Früher habe ich mich für meinen Körper geschämt.
Kaum hatte ich diese Scham überwunden, begann ich, mich dafür zu schämen, dass ich keine Immobilie besaß. Und dafür, dass ich trotz all meiner erfolgreich abgeschlossenen Studien und Ausbildungen deutlich weniger verdiente als mein Mann und mein Bruder.
Irgendwann wurde mir klar: Wenn ich die Scham nicht an der Wurzel er-löse, wird mein System immer wieder etwas finden, wofür es sich schämen kann, egal, wie perfekt mein Leben auch ist.
„Wenn wir uns schämen, stellen wir uns als Person, also unser Recht auf Dasein, komplett in Frage.“
-Laurence Heller & Angelika Doerne
Was hat Scham mit Pilzen gemeinsam?
Der Pilz, der an der Erdoberfläche wächst, ist nur die FRUCHT – so wie der Apfel am Baum. Die eigentliche Pflanze – das Myzel – ist ein unterirdisches Geflecht, das sich über mehrere Quadratkilometer (!) erstrecken kann. Egal, wie viele Pilze du ausreißt – es werden immer wieder neue wachsen.
Mit der Scham ist es ganz ähnlich.
Angenommen, du leidest unter mangelndem Selbstwertgefühl in deinen Beziehungen. Das zeigt sich vielleicht beim Dating oder in der Beziehung zu deinem Partner, von dem du dir viel zu viel gefallen lässt.
Du arbeitest an diesem Thema, und es wird auch wirklich besser – aber plötzlich taucht ein massives Thema an deinem Arbeitsplatz auf: Du hättest gerne bei einem Projekt mitgemacht, wurdest aber „übersehen“, und fühlst dich jetzt massiv zurückgewiesen. Die Emotionen überfluten dich, und du fühlst dich wertlos und missachtet.
So kann es immer weiter gehen – bis wir schlussendlich realisieren, dass es die SCHAM war, die all diesen Themen zugrunde lag.
„Scham (…) lässt sich nicht ausgleichen: weil Scham sich nicht nur auf unser Handeln, sondern auf uns als gesamte Person bezieht.“
– Laurence Heller & Angelika Doerne
Scham lässt sich nicht durch Leistung oder Perfektion kompensieren. Selbst wenn wir irgendwann den Traum-Körper haben sollten, im Beruf Großartiges leisten und einen Lebensstil pflegen, um den andere uns beneiden – wenn wir von Scham erfüllt sind, wird unser Leben ein mühsamer Kampf bleiben. Wir werden nicht ruhen und nicht rasten, wir werden keine klaren Grenzen setzen, wir werden nicht einfordern, was uns zusteht, wir werden keinen Spaß haben, uns niemals frei und unbekümmert ausdrücken, oder Erfüllung in unserer Arbeit finden. Wir werden niemals unsere eigene, tiefste Wahrheit leben – weder in unseren Beziehungen, in unserer Sexualität oder anderswo -, und uns nie durch und durch lebendig fühlen.
Egal, ob uns die Scham bewusst ist, oder nicht – sie beeinflusst sämtliche Bereiche unseres Lebens und raubt uns unsere Lebenskraft.
Was ist toxische Scham?
Die meisten Psycholog*innen gehen davon aus, dass es auch so etwas wie ein „gesundes“ Schamgefühl gibt. Es ist anlassbezogen und hatte evolutionär vermutlich den Sinn, Verhaltensweisen zu vermeiden, die zu einem Ausschluss aus der Gruppe geführt hätten – und damit zum fast sicheren Tod.
Toxische Scham hingegen ist ein Grundgefühl, das die gesamte Persönlichkeit durchdringt – obwohl das den meisten Betroffenen überhaupt nicht bewusst ist. Sogar bei höchst erfolgreichen und selbstsicher auftretenden Menschen kann Scham tief im Inneren eingenistet sein. Diese Scham bezieht sich nicht auf bestimmte Verhaltensweisen oder Gefühle, sondern auf unser Selbst als Ganzes. Wir haben das furchtbare, unterschwellige Gefühl, dass wir so, wie wir sind, nicht richtig sind. Dass mit uns etwas nicht stimmt. Dass wir ein „Mangelexemplar“ sind. Wir erleben uns als unwürdig und minderwertig.
Oft steht toxische Scham im Zusammenhang mit kindlichen Trauma-Erlebnissen. Aber nicht immer müssen derart schwerwiegende Erfahrungen die Ursache sein.
Besonders bei feinfühligen Menschen genügen schon unterschwellige Beschämungen durch ältere Geschwister oder im Sport-Unterricht, um sich selbst, ihren Wert und ihre Daseins-Berechtigung grundsätzlich infrage zu stellen.
Wie gesagt: Der Großteil dieser Mechanismen spielt sich im Unbewussten ab. Nur ihre Auswirkungen sind im Außen zu sehen. Oft führen sie auch zu höchst schädlichen Bewältigungsstrategien wie Suchtverhalten oder Selbstsabotage.
„Scham ist eine sehr mächtige Emotion. Wahrscheinlich ist sie in vielerlei Hinsicht die mächtigste Emotion, weil sie sich auf leise Weise anschleicht und von innen heraus die Kontrolle über den Organismus einer Person übernimmt.“
– Peter Levine
Was Scham bewirkt
Scham hat viele Gesichter. Sie trägt unterschiedlichste Masken. Und da Scham ein so schwer erträgliches Gefühl ist, ist es auch so schwierig, zu ihr als Kern und Wurzel unserer anderen Themen vorzudringen – denn dann müssten wir sie FÜHLEN.
Scham zeigt sich unter anderem
- durch scharfe Selbstkritik und Selbstverurteilung
- durch People Pleasing
- in Form von Perfektionismus und enormer Leistungsbereitschaft
- durch Selbstzweifel, Grübelspiralen, Harmoniesucht und Entscheidungsschwäche
- durch die Tendenz zu Misstrauen, Rückzug, Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten oder passiver Aggression
- in der Schwierigkeit, klare Grenzen zu setzen
- durch Gefühle von Leere, Schwere, Isolation oder Sinnlosigkeit
- in Form unterschiedlichster körperlicher Symptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Erschöpfung, Unruhe, Nervosität, Ängste, Schmerzen, Herz-Kreislauf-Probleme, …
Vor allem aber führt Scham dazu, dass wir „das Leben vermeiden“ – aus Angst vor weiteren Scham-Erfahrungen.
Und so vermeiden wir letztendlich uns selbst.
„Das Problem mit der Scham ist, dass sie dazu führt, dass du alles vermeidest (…) Wenn du tiefe Scham verspürst, vermeidest du dich selbst. Es ist wirklich schwierig, irgendetwas zu verbessern, wenn du an grundlegender Scham leidest.“
– Marsha Linehan
Hinzu kommt der klassische „zweite Pfeil“: Wir schämen uns für die Scham und für ihre Auswirkungen. Wir schämen uns dafür, dass wir noch nicht „weiter“ oder „besser“ sind und unsere Themen und Blockaden noch immer nicht aufgelöst haben.
Ein Teufelskreis.
„Giftige Scham und Schuld sind das zentrale Kernhindernis für persönliche Entwicklung und Wachstum. Der schamhafte Eindruck, dass mit uns etwas grundsätzlich nicht stimme, ist das wesentliche Hindernis für alle echten persönlichen wie auch spirituellen Wachstumsprozesse.“
– Laurence Heller & Angelika Doerne
Buchtipps und Ressourcen: