Ich stelle mir vor, jemand hält mir eine Pistole an die Schläfe, während ich an meinem Schreibtisch sitze.
Damit ich nicht aufstehe, die Waschmaschine fülle, die Pflanzen gieße oder den Kühlschrank leer esse.
Damit ich tue, wozu ich mich entschlossen habe. Damit ich hier auf meinem Allerwertesten sitzen bleibe, um mir ein englisches Wort, einen möglichst akademisch klingenden Satz, einen einigermaßen schlüssigen Paragraphen nach dem anderen aus den tippenden Fingern zu quälen, während mein armer Kopf ächzt und raucht, während Bücher und Papiere sich auf meinem Schreibtisch stapeln, umgeben von leeren Teetassen und halbvollen Kaffeehäferln.
Der Trick mit der Pistole stammt von Anne Lamott - wenn ich mich richtig erinnere, aus dem wundervollen Buch "Bird by bird".
Jeder der schreibt, weiß, wie schwierig es ist, einen Anfang zu finden, wie schwierig es ist, dranzubleiben, und wie schwierig es ist, nicht ständig aufzuspringen und die absurdesten Dinge zu tun, nur um nicht am Schreibtisch sitzen bleiben zu müssen.
Zu Beginn meines Studiums habe ich mir selbst eine pinke Prinzessinnen-Schultüte geschenkt, mit Student*innenfutter, Energiecrackern und dunkler Schokolade gefüllt, und mit Post-its, bunten Textmarkern und Notizbüchern.
Ich wusste: Es wird Durststrecken geben. Verzweifelte Momente. Augenblicke, in denen ich nicht mehr daran glauben würde, dass ich es schaffen werde, dieses Studium.
Jetzt ist ein solcher Moment. Am liebsten würde ich das Handtuch werfen. Ich will nicht mehr. Und ich kann nicht mehr.
“You must go on.
I can't go on.
I'll go on.”
~ Samuel Beckett
Aber dann ... erinnere ich mich an etwas, das mich schon oft gerettet hat.
Nein, nicht an eine Affirmation. Nein, nicht daran, meinen Rücken aufzurichten, das Brustbein und den Blick zu heben. (Obwohl auch das in solchen Moment helfen kann.)
Sondern daran, mir eine Frage zu stellen.
"Werde ich das schaffen?"
Die Antwort schießt schneller aus mir heraus als die Kugel aus einer Pistole.
Natürlich.
Natürlich werde ich das schaffen, natürlich werde ich die Arbeit fristgerecht einreichen, natürlich werde ich noch diesen Sommer meinen Master in der Tasche haben.
Aber ... wohin ist plötzlich all das "Das schaff ich einfach nicht", "Ich will nicht mehr" und "Die Zeit läuft mir davon" Geschwurbel in meinem Kopf verschwunden?
Ganz einfach.
Diese Frage zu stellen ist wie am Frequenzregler eines guten alten Radio zu drehen. Wie einen anderen Sender zu empfangen. Wir können nicht zwei Radiosender gleichzeitig hören mit nur EINEM Radio - in diesem Fall mit unserem Gehirn. Und das ist ein Riesenglück!
Afformation statt Affirmation
Unser innerer Dialog. Ständig am Schnattern, ohne Unterlass, meistens unbewusst.
Innere Kritiker, Zweifler, Miesmacher, Pessimistinnen, Hektiker, Antreiberinnen, Gefängniswärterinnen - ja, wir kennen sie alle, die Anteile, die diesen Dialog bevölkern.
Die Stimmen, die nichts anderes sind als Sätze in unseren Köpfen.
Daran, dass sie dort oben herumschwirren, können wir nicht viel ändern. Aber wir können andere, neue, hilfreichere Gedanken pflegen, liebevolle, ermutigende, motivierende innere Dialoge führen. Und damit immer öfter und immer selbstverständlicher auf eine andere Frequenz, einen anderen Sender wechseln.
Affirmationen sind dafür ganz wunderbar. (Sie haben allerdings auch Schattenseiten und können mitunter das Gegenteil von dem bewirken, was wir ursprünglich beabsichtigt haben, wenn wir nicht sehr genau wissen, wie Mind Management funktioniert. Aber dazu ein andermal mehr.)
Aber es gibt etwas, das noch viel wunderbarer ist. Afformationen nämlich - ja, genau, die mit dem o. Afformationen sind Fragen, während Affirmationen Feststellungen sind.
Angenommen, du trägst den Glaubenssatz "Wer richtig gut verdienen will, muss hart arbeiten und immer erreichbar sein" in dir.
Und - ganz klar - durch diese innere Handbremse arbeitest du entweder ständig zu viel oder verdienst viel zu wenig oder beides.
Nun könntest du mit einer Affirmation arbeiten, um deinen internen Radiosender auf eine andere Frequenz umzustellen, also zum Beispiel: "Ich verdiene gut, lebe in Balance und genieße auch meine Freizeit."
Oder aber du stellst dir eine Frage:
"Warum werde ich gut verdienen, in Balance leben und auch meine Freizeit genießen?"
oder:
"Werde ich gut verdienen, in Balance leben und auch meine Freizeit genießen?"
Probier's mal aus. Merkst du, wie es zwischen deinen beiden hübschen Ohren sofort zu rattern beginnt?
Interroga .... waaas?
Forscher*innen haben herausgefunden, dass Menschen nicht nur motivierter sind, sondern Aufgaben auch besser lösen, wenn sie sich Fragen stellen, bevor sie sich an diese Aufgaben machen.
Fragen, die mit "Werde ich ... " beginnen.
Interessanterweise genügt sogar dieses "Werde ich?", um einen positiven Effekt zu erzielen. Und es ist bedeutend wirksamer als ein "Ich werde..."
"Interrogativer Dialog" nennen Wissenschaftler*innen das. Im Grunde geht es um nichts anderes, als unseren inneren Dialog bewusst zu gestalten und ihn mit ein paar Fragen aufzupeppen. Einfach, aber wirkungsvoll!
(Zugegeben, die Aufgabe, um die es bei dieser Studie ging, war nicht besonders anspruchsvoll - die Teilnehmer*innen sollten Buchstabenrätsel, so genannte Anagramme lösen. Aber die Forschungsergebnisse sind trotzdem vielversprechend. Wenn so eine kleine Frage schon so viel bewirken kann - wer weiß, was da noch alles möglich ist?)
Drei richtig gute Fragen.
Du kannst mit den Fragen spielen und experimentieren, herausfinden, was für DICH funktioniert.
Zur Inspiration verrate ich dir drei MEINER Lieblingsfragen:
# 1 Werde ich das schaffen?
Immer wenn mein monkey mind mir vorgaukelt, dass ich etwas nicht kann, dass nicht mehr genug Zeit ist, dass es Grund für Zweifel an mir und meinen Fähigkeiten gibt, stelle ich mir diese Frage. Und sofort wird etwas in mir wach, das ohne zu zögern "Aber natürlich!" antwortet.
Und das macht etwas mit mir.
# 2 Bin ich es wert, ein großes, erfülltes Leben zu führen?
Ja, auch das fabulieren meine Gewohnheitsgedanken manchmal - dass alle anderen ein wunderbares Leben verdient haben, nur ich muss es mir hart erarbeiten. Hello hello, gutes altes Selbstwert-Thema! Dann erinnert mich diese Frage daran, dass es mir gut gehen soll. Und dass ich nur Ja zu sagen brauche zu einem großen Leben.
# 3 Werde ich mich für mein Glück entscheiden?
Neulich hat mein Bruder mir angeboten, meinen Vater öfter zu besuchen, um mich zu entlasten. Oh, und wie ich mit mir ringen musste, um "Ja, danke" zu sagen statt "Aber das ist doch nicht notwendig, ich schaff das schon!"
Manchmal will das Glück zu uns fliegen - und was machen wir? Wir machen schnell das Fenster zu, um es auszusperren! Manchmal liegt das an einem Upper Limit Problem. Manchmal daran, dass wir in unsere Probleme verliebt sind. Egal - Hauptsache wir erwischen uns dabei und stellen uns eine Frage, statt Ehrenrunden in diesen alten Mustern zu drehen!
Die Fragen liebhaben
Ich bin ein interrogativer Mensch. Sprich: Ich liebe es, Fragen zu stellen. Mir selbst und anderen Menschen. Nicht unbedingt, um Antworten zu finden - sondern einfach, weil die Fragen etwas bewirken, etwas in Gang bringen.
Selbst WENN wir Antworten haben, ergeben sich daraus garantiert wieder neue Fragen - und alles bleibt frisch und veränderlich.
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FRAGEN SIND NICHT UNBEDINGT DAZU DA, ANTWORTEN ZU FINDEN. FRAGEN STOSSEN ETWAS AN, BRINGEN ETWAS IN BEWEGUNG, VERÄNDERN.
DESHALB: BEREICHERE DEINEN INNEREN DIALOG BEWUSST UM DIE RICHTIGEN FRAGEN!
Löse ich mich von der Idee, dass jede Frage eine Antwort haben muss, dann kann ich die Fragen einfach stellen, schwingen lassen und liebhaben ... und darauf vertrauen, dass ich in etwas hineinleben werde, das einem wahrhaftigen Leben immer näher kommt.
Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen – und dann gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben Mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.
~ Rainer Maria Rilke
Buchtipps und Ressourcen:
Liebe Laya! Danke für diesen wunderbaren Beitrag…. Er passt wie so oft gerade perfekt in mein Leben! Schönen Sonntag ?
???
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Faszinierend, und wieder ein schönes Knöpfchen, das frau /man/mensch selbst drücken kann, wenn es im Kopf wieder mal etwas zu karussellmäßig (meist in die falsche Richtung) zugeht.
Bitte hilf mir eine mich beschäftigende Frage zu beantworten: warum heißt es AfFORMationen? (wie setzt sich das Wort zusammen?) wegen der Eselsbrücke warat´s .
Hugs my dear, Astrid
Dearest, ich hab versucht, es herauszufinden, bin aber nicht fündig geworden. Also lass ich jetzt mal die Afformation „Werde ich herausfinden, woher das o in Afformationen kommt?“ in mir schwingen lassen, und sobald ich eine Eingebung habe, melde ich mich wieder 🙂
Wenn’s wahr ist, gehen Afformationen übrigens auf Noah St. John zurück. Alles ein bisschen woowoo, aber die Wirkung von Fragen ist schon robust wissenschaftlich belegt!
Big hug
Laya
Auf diese Art Fragen zu stellen eröffnet tatsächlich ungeahnte innere Räume! Danke für die Inspiration, Alexandra
„Ungeahnte innere Räume“ – allein diese Formulierung macht mich unendlich glücklich, liebste Alexandra. Danke dafür!