, erwachsene Stimme noch nicht gefunden haben.
Wie auch immer: Du kannst deine Kehle energetisieren und den Energiefluss anregen. Zum Beispiel, indem du viel singst; oder Simhasana, den Löwen praktizierst; oder Ujayi-Atmung übst. Oder eine Kette mit Türkis- oder Aquamarinsteinen trägst!
ZUM ABSCHLUSS:
EINE
PERSÖNLICHE
GESCHICHTE
Meinem Liebsten fällt es oft schwer, seine Wahrheit überhaupt zu spüren - und noch schwerer, sie auszudrücken. Deshalb üben wir das in unserer Beziehung.
Wenn er dann mal allen Mut zusammennimmt und Klartext spricht, ist er manchmal hinterher enttäuscht, weil ich nicht total begeistert von dem bin, was er geäußert hat. Irgendwie hat er das Gefühl, er hätte eine "Belohnung" in Form meiner hundertprozentigen Zustimmung verdient.
Aber diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Denn die Belohnung ist NICHT, dass andere uns zustimmen oder mögen. Die Belohnung ist das Gefühl, ECHT zu sein!
Quellen und Ressourcen:
teset