„Dann habe ich dieses Geräusch gehört, diese urtümlichen Schreie“, erzähle ich meinen Freundinnen. „Und plötzlich wurde mir klar, dass es Wildgänse waren, die sich für ihre lange Reise in den Süden versammelt haben; ich bin hinausgelaufen und habe beobachtet, wie sie sich formieren. Und das hat mich so unendlich glücklich gemacht!“
Es ist Ende 2020. Ich habe ein großes und wichtiges Kapitel meines Lebens abgeschlossen, meine ewige Rastlosigkeit scheint sich gelegt zu haben, mein Leben zur Ruhe gekommen zu sein – auf einem sehr hohen Niveau. Ich bin jeden Tag aufs Neue überglücklich mit dem Partner an meiner Seite. Mein Sohn ist erwachsen und entwickelt sich prächtig, mein Beruf erfüllt mich zutiefst, ich liebe meine Freundinnen und Freunde, ich bin fit und gesund und erfreue mich an den alltäglichen Geschenken des Lebens; an der Wolkenformation, die sich am Himmel zeigt, am Gezwitscher der Vögel im Garten, am beiläufigen Lächeln, das ich mit den Menschen auf der Straße tausche – und an den Flugformationen der Wildgänse.
Meine beiden Freundinnen blicken mich leicht ungläubig an. Sie kennen mich – und meinen Drang, ständig etwas zu kreieren, Neues zu wagen, meine alte Haut abzustreifen und mir neue Flügel wachsen zu lassen.
Wenn ich mich nicht irre, steht in ihre Gesichter geschrieben: „Na, mal sehen, wie lang dieser Frieden anhält.“
Und natürlich haben sie recht!
Es dauert nicht lange und dieses harmonische und ohne große emotionale Wellen vor sich hin glimmernde Glück weicht einer neuerlichen Unzufriedenheit. Einer Zerrissenheit, die ich nur allzu gut kenne. Dem Gefühl, dass zwar alles gut ist, wie es ist – aber dass irgendwo da draußen (oder da drinnen) noch etwas anderes darauf wartet, von mir entdeckt, erfahren, erobert, poliert, veredelt und integriert zu werden.
Gerade noch habe ich mich herrlich angekommen gefühlt – und schon macht sich wieder Unruhe breit, schon klopft wieder etwas am Tor meiner Seele an, schon steigt wieder das vage Gefühl in mir auf, ich müsse aufbrechen, hinaus in die Welt, und nach etwas suchen, von dem ich gar nicht wissen kann, dass es existiert.
Aber warum bloß? Warum ist Zufriedenheit kein anhaltender Zustand, der bis ans Ende unserer Tage anhält? Warum können wir nicht einfach Ruhe geben, wo wir doch bereits einen so hohen Level an Komfort, und vielleicht sogar an Erfüllung und Glück erreicht haben?
Und SOLLEN wir das überhaupt? Ist Zufriedenheit besser als Zerrissenheit – oder doch nicht?
Die Antwort besteht aus drei Silben:
Do-pa-min.
Dopamin – Das Molekül des „Mehr“
Ob wir es wissen oder nicht – wir lieben Dopamin. Wir wollen mehr davon, immer mehr – denn Dopamin bewirkt, dass wir uns so richtig, richtig gut fühlen. Neben Oxytocin, Serotonin und Endorphinen ist es einer jener Botenstoffe im Gehirn, von denen wir nicht genug bekommen können.
Money, social status, plastic surgery, beautiful houses, powerful positions – none of these will bring you happiness. Lasting happiness comes only from serotonin, dopamine and oxytocin.
Geld, sozialer Status, Schönheitsoperationen, schöne Häuser, Machtpositionen – nichts davon wird dir Glück bringen. Nachhaltiges Glück kommt nur von Serotonin, Dopamin und Oxytocin.
~ Yuval Noah Harari
Dopamin hat dazu geführt, dass unsere Vorfahren in grauer Zeit sich nicht mit kalter, roher Nahrung zufrieden gegeben haben, sondern Geräte erfunden haben, mit denen sie Feuer machen konnten, und immer ausgeklügeltere Waffen, um ihre Beute zu erlegen.
Dopamin hat dazu geführt, dass Thomas Edison die Glühbirne erfunden hat; dazu, dass die Gebrüder Wright bewiesen haben, dass Menschen DOCH fliegen können, und dazu, dass Menschen auf dem Mond gelandet sind.
