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Erinnere dich an deine wahren Träume 

 Dezember 26, 2020

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – dieser Satz von Adorno hat mir früher die Tränen in die Augen getrieben. Und er tut es auch heute noch, wenn mir Coaching-Klientinnen gegenüber sitzen, die zum ersten Mal mit der Trauer, der Verzweiflung und der Wut in Kontakt kommen, die sich unweigerlich zeigen, wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht das Leben leben, das unserem innersten Wesen entspricht.

Adorno hat mit „falsch“ ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse gemeint. In mir berührt sein berühmter Satz aber etwas anderes – nämlich die Frage, ob wir das „richtige“ Leben wählen. Eines, das nicht von Normen, Erwartungen und inneren Gefängnissen bestimmt ist, sondern von der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.

 

Ein stiller Begleiter auf dem Weg zur Berufung

 

Viele Jahre lang besuchte ich im nahegelegenen Wald einen großen und majestätischen Baum. Efeu rankt sich entlang seines mächtigen Stammes, und weit oben, gerade so, dass es noch erkennbar ist, befindet sich ein Astloch. Es hat die Form eines Herzens. Dieser Baum ist mein Herzbaum. Oft habe ich seine schroffe Baumrinde mit der Hand berührt. Oft habe ich meine – manchmal tränenüberströmte – Wange an ihn gelegt. Oft habe ich ihm meine Verzweiflung zugeflüstert. Oft hat er mir seine gelassene Kraft geschenkt und mir geholfen, so lange weiterzusuchen, bis sich mein Leben endlich „richtig“ anfühlte.

Ich habe beobachtet, dass es Menschen gibt, die schon sehr früh sehr genau wissen, was sie wollen, was sie können und wie sie leben möchten. Es scheint, als wäre ihr Leben auf dem Reißbrett konstruiert. Auch sie erleben Umbrüche und Krisen – aber die großen Suchenden, Zweifelnden und Ringenden sind diese Menschen nicht.

Die Menschen, mit denen ich arbeite, haben eines gemeinsam: Ihre Seelen haben keinen so geradlinigen Weg gewählt. Sie brauchen länger, um zu erkennen, wofür sie bestimmt sind, und die Kraft und den Mut zu finden, ihrem inneren Ruf zu folgen. Mut brauchen wir auf diesem Weg – denn woher sollen wir die Gewissheit nehmen, dass es das „richtige“ Leben überhaupt gibt? Wer versichert uns, dass es nicht nur unser Ego ist, das uns einredet, ein erfüllteres, tieferes, wahrhaftigeres Leben sei möglich? Liegt das wahre Glück nicht darin, zufrieden zu sein mit dem, was man hat, und alle Wünsche loszulassen?

 

Große und kleine Wünsche – was ist echt, was nur Ablenkung?

 

Es gibt Wünsche und es gibt WÜNSCHE. Es gibt Sehnsüchte und es gibt SEHNSÜCHTE. Es gibt Träume und es gibt TRÄUME. Tererai Trent, die Autorin von „The Awakened Woman: Remembering & Reigniting Our Sacred Dreams“, nennt es den kleinen und den großen Hunger.

Ich weiß, was sie meint. Es gibt die vielen kleinen Wünsche, Sehnsüchte und Träume, mit denen wir uns ablenken. Und es gibt jene Wünsche, Sehnsüchte und Träume, die uns unsere Seele tief ins Herz gepflanzt hat.

Sie sind nicht immer einfach zu benennen. Selten geht es darin um einen bestimmten Beruf, eine Reise, das eigene Haus oder den richtigen Partner. Vielmehr geht es um eine Art zu leben. Darum, ein Leben zu gestalten, das dem eigenen Wesen entspricht. Darum, uns nicht mehr selbst im Weg zu stehen und unsere Zeit mit Fantasien darüber zu vergeuden, wie erhaben wohl das Leben einer Königsrose sein mag, obwohl die wahre Anmut darin liegen würde, als das Buschwindröschen zu erblühen, als das wir gemeint sind.

 

Blockieren dich diese Berufungs-Mythen?

 

Es gibt viele Mythen, die sich um „Berufung“ ranken. Zum Beispiel, dass Berufung unbedingt etwas mit einem bestimmten Beruf zu tun haben muss. Oder dass es DIE EINE Lebensaufgabe gibt – und erst wenn wir diese gefunden haben, können wir ein erfülltes Leben führen. Oder dass es keine Ängste und Zweifel mehr geben wird, wenn wir nur endlich herausgefunden haben, worin unsere Berufung liegt.

Berufung ist ein Prozess. Ein Werden. Ein Wachsen. Ein Herumirren. Ein Finden und Verwerfen. Ein Einkreisen. Ein Festhalten. Ein Loslassen. Ein Hingeben.

Berufung ist SEIN und Berufung ist TUN.  Wir finden sie nicht, indem wir auf dem Sofa sitzen und über sie NACHDENKEN.

Wir finden sie, indem wir experimentieren, ausprobieren, aussortieren, und immer wieder alles Gewesene einackern, um das Feld neu zu bestellen.

Berufung ist SEIN und Berufung ist TUN.

Wir finden sie nicht, indem wir auf dem Sofa sitzen und über sie NACHDENKEN.

 

In Vollkontakt mit dem echten Leben

 

Eine Warnung. Unser menschliches Leben wird immer von Gefühlen geprägt sein.

Selbst wenn wir die großartigste Beziehung, prächtige Kinder, den tollsten Beruf, den schönsten Garten und den fittesten Körper haben, werden immer noch ALLE Gefühle da sein: Freude und Schmerz. Begeisterung und Verzweiflung. Dankbarkeit und Neid. Verbundenheit und Einsamkeit. Vertrauen und Angst.

Früher dachte ich, hätte ich nur endlich meine Träume verwirklicht, würde ich mich immer GUT fühlen. Heute weiß ich: Selbst wenn wir dort angekommen sind, wo es sich endlich richtig anfühlt, werden noch immer ALLE Gefühle da sein.

Vor gut einem Jahr bin ich alleine am Franziskusweg gewandert und dabei nicht nur von Florenz nach Assisi gepilgert, sondern auch die ganze Gefühlspalette auf und ab marschiert. Das war nicht immer lustig, und ich war auch nicht immer glücklich, obwohl ich diesen Weg selbst gewählt hatte. Aber ich wusste, dass es der richtige Weg ist. Und ich spürte, dass meine Gefühle entstanden, weil ich in Vollkontakt mit meinem Leben war – und nicht, weil ich mich vor ihm versteckte.

Noch eine Warnung. „In der Fähigkeit, einen edlen Wunsch intensiv und heiß zu nähren, liegt etwas wie Erfüllung“, schrieb Marie von Ebner-Eschenbach. Davon, den Wunsch zu verwirklichen, ist in diesem Zitat nicht die Rede. Tatsächlich liegt Erfüllung darin, dem Wunsch zu vertrauen und den Weg zu gehen, auf den er uns führt – und nicht darin, unser Ziel, so wie wir es einst vor Augen hatten, zu erreichen.

Was zählt, ist, wer wir werden auf diesem Weg.

Was zählt, ist, dass wir immer mehr mit unserer Essenz in Kontakt kommen.

Dass wir uns in unser Anders-Sein verlieben, statt anders sein zu wollen.

Dass wir uns ohne Neid an den stolzen Königsrosen erfreuen und uns in unserem Buschwindröschen-Dasein heimisch fühlen. Echt. Und wahrhaftig.

Was zählt, ist, wer wir werden auf diesem Weg.

Ich besuche meinen Herzbaum nur noch selten. Ich bin mein eigener Herzbaum geworden. Ich bin nicht immer glücklich. Aber: Mein Leben fühlt sich endlich richtig an.

 

****

Übrigens: Dieser Text ist im Tau-Magazin 17/2020 erschienen. Ich mag dieses „Magazin für Barfußpolitik sehr, und lese es schon seit vielen Jahren mit Begeisterung und immer um einige Erkenntnisse reicher …

  • Liebe Laya, was für ein erhellender Text, ich kenne das, auf der Suche zu sein und nicht zu wissen, was sind meine (wirklich tiefen) Wünsche, Träume .. und der Gedanke, dass sich dann alles „richtig anfühlt. Ich empfinde eine große Erleichterung bei deinem Satz
    „Selbst wenn wir dort angekommen sind, wo es sich endlich richtig anfühlt, werden noch immer ALLE Gefühle da sein.“
    Herzliche Grüße, Brigitte

    • Vielen Dank für dein Feedback, liebe Brigitte ⭐ Ich denke, dass nicht jeder Mensch eine solche Sehnsucht im Herzen trägt … aber für die, die sie spüren, ist sie ein großes Geschenk ✨
      Alles Liebe zu dir und viel Vertrauen für die Reise zu dir!
      Laya

  • Liebe Laya
    Danke vielmals für das schöne und so passende Goldstück✨ Es hat mich sehr berührt. Es trifft total auf mich zu. Vor allem meine berufliche Berufung zu finden, ist ein wildes Herumirren. Vom Büro ins Gastgewerbe, wieder zurück ins Büro und jetzt in die Pflege im Krankenhaus. Ich weiss wirklich nicht, wohin mein Weg führen wird ‍♀️ Viele Ängste und Unsicherheiten sind da. Ich versuche es „step by step“ zu nehmen. Wer weiss, was aus diesem beruflichen Wirrwarr noch entsteht?

    • Ja, wer weiß, liebe Evelin? Mein Wirrwarr war auch nicht ohne – aber irgendwann hat sich das große Bild gezeigt, und all die Fäden sind zusammengelaufen. Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, warum alles so kommen musste, wie es war … „Step by step“ ist eine gute Strategie … deine Seele weiß, wohin sie dich führen muss ✨
      Alles Liebe, Laya

  • Liebe Laya, was für ein grandioser, mutmachender, erhellender, aufklärender Text – mir fehlen grad die Worte zu beschreiben, was ich beim Lesen alles durchgemacht habe… Ebenso die ganze Gefühlspalette, wie Du sie auf dem Pilgerweg erlebt hast – Hier weiss eine klasse Schriftstellerin ganz klar, wovon sie spricht – und eine Leserin, wovon sie da liest. Auf dem Weg nach meiner Berufung habe ich so manches dunkle Tal durchschritten, so manche Nacht durchweint, und heute – bin ich auf dem Sonnenstrahlolymp der Erkenntnis angekommen und habe alles, was meine Seele mir sagt, in mein Leben gelassen. Mit ü/50 wurde es auch Zeit…. Danke von Herzen für Deine immer wieder inspirierenden Zeilen und Deine Weisheit, liebe Laya, von der ich überzeugt bin, sie wurde in Deine Seele gelegt – quasi als Berufung…. Liebste Grüsse, Beatrice

    • Ooooh, vielen Dank für deine Worte, sie singen in meinem Herzen, liebe Beatrice! Wie wunderschön, dass du diesen Weg gegangen bist, durch dunkle Täler und tränenreiche Nächte hindurch … und schließlich zur Ganzheit deines Seins gefunden hast!
      Und ja – ich denke, Menschen mit Worten zu berühren ist Teil meiner Berufung … manchmal weiß ich gar nicht so genau, woher sie kommen 😉
      Liebste Grüße
      Laya

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