Stell dir vor, jemand würde dir ein garantiert nebenwirkungsfreies und rein pflanzliches Präparat geben, das dafür sorgt, dass du seltener krank wirst und dein Immunsystem besser funktioniert.
Ein Präparat, das deinen Stresslevel deutlich senkt, deine Angst reduziert, dich dankbarer macht und gegen Depressionen hilft. Das bewirkt, dass du schneller lernst und dich besser konzentrieren kannst. Und das dir hilft, deine Beziehungen erfüllender und beglückender zu gestalten.
Würdest du dann sagen: Nein danke, brauche ich nicht?
Wie ich dich kenne: Nein 🙂
Wahrscheinlich würdest du diesem Wundermittel zumindest eine Chance geben.
Dieses „Präparat“ gibt es.
Es ist das Schreiben.
Es ist Journaling.
Seine positiven Wirkungen sind wissenschaftlich erwiesen, und die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Aber wieso, oh Göttin, schreiben dann so wenige Menschen regelmäßig?
Wieso greifen sie nicht zu Stift und Notizbuch, wenn es ihnen nicht gut geht, wenn sie sich überfordert fühlen, wenn sie konfus und verwirrt sind oder sich in Beziehungs-Dramen verrennen?
Warum bringen sie ihre Ziele nicht zu Papier, obwohl das erwiesenermaßen ihre Erfolgschancen um ein Vielfaches nach oben schnellen lässt?
{Das besagt zumindest die berühmte Harvard-Studie; wie so oft gibt es auch Studien, die Zweifel an diesem Ergebnis aufkommen lassen. Hach. MUSS das Leben immer so schattiert sein? Kann nicht einfach mal irgendetwas Weiß sein, ohne schwarzen Punkt darin?}
Wieso nutzen sie das Schreiben nicht für ihre bewusste Selbst-Entwicklung und um ihre Gesundheit zu fördern, obwohl es – im Gegensatz zu Coachings und Therapien, Nahrungsergänzungsmitteln und einer Studio-Mitgliedschaft – praktisch nichts kostet?
{Versteh mich nicht falsch: Ich lasse mich sehr oft coachen. Ich gehe auch zur Therapie, ich habe eine Studio-Mitgliedschaft und ich nehme Nahrungsergänzungsmittel. Es ist kein Entweder-Oder. Aber ich habe keine Ahnung, wie andere Menschen überleben, Krisen meistern oder ihre Ziele erreichen, ohne regelmäßig zu schreiben 😉 }
Also Göttin, warum???
Ah, ich verstehe – es liegt an den weit verbreiteten Irrtümern über Journaling und Schreiben, und ich soll dazu beitragen, endlich mit ihnen aufzuräumen.
Das mach ich doch glatt.
Also – hier sind sie, die sieben größten Irrtümer über Journaling und Schreiben. Und natürlich auch jede Menge Tipps für dich, damit du lustvoll in den Schreib-Flow findest, statt dich mit Irrtümern aufzuhalten!
Irrtum #1: Ich muss schreiben „können“, um zu schreiben
Nein, musst du nicht. Es sei denn, du willst einen Roman schreiben oder ein Fachbuch – dann können ein wenig Handwerkszeug und Know-How nicht schaden.
Um die Magie und die heilsame Wirkung des Schreibens zu erleben, musst du hingegen nichts weiter „können“, als einen Stift in der Hand zu halten. Du musst nicht wissen, wo man Beistriche setzt, du musst nicht wissen, was man groß und was klein schreibst, du darfst halbe und dreiviertel Sätze schreiben oder solche, die über sieben Seiten gehen. Du darfst kritzeln und zeichnen statt Buchstaben aufs Papier zu bringen, und du darfst so viele Wortwiederholungen einbauen, wie es dir lustig ist.
„Aber ich weiß nicht, ob ich das kann! In der Schule war ich XYZ, und meine Deutschlehrerin hat ZYX zu mir gesagt, und seither fühle ich mich irgendwie XYZYX …“
Du ahnst nicht, wie oft ich solche Geschichten von Menschen gehört habe, die ewig ums Schreiben herumgeschlichen sind – bis sie schließlich bei ihrem ersten Schreibworkshop gelandet sind, all die X, Y und Z losgelassen und einfach zu schreiben begonnen haben. Und siehe da: Die Worte sind nur so aus ihnen herausgesprudelt!
Es gibt nichts zu können. Es gibt nur ein Zuhören, ein Lauschen. Ein dich selbst erfahren und ein dich selbst ein Stück besser verstehen. Und wenn du magst, auch ein dich selbst bewusst entwickeln.
Tipp:
Falls dein innerer Zensor dich beim Schreiben blockiert, dann schreib doch mal einen Dialog mit ihm! Schreib einen Dialog mit jener inneren Stimme, die meint, du müsstest makellos sein und alles fehlerlos machen und überhaupt ganz viel KÖNNEN, um wertvoll zu sein.
Irrtum #2: Ich muss vorher schon wissen, worüber ich schreiben werde
Kontrollitis-Alarm!
Manche Menschen glauben, sie müssten den Inhalt schon kennen, bevor sie zu schreiben beginnen.
Aber die Magie des Schreibens liegt genau im Gegenteil: In der Überraschung. Im Nicht-Kontrollieren-Wollen. Darin, einfach anzufangen und uns dann vom Schreib-Flow tragen zu lassen. Wohin, das überlassen wir ihm. Oder einer höheren Intelligenz – wie du willst.
DIE MAGIE DES SCHREIBENS LIEGT IN DER ÜBERRASCHUNG. IM NICHT-KONTROLLIEREN-WOLLEN. DARIN, EINFACH ANZUFANGEN UND UNS VOM SCHREIB-FLOW tRAGEN ZU LASSEN.
Genau dieses Loslassen ermöglicht uns, die Botschaften unserer Seele zu empfangen, sie aus unseren eigenen Worten herauszulesen.
Tipp:
Setz einfach den Stift aufs Papier und schreib den ersten Gedanken auf, der in deinem Geist erscheint.
Alternativ kannst du dir auch ein paar Standard-Einstiegshilfen zurechtlegen – zum Beispiel:
„Ich bin …“ oder
„Heute habe ich …“ oder
„Ich weiß jetzt, dass …“.
Aber denk daran: Es gibt KEINE Themenverfehlung! Eine Einstiegshilfe ist eine Einstiegshilfe, kein Titel, kein Motto und kein Ziel.
Irrtum #3: Ich muss etwas Großartiges / Geistreiches / Tiefschürfendes schreiben
Ich schreibe viel. Ich schreibe sehr viel Langweiliges, Triviales, Oberflächliches. Und hin und wieder ist auch etwas Brillantes dabei, ein echtes Goldnugget, ein WOW-Wort oder ein Biiistdudeppertistdasgenial-Satz.
Aber es ist nicht so, dass die seltenen WOWs und AHAs wertvoller wären als die Tausenden mittelmäßigen oder nichtssagenden Worte, die meine Journale füllen.
Erstens geht es, wie Julia Cameron, die Queen der Morgenseiten betont, unter anderem darum, dass wir regelmäßig unser übereifriges Köpfchen von all dem Gedankenmüll befreien, den es tagaus, tagein produziert.
Und zweitens ermöglicht genau dieses Befreien uns, die Goldnuggets zu finden, die in all dem Müll vergraben sind.
Es ist wie mit der Meditation. Ich meditiere und meditiere; tage- oder wochenlang bin ich hauptsächlich abgelenkt, unfokussiert und alles andere als von Glückseligkeit durchströmt. Trotzdem fühle ich mich nach jeder Meditation besser, gelassener, friedlicher und zuversichtlicher als davor.
Und genau dieses hartnäckige Praktizieren ermöglicht die seltenen Momente von vollkommenem Eins-Sein, Auflösung, Stille, … you name it.
Nochmal: Es geht nicht um Ausnahme-Erfahrungen. Es gibt sie, und sie sind ein Geschenk – aber sie sind nicht das Ziel.
Worum es geht ist die Praxis. Die Praxis, der wir uns hingeben, ohne auf das Ergebnis zu schielen.
Tipp:
Schreib einfach. Liebe dich dafür, dass du es tust, und liebe auch all das herrlich unspektakulär Menschliche, das deine Seiten füllt. Schreiben entfaltet dich und dein Potenzial. Manchmal im Erhabenen, manchmal im Belanglosen. So wie das Leben eben.
Irrtum #4: Beim Schreiben geht es darum, Antworten zu finden
Natürlich stellen wir uns oft Fragen und schreiben Antworten herbei. Das klappt ganz wunderbar.
Manchmal aber ist das Schreiben wie ein sanfter Freund, der uns – frei nach Rilke – lehrt, die Fragen selbst liebzuhaben.
„Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“
~ R. M. Rilke
Wäre es dem Mysterium des Lebens wirklich angemessen, würden wir auf jede Frage sofort eine Antwort finden? Und wirft nicht jede Antwort hundert neue Fragen auf?
Tipp: Hab Geduld. Schreiben klärt und beruhigt, es ermutigt und nährt. Je mehr Zeit du in diesem ruhigen, geklärten Zustand verbringst, desto eher werden dir die Antworten zufliegen – ob beim Schreiben oder beim Spazieren, beim Gemüse-Schnippeln oder unter der Dusche.
Irrtum #5: Ich schreibe vor allem, um meine Gefühle auszudrücken
In den 1980er Jahren fand James W. Pennebaker heraus, dass es einen erstaunlich positiven Einfluss auf die körperliche und mentale Gesundheit hat, über emotional belastende oder traumatische Erfahrungen zu schreiben. Seither sind hunderte Studien über dieses „expressive writing“ erschienen. Die meisten von ihnen haben bestätigt, dass es jede Menge wundersame Wirkungen hat, Gefühle aufs Papier fließen zu lassen, von schnellerer Wundheilung über die Linderung chronischer Krankheiten bis hin zu mehr Erfolg bei der Jobsuche.
Dann aber wurde unter Wissenschaftler*innen der Ruf laut, über das expressive Schreiben hinauszugehen – denn Schreiben ist um so viel mehr als ein Ventil oder ein Regulativ für intensive Gefühle!
Expressives Schreiben kann ein perfekter Einstieg sein, um Dampf abzulassen, Raum zu schaffen, uns auszudrücken und vieles mehr. Aber es warten noch viel größere Schätze darauf, schreibend von uns entdeckt zu werden – das zeigen aktuelle Studien über „positive writing“, also die Verbindung von Positiver Psychologie und neuesten Erkenntnissen aus der Gehirnforschung mit Schreiben und Journaling.
Selbstausdruck und Selbsterkenntnis ist das eine. Bewusste Selbst-Entwicklung und Persönlichkeitsentfaltung geht darüber hinaus. Schreiben ermöglicht dir all das – und noch vieles mehr.
Tipp: Schreib einen Dankbarkeitsbrief an jemanden, für dessen Präsenz in deinem Leben du dankbar bist. Schreib regelmäßig deine BIG 4. Oder schreib über dein Best Possible Self!
Irrtum #6: Mit dem Geschriebenen muss ich irgendetwas TUN
„Und was tue ich mit all den vollgeschriebenen Tagebüchern, Notizbüchern, Journals, …?“
Diese Frage wird mir bei Seminaren und Retreats oft gestellt.
Meistens antworte ich mit: „Du MUSST gar nichts und du DARFST alles damit tun.“
Es ist kein Sakrileg, all die vollgeschriebenen Seiten im Altpapier oder im Kaminfeuer zu entsorgen, wenn dir danach ist.
Andere wiederum heben ihre Tagebücher ein Leben lang auf und lesen immer wieder darin.
Ich persönlich finde es schön, in meinem Leben „zurückblättern“ zu können und darüber zu staunen, wer ich früher war und wie viel ich damals schon gewusst oder vorausgeahnt habe.
Aber Schreiben wirkt auch, wenn du mit dem Geschriebenen GAR NICHTS tust, es nie wieder hervorkramst und liest.
Tipp: Befrei dich vom „Müssen“. Finde heraus, was DU liebst und genießt! Manchen Menschen sind ihre Journals heilig, anderen nicht. Und dir? Das kannst nur du wissen. DU bist die Expertin für dich und dein Leben!
Irrtum # 7: Jeder schreibt für sich
„Jede und jeder von uns ist in seinem tiefsten Inneren angeschlossen an jenen unnennbaren Ozean aller Möglichkeiten, an das, aus dem alles hervorgeht, jede Kreatur, das unendliche Universum, das Kunstwerk Mensch, jedes Gräslein. In jedem und jeder von uns ist auch das Universell-Schöpferische.“
~ Anna Platsch
Da das Schreiben uns Zugang zu diesem Ozean an Möglichkeiten verschafft, ermöglicht es uns auch, uns mit all den Menschen zu verbinden, die aus ihm trinken, Kraft und Kreativität schöpfen.
Wie oft habe ich das erlebt: Ich poste einen Text auf facebook, und gleichzeitig schreiben drei andere über genau dasselbe Thema. Ich schreibe hier im Blog und bekomme jede Menge Emails von Leserinnen, die das Gefühl haben, ich würde nur für sie schreiben. Oder die Teilnehmerinnen meiner Seminare berühren einander mit ihren Texten, und ein gemeinsames Thema schwebt im Raum, ohne dass es geplant gewesen wäre.
Vielleicht ist es so, dass Schreiben uns mit diesem Etwas verbindet, in dem wir alle gegründet sind. Indem wir schreiben, verbinden wir uns nicht nur mit diesem Etwas, sondern auch miteinander.