Die innere Familie

Als mein Sohn noch ganz klein war, besuchten wir manchmal meine Freundin S. in Wien. Hin und wieder kam sie auch zu uns, oder wir fuhren gemeinsam nach Kärnten oder Italien. S. hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine eigenen Kinder. 

Meine Freundin S. war ein Segen für meinen Sohn. Noch heute nennen wir sie „die verrückte Tante“. Ich habe ein eigenes Fotoalbum, in dem ich Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse aufbewahre wie einen großen Schatz. Fast auf jedem Foto treiben die verrückte Tante und mein süßer Zwerg irgendeine Form von Unfug. Die Plüsch-Eule, die sie ihm geschenkt hat, als wir einmal eine Raubvogel-Show besuchten, heißt „weißer Schatten“.  Wir halten sie noch heute in Ehren.

Die verrückte Tante  gab meinem Söhnchen etwas, das ich ihm nicht geben hätte können. 

Ich war verkrampft. Wollte alles richtig machen. Steckte bis über beide Ohren voller Schuldgefühle, weil mein Sohn praktisch ohne Vater aufwuchs.  Die rigiden pädagogischen Konzepte in meinem Kopf machten mich zur Spaßbremse – ebenso wie meine Erschöpfung. 

Wenn ich an die verrückte Tante denke, wenn in meiner Erinnerung ihr Lachen im Duett mit dem glockenhellen Glucksen meines Sohnes widerhallt, verstehe ich auf  ganz tiefer Ebene, was gemeint ist, wenn es heißt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen.“

Reparenting: Es ist nie zu spät!

Als Single Mom begann ich mich – aus großer seelischer Not heraus – mit Selbstfürsorge zu beschäftigen. Als ich zum ersten Mal den Begriff „Reparenting“ (*) hörte, nahm ich sofort ein tiefes Aufatmen in mir wahr.  „Nachnähren“ – das klang so wunderbar wohlig in meinen Ohren. Es klang machbar! Und: Es machte mich unabhängig von jenen Menschen, von denen ich bis dahin verzweifelt versucht hatte, zu bekommen, wonach ich mich sehnte – ohne Erfolg. 

Vielleicht können wir nicht alles nachholen, was wir in der Kindheit gebraucht hätten und nicht bekommen haben. Vielleicht wird von der „Mutter-Wunde“ immer eine Narbe bleiben, die von Zeit zu Zeit Fürsorge und Aufmerksamkeit benötigt. Vielleicht können wir die  Lücke nie ganz füllen, die die Dinge, die wir als Kinder schmerzlich vermisst haben, in unserem Herzen hinterlassen haben. 

Aber heilsame Prozesse SIND  möglich. Wir KÖNNEN unserem inneren Kind geben, was es braucht.  Manchmal brauchen wir auch andere Menschen dafür – so lange, bis wir eine „innere Familie“, ein „inneres Dorf“ etabliert haben.  

(*) Der Begriff „Reparenting“ stammt ursprünglich aus der Psychotherapie. Der/die Therapeut*in kann so lange (eine der therapeutischen Beziehung angemessene) elterliche Fürsorge gewähren, bis der/die Patient*in in der Lage ist, sich diese selbst zu geben. Aber auch wir selbst können uns nachnähren – ebenso wie Partner*innen, Freund*innen, Coaches und Mentor*innen, Lehrer*innen, etc. 

Das innere Kind braucht mehr als Trost

Ebenso, wie meine Idee von Selbstfürsorge früher relativ eindimensional war, war euch meine Vorstellung davon, was meine süße Kleine braucht, einseitig. 

Ich dachte, es ging vor allem um Trost in schwierigen Situationen, um In-den-Arm-nehmen, um Gut-Zureden.

Mittlerweile habe ich mein kleines Mädchen besser kennengelernt und verstanden, dass diese sanfte, tröstende Art der Fürsorge längst nicht das einzige ist, was es braucht.

Gemeinsam mit meiner Freundin und Kollegin Barbara Kast habe ich vier Grundbedürfnisse des inneren Kindes identifiziert: 

Bedürfnis # 1: Trost, Geborgenheit, Wärme, Akzeptanz

Wenn wir etwas erleben, das uns verletzt oder kränkt, wenn wir uns schämen, wenn wir uns ignoriert, unfair behandelt oder verlassen fühlen und von schwierigen Gefühlen überflutet werden, brauchen wir vor allem eines: bedingungslose Zuwendung, Mitgefühl und Trost. Ein offenes Herz, eine warme Umarmung. Geduld. Und bedingungslose Akzeptanz. 

Kein Gefühl ist falsch, alles darf da sein, und egal, ob wir Fehler gemacht haben oder nicht, wir verdienen all unsere Liebe. Oder besser: Wir müssen sie uns nicht verdienen, sie ist einfach DA – unverbrüchlich.

Bedürfnis # 2: Schutz und Sicherheit 

Manchmal fühlen wir uns schutzlos, hilflos ausgeliefert. Wir haben nicht genug Kraft, um uns selbst zu schützen, fühlen uns ausgesetzt, angreifbar, verletzlich. 

Dann brauchen wir – bildlich gesprochen – starke Arme, die uns umfangen und ein Gefühl absoluter Sicherheit geben. Jemanden, der stabil und kräftig genug ist, um uns den Rücken zu stärken, egal wie heftig uns die Stürme des Lebens um die Ohren blasen. Wir brauchen das Gefühl, schwach sein zu dürfen, und uns fallen lassen zu können, wenn nichts mehr geht, wenn wir zutiefst erschöpft sind, müde bis auf die Knochen, ausgelaugt und kraftlos. Oder wenn wir ängstlich sind, uns unsicher oder einer bestimmten Situation nicht gewachsen fühlen.

Es ist nicht immer einfach, eine starke Erwachsene zu sein, wenn das innere Kind sich gerade klein, schwach und schutzlos fühlt. In manchen Situationen brauchen wir andere Menschen, oder einen „inneren Stellvertreter“, die uns diese Qualität zur Verfügung stellen. 

 

Bedürfnis # 3: Orientierung und Klarheit

Manchmal ist unser inneres Kind einfach verwirrt. Seine Intuition stimmt nicht mit dem überein, was andere ihm erzählen, und das verunsichert es zutiefst. Oder es findet sich einfach nicht mehr zurecht in dieser lauten, komplexen Welt. 

Manchmal gerät unser inneres Kind auch außer Rand und Band. Es ist zornig, wird destruktiv, flippt aus, kann sich nicht mehr regulieren. Es kennt kein Morgen, es kann nicht darüber nachdenken, welche (negativen) Konsequenzen sein Verhalten auf seine Zukunft haben könnte. 

In diesen Situationen braucht unser inneres Kind Klarheit. Eine erwachsene Stimme, die ihm Orientierung gibt und es „einfängt“. Liebevoll natürlich, ohne Vorwurf. Aber, wenn nötig, mit dem erforderlichen Nachdruck. 

Bedürfnis #4: Spiel, Vergnügen, Leichtigkeit und Spaß 

Erst auf meinem großen Trip habe ich verstanden, dass meine  Kleine  nicht nur Sanftheit, Mitgefühl und Klarheit von meinem erwachsenen Ich braucht, sondern auch Lachen, Kichern, Blödeln, und die Erlaubnis für alle Arten kindlichen Vergnügens. Sie hat keine Lust auf Ernsthaftigkeit und Vernunft.  Mein Mädchen will einfach Spaß haben – jeden Tag und jede Menge davon! Wenn diese Art der seelischen Nahrung zu kurz kommt, wird es bockig und maßlos. 

Eindeutig: Mein inneres Kind braucht eine verrückte Tante 😉

Das Schöne ist: ICH SELBST kann diesen Teil meiner „inneren Familie“ kreieren. Auf meinem großen Trip sieht das zum Beispiel so aus, dass ich am Morgen meinem Spiegelbild lustige Grimassen schneide, mit Musik in den Ohren auf der Straße oder an der Busstation tanze, knallbunte Ohrringe und bunten Nagellack trage, alles an süßen und pikanten Leckereien koste, wonach mir gerade ist, und es mit Schlafenszeiten, Workouts und Yoga-Praxis nicht gar so genau nehme.

Je mehr ich meine Süße spielen und unbekümmert die Welt erforschen lasse, desto kooperativer ist sie in Situationen, die nunmal einen gewissen Ernst und ein gesundes Maß an Selbstdisziplin erfordern.

JE MEHR WIR UNSEREM INNEREN KIND DIE ERLAUBNIS zu SPIELEN GEBEN, DESTO KOOPERATIVER WIRD ES IN SITUATIONEN, DIE EIN GEWISSES MASS AN SELBSTDISZIPLIN ERFORDERN.

Souverän und sicher in dieser Welt 

Wenn wir uns in unserer inneren Familie – oder unserem „inneren Dorf“ – sicher und geborgen fühlen, können wir uns weiter hinauswagen. In die Welt, in neue Karrieren und berufliche Herausforderungen, in neue Beziehungen und andere Abenteuer.

Denn dann wissen wir uns gut aufgehoben. Wir wissen, dass wir nie allein sind. Wir wissen, dass unsere Bedürfnisse ernst genommen und erfüllt werden. Wir wissen auch, dass wir souverän genug sind, um uns Unterstützung zu organisieren oder um Hilfe zu bitten, wenn wir mit einer Situation nicht allein zurecht kommen.

Die innere Familie erschafft ein Klima von Wärme und Geborgenheit, Stabilität, Klarheit und Leichtigkeit. Je nachdem, was wir gerade brauchen, können wir den entsprechenden Aspekt in uns aktivieren.

Ist es nicht wundervoll, welche Ressourcen in uns allen stecken? Nicht auszudenken, wie unser aller Miteinander aussehen könnte, hätten alle Menschen Zugang dazu und würden Verantwortung für ihr emotionales Wohlergehen übernehmen …

Übrigens: Beim Workshop „Inneres Kind: Der Schlüssel zu geglückten Beziehungen“ erfährst du noch mehr über die „innere Familie“. Barbara Kast und ich unterstützen dich dabei, liebevollen Kontakt mit deinem inneren Kind aufzunehmen und zu erkennen, was es braucht!  Der Workshop findet am 2. Dezember 2022 statt >> melde dich hier an!

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