Und Dopamin führt dazu, dass DU nicht den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt und Pralinen isst, sondern Dinge tust, die ANSTRENGEND für dich sind. Dinge, die dich FORDERN. Dinge, die durchaus UNGEMÜTLICH sein können.
Zum Beispiel, dass du dein Fitness-Training absolvierst, obwohl du eigentlich keine Lust darauf hast. Dass du dich für ein Date verabredest, obwohl dich das ganz schön nervös macht und du Angst vor einer Enttäuschung hast. Dass du dich für ein Seminar anmeldest, obwohl die Anreise zum Seminarort umständlich ist und du dich in neuen Gruppen unwohl fühlst. Oder dass du dich selbstständig machst, obwohl du eine Heidenangst davor hast.
Und was haben all diese Dinge gemeinsam?
Ganz klar: Du versprichst dir etwas von ihnen. Eine bessere Zukunft, ein besseres Leben – egal wie gut dein Leben bereits ist.
Dopamin wird ausgeschüttet, wenn du dir VORSTELLST, was du erreichen könntest, wie du dich fühlen wirst, wenn du dein Ziel erreichst, wenn du die Belohnung für deine Anstrengung endlich bekommst.
Und das motiviert dich. Es bringt dich in die Gänge. Es gibt dir die Bereitschaft, Energie und Zeit zu investieren und dich so richtig ins Zeug zu legen.
Aber vielleicht hast du das auch schon mal erlebt: WENN du das Ziel dann tatsächlich erreichst, ist es innerhalb kürzester Zeit vorbei mit den Glücksgefühlen. Irgendwie fällst du in ein Loch, bist ernüchtert, oder empfindest sogar den berühmten Zielschmerz. So sehr hattest du dich darauf gefreut, die Ziellinie zu überqueren … aber dann fühlst du dich irgendwie leer, und der Erfolg schmeckt schal.
Kein Wunder, zumindest aus Sicht deiner Gehirnchemie! Dein Dopamin-Spiegel fällt förmlich ins Bodenlose, wenn du dein Ziel erreichst. Und du brauchst neue Ziele, und die Vorstellung davon, wie glücklich es dich machen wird, sie zu erreichen, um den Dopamin-Kreislauf in deinem Gehirn wieder anzukurbeln.
WENN DU EIN ZIEL ERREICHST, FÄLLT DEIN DOPAMIN-SPIEGEL INS BODENLOSE.
DESHALB BRAUCHST DU IMMER NEUE ZIELE, UM DICH GUT ZU FÜHLEN.
Es ist Zeit für ein Gehirn 2.0!
Wenn auch du dich also immer wieder mal rastlos fühlst, suchend, getrieben, unzufrieden, … dann herzlichen Glückwunsch! Mit dir und deiner Gehirnchemie ist alles in bester Ordnung, denn genau diese Rastlosigkeit hat dazu geführt, dass deine Vorfahren nicht nur überlebt, sondern dich als glorreichen Menschen des 21. Jahrhunderts hervorgebracht haben.
Wir haben im Prinzip noch immer dasselbe Gehirn wie die Jägerinnen und Sammlerinnen der grauen Vorzeit – allerdings leben wir in völlig anderen Zeiten, und das, was unseren Ahninnen das Überleben gesichert wird, kann heute dazu führen, dass wir uns selbst sabotieren.
Dopamin hat dazu geführt, dass die Menschen damals die Sicherheit ihrer Höhlen verließen und nach neuen Möglichkeiten Ausschau hielten – selbst wenn sie ausnahmsweise mal satt waren.
Sie legten kilometerweite Fußmärsche zurück, um sich an ein paar reifen Beeren zu laben. Sie suchten stundenlang nach Steinen, Holz und Gräsern, um neue Pfeile und Bögen zu bauen.
Wir hingegen brauchen nur in den Supermarkt ums Eck zu gehen, um eine Packung Kekse zu kaufen und damit ein Hundertfaches an Zucker zu uns zu nehmen wie sie. Wir können 24/7 auf „Jetzt kaufen“ klicken, und zwei Tage später wird uns das amazon-Päckchen mit den schicken neuen Stiefeln (oder mit dem Stapel neuer Bücher) an die Tür geliefert.
Das bedeutet: Unser Dopamin-Level schlägt viel höher und schneller aus als der unserer Ahninnen. Wir sind ständig high oder auf Entzug, und wir sind süchtig nach der blitzschnellen Befriedigung unserer (scheinbaren) Wünsche, statt geduldig auf langfristige Ziele hinzuarbeiten, die uns WIRKLICH glücklich machen.
Genau deshalb brauchen wir Mind Management. Genau deshalb ist es an uns, ein Gehirn 2.0 zu entwickeln. Genau deshalb müssen wir lernen, unseren Dopamin-Zyklus bewusst zu steuern und für unsere langfristigen Ziele zu nutzen.
Zufrieden sein UND Ziele erreichen – so geht’s:
ERSTENS: STEIG AUS DEM DOPAMIN-RAUSCH AUS
Wann immer du dieses aufgeregte Kribbeln spürst, dieses Gefühl: „Wenn ich DAS erst mal habe, DANN wird mein Leben perfekt sein!“ – halte inne. Reagiere nicht sofort.
Egal ob es der zuckersüße Donut ist, der dich verführen will, das „7 Schritte zum Glück“ Buch, das dir ewige Glückseligkeit verspricht, das nächste Profil auf der Dating-App oder der siebzehnte Online-Kurs – halte inne und unterscheide:
Handelt es sich nur um das „next shiny object“? Oder ist das, was diese vorfreudige Knistern getriggert hat, im Einklang mit deinen langfristigen Zielen?
Nur so kannst du verhindern, dass du im Autopilot-Modus von einem Dopamin-Rausch zum nächsten rast, ohne jemals festgestellt zu haben, ob du überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hast.
Discipline is choosing between what you want now and what you want most.
Disziplin bedeutet zu wählen zwischen dem, was du im Moment willst und dem, wonach du dich wirklich sehnst.
~ Abraham Lincoln
ZWEITENS: NUTZE DEN DOPAMIN-ZYKLUS, UM LANGFRISTIGE ZIELE ZU ERREICHEN
Die Belohnung, die uns beim Erreichen langfristiger Ziele winkt, ist oft zu weit weg, als dass sie zu nennenswerten Dopamin-Ausschüttungen führen würde – vor allem dann, wenn nach der Anfangs-Euphorie die Mühen der Ebene auf uns warten.
Deshalb: Unterteile den Weg zum Ziel in viele kleine Schritte, und überleg dir für jeden von ihnen eine Belohnung!
Es hilft allein schon, eine schöne Checkliste zu kreieren und einzelne Projektschritte abhaken zu können. Oder du schenkst dir nach einem Meilenstein ein Wellness-Wochenende, neue Ohrringe oder einfach einen Nachmittag mit Kaffee und Kuchen auf dem Sofa.
So regst du immer wieder deine Dopamin-Ausschüttung an und bleibst dran an den Dingen, die dein Leben auf lange Sicht gesünder, glücklicher und erfüllter machen.
DRITTENS: KULTIVIERE ZUFRIEDENHEIT
Die Antriebskraft des Dopamin braucht einen starken Gegenspieler – denn sie ist immer auf die Zukunft ausgerichtet, gespeist von der Idee, dass wir uns besser fühlen würden, wenn nur erst Dieses oder Jenes eingetreten ist.
Um die Gegenwart würdigen und genießen zu können, müssen wir uns immer wieder bewusst in ihr verankern.
Wir können Dankbarkeit praktizieren, Zufriedenheit kultivieren.
Uns immer wieder bewusst machen, dass alles bereits wunderbar ist, so wie es ist. Wir können einen „Spaziergang des Staunens“ unternehmen – eine besonders wirkungsvolle Übung aus der Positiven Psychologie. Wir können uns in Präsenz üben, wenn wir mit den Menschen zusammen sind, die unser Leben bereits bereichern. Wir können uns unserem Körper und unserem Atem zuwenden – denn sie sind immer im gegenwärtigen Augenblick verwurzelt.
So balancieren wir die vorwärtsdrängende Kraft des Dopamin aus.
Rastlosigkeit und Zufriedenheit müssen keine unvereinbaren Gegensätze sein – im Gegenteil, sie können anmutig und dynamisch miteinander tanzen.
Ist es nicht eine geniale Zeit, in der wir leben? Eine Zeit, in der wir die bahnbrechenden Erkenntnisse der Hirnforschung nutzen, um uns all die unbewusst in uns ablaufenden Vorgänge bewusst zu machen und zu unserem Gunsten zu steuern.
Na, was meinst du – machst du mit